Gültigkeitsbereich einer Definition/Typen von Definitionen
Definitionen im Verständnis der modernen Sozialwissenschaften stecken den Bedeutungsgehalt von Begriffen ab. Sie beanspruchen für sich keine Gesetzmäßigkeit, deren Wahrheitsgehalt universell und für alle Zeit gültig wäre. Ihre Brauchbarkeit ist auf das jeweilige Untersuchungsgebiet, auf die konkrete Fragestellung zugeschnitten bzw. reduziert. Praktisch bedeutet dies, dass Diskussionen über wissenschaftliche Erkenntnis genau genommen immer nur auf der Grundlage spezieller, für den Anlass erarbeiteter Begriffsdefinitionen zulässig sind.
Anders als auf der Grundlage von sogenannten Realdefinitionen8, die das endgültige, objektive, wahre Wesen einer Sache erfassen wollen, operieren (empirisch arbeitende) Sozialwissenschaftler in der Regel mit Nominaldefinitionen, die eine Festsetzung der Verwendung eines Begriffes darstellen. Diese stellen somit eine Konvention darüber dar, was unter einem Begriff zu verstehen ist. Folglich können Nominaldefinitionen nicht wahr oder falsch, wohl aber zweckmäßig oder unzweckmäßig sein. So wäre die in der Biologie gebräuchliche Nominaldefinition des Begriffes „Kultivierung“ nicht falsch, aber eben für einen Kommunikationswissenschaftler wenig zweckmäßig. Umgekehrt gilt natürlich dasselbe.
Der zu definierende Begriff wird in mehrere Teile zerlegt. Das Definiendum ist der (noch unbekannte) zu erklärende Begriff, das Definiens besteht aus jenen Begriffen, die den Inhalt des Definiendums festlegen. Die Begriffe des Definiens müssen ihrerseits völlig eindeutig und klar sein. Sie legen einzeln und alle miteinander den Bedeutungsraum des Definiendums fest. Hier deutet sich der bereits oben angesprochene endlose Regress an: Begriffe werden immer nur wieder durch Begriffe definiert. Ziel allerdings ist es, möglichst solche Begriffe für eine Definition zu verwenden, die in sich einfach sind und direkten empirischen Bezug haben.
1.9.5 Operationalisierung von Begriffen und operationale Defi
In der Kommunikationswissenschaft werden Begriffe (das Definiendum) durch Indikatoren (Definiens) in ihrem Bedeutungsgehalt identifiziert. Indikatoren sind die bedeutungsmäßigen Teilbereiche, die dem gesuchten Begriff seine Identität verleihen. Am Beispiel des Konstruktes „Vielseher“ soll dies verdeutlicht werden: Der Vielseher spielt in der Kommunikationsforschung eine wichtige Rolle. Wer oder was ist ein Vielseher? In jedem Fall hat man es mit einem Begriff mit indirektem empirischen Bezug zu tun. Man sieht es Menschen nicht an, ob sie Vielseher sind oder nicht. Wir müssen also Indikatoren suchen, um deutlich zu machen, was wir mit Vielsehern genau meinen. Wir werden zunächst recherchieren, welche Indikatoren schon in der wissenschaftlichen Diskussion für das Konstrukt Vielseher verwendet wurden. Darüber hinaus werden wir prüfen, ob sich noch andere Aspekte hinter dem Konstrukt des Vielsehers verbergen könnten, für die wir vielleicht neue Indikatoren brauchen.
Ein naheliegender Indikator ist sicherlich die Zeit, die jemand vor dem Fernseher verbringt. Aber was bedeutet das? Ist „viel“ relativ zu anderen zu verstehen oder ist handelt es sich um einen absoluten Begriff? Ist ein Vielseher vor der Einführung des Privatfernsehens unter Umständen anders zu definieren als heute? Wie ist die Nutzung von Online-Mediatheken, Streaming-Diensten etc. zu berücksichtigen? Die ersten kommunikationswissenschaftlichen Untersuchungen definierten den Vielseher tatsächlich in erster Linie über die Dauer des Fernsehkonsums. Allerdings gab es auch hier schon Unterschiede. In einigen Studien waren Vielseher diejenigen, die mehr als vier Stunden fernsahen, in anderen Studien lag die Grenze bei drei Stunden. Man kann zu Recht fragen, ob die Dauer der Nutzung allein ein guter Indikator ist. Werden Vielseher einzig anhand dieses Kriteriums identifiziert, wird eine Vielzahl unterschiedlicher Fernsehnutzer in einen Topf geschmissen. Es gibt Menschen, die nur nebenbei fernsehen, während sie z. B. telefonieren oder Hausarbeit verrichten. Andere dagegen sehen sehr intensiv fern. Einige schauen vielleicht vier Stunden Nachrichten und Ratgebersendungen, andere vier Stunden Soap Operas und Talkshows. Einige schauen zielgerichtet, andere wahllos. Es gibt Fälle, in denen Wenigseher vorübergehend zu Vielsehern werden, wenn beispielsweise eine Fußballweltmeisterschaft stattfindet. Sind das alles Vielseher im Sinne einer Begriffsdefinition? Es ist unschwer zu verstehen, dass Begriffsdefinitionen gerade bei Begriffen mit indirektem empirischem Zugang nicht nur notwendig, sondern auch relativ kompliziert sind. Und dass Studien, die unterschiedliche Definitionen verwenden, möglicherweise schon deshalb unterschiedliche Ergebnisse produzieren.
▶ Ein Konstrukt bzw. ein Begriff mit indirektem empirischem Bezug muss durch einen, meist aber mehrere Indikatoren näher bestimmt bzw. definiert werden.
Ein Großteil wissenschaftlicher Auseinandersetzungen lässt sich auf diese Phase des Definierens von Begriffen zurückführen. Gerade weil eine Begriffsdefinition in den Sozialwissenschaften nicht vergleichbar mit dem Aufstellen einer universell gültigen mathematischen Formel ist, besteht natürlich immer die Gefahr der Instrumentalisierung eines wissenschaftlichen Ergebnisses für außerwissenschaftliche Zwecke. Je nachdem, wie zuvor ein Begriff und somit sein Gültigkeitsbereich definiert wurde, wird die Untersuchung im Resultat ganz unterschiedliche Ergebnisse hervorbringen. Man kann sich leicht vorstellen, dass die Einbeziehung von Cartoons bei der Definition von Gewalt die Menge der Fernsehgewalt deutlich höher erscheinen lässt, denn diese Zeichentricksendungen enthalten bekanntermaßen einen hohen Anteil an (allerdings folgenloser) Gewalt – unter Umständen könnte eine entsprechende Untersuchung ergeben, dass das Kinderprogramm gewalthaltiger als das Spätabendprogramm ist, weil Tom und Jerry dauernd gevierteilt werden.
▶ Ziel der Indikatorenbildung ist die operationale (d. h. messbar machende) Defi tion von Begriffen.
Mit der operationalen Definition von Begriffen hat man einen wesentlichen Teil zur Konstruktion von Aussagen oder Hypothesen beigetragen. Aber dies ist nur die halbe Miete. Erst die Hinzufügung logischer und außerlogischer Begriffe lässt sinnhafte Aussagen (auch empirische Sätze genannt) über die soziale Realität zu, die mit Methoden überprüft werden können. „Je höher der Fernsehkonsum, desto eher übernehmen Rezipienten ihre Weltsicht aus dem Fernsehen“ wäre ein solcher Satz. Hierbei handelt es sich um Sätze, deren Gültigkeit über ein singuläres Ereignis hinausgeht. Zwei oder mehrere Sachverhalte werden kausal miteinander in Beziehung gesetzt, so dass wir zu einer Erklärung der Realität kommen (explanative Forschung). Es wird eine Abhängigkeit dieser beiden Sachverhalte behauptet, die noch überprüft werden muss. Anders ausgedrückt:
▶ Empirische oder auch hypothetische Sätze haben zum Ziel, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen über die Realität zu machen. Dies entspricht der vorher erwähnten explanativen Forschung.
Dabei stehen diese Sätze nicht unverbunden nebeneinander, sondern sollen im Idealfall zu einem Netz von Aussagen verknüpft werden, das soziale Realität so allgemeingültig wie möglich widerspiegelt. Eine wissenschaftliche Theorie ist demnach nichts anderes als ein umfassendes und geschlossenes System logisch miteinander verknüpfter Aussagen über einen Realitätsbereich, wobei die einzelnen Sätze möglichst gut empirisch überprüft sind. Diese Aussagen, man sagt auch Sätze, können ganz unterschiedliche Abstraktionsund Allgemeinheitsniveaus besitzen. Wissenschaft sollte dabei möglichst umfassende, im Idealfall sogenannte Allsätze aufstellen („Alle Menschen sterben einmal.“), die nomothetischen Charakter haben. Davon zu unterscheiden sind eingeschränkte Sätze („Die privaten Fernsehanbieter werden häufiger von Vielsehern genutzt.“), die eher probabilistischen Charakter haben und – wie schon das Beispiel zeigt – in der Kommunikationswissenschaft wesentlich häufiger vorkommen.