Herausforderungen der Kindheitsforschung im Umgang mit „Inklusion“
Man wird bescheiden, angesichts der fachlichen Herausforderungen, des Diskussionsbedarfs, der Erwartungen und der Problembündel, der rechtlichen Zuständigkeiten und ethischen Fragen, die sich mit dem Konzept von Inklusion ergeben . Die Sichtung der Literatur zeigt, wie vielfältig die Zugänge zu Inklusion sind .
Man kann deshalb keineswegs von einem einheitlichen Ausgang des Nachdenkens über Inklusion ausgehen . Es gibt mit der UN-Behindertenrechtskonvention eine Art ,Initialzündung', aber daneben zeigt sich viel Verwirrung und Verwirrendes, was Hans-Uwe Otto (2014, S . 107) als „Gefahr einer normativen Diffusität“ charakterisiert hat, darüber hinaus aber zeigt sich auch wie die rechtstheoretischen Arbeiten von Maysen (2014) und Schindler (2014) zeigen, die Gefahr der rechtlichen Diffusität, die alle Beteiligten, Eltern, Kinder und Jugendliche, aber auch Fachkräfte trifft .
Norbert Struck (2014) hat in einem Beitrag eindrucksvoll den eigentlichen Ausgangspunkt in Erinnerung gerufen, nämlich Artikel 1 der UN-Behindertenkonvention: Bei der Inklusion gehe es darum den „vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten aller Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen, zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu gewährleisten .“ Im Zentrum der Argumentation steht folglich der Begriff der Würde . Dem an die Seite gestellt sind Rechte und Freiheiten . Mit Blick auf Heranwachsende mit und ohne Beeinträchtigungen resultieren daraus bestimmte soziale Praktiken, nämlich: fördern, schützen und gewährleisten . Und man sollte – wie auch von Maysen (2014) eingefordert – erziehen als soziale Praktik hinzu ziehen .
Davon ausgehend lassen sich zwei Herausforderungen, die durch Inklusion für die Kindheitsforschung entstehen, identifizieren: eine eher praxeologische und eine theoriesystematische .
Zur Praxeologie: Wenn sich Inklusion im Sinne der Achtung der Würde aller Kinder und Jugendlichen in spezifischen sozialen Praktiken realisiert, so steht die Kindheitsforschung zunächst vor der Herausforderung, diese Praktiken zu beobachten, zu beschreiben und zu analysieren . Es gilt also zu klären, wie in einem bestimmten Kontext, etwa einer Pflegefamilie mit einem Pflegekind, bei dem Autismus diagnostiziert wurde oder einer Wohngruppe der Eingliederungshilfe in Stuttgart oder einer inklusiven Kindestagesstätte im Taunus im Vergleich zu einer in Hamburg die jedem Kind innewohnenden Würde geachtet wird, in welchen sozialen Praktiken und unter zur Hilfenahme welcher Artefakte Grundrechte und -freiheiten realisiert werden und wie Praktiken ineinandergreifen .
Durch Beobachtung, Beschreibung und Analyse sind also die Modi der Inklusion rekonstruierbar und hierzu kann die ethnographische Kindheitsforschung wichtige Impulse liefern . Aber gerade an der Komplexität der Inklusion zeigt sich auch, wie zentral die genaue Beschreibung und Analyse der jeweiligen Kontexte ist, weil sich Rahmenbedingungen, Zuständigkeiten, Verfahren usw . erheblich unterscheiden und dies jeweils auch Einfluss auf soziale Praktiken nimmt. Modi und Kontexte der Inklusion zu erforschen, ist zudem dadurch herausgefordert, den jeweiligen Spielraum, die Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen in den Blick zu nehmen . Wie agieren sie im Spiel sozialer Praktiken, welche Praktiken wenden sie selbst an, welche Aussagen lassen sich davon ausgehend hinsichtlich ihrer Bedürfnisse machen?
Zur Kindheitstheorie: Aus einer kindheitstheoretischen Perspektive zieht die Achtung vor der Würde des Kindes die Beachtung seiner prinzipiellen Verletzlichkeit, aber auch seines prinzipiellen Rechts auf Autonomie nach sich . Das heißt, es geht wiederum um die oben entfaltete Spannung zwischen Vulnerabilität und Autonomie . Wie schlägt sich diese Herausforderung, die keineswegs erst mit der Inklusion relevant ist, bislang in der Kindheitsforschung nieder? Darauf gibt es natürlich nicht die eine Antwort, sondern nur eine Annäherung .
Es gibt bereits eine ausgewiesene Forschung zum multidimensionalen Konzept des Wohlbefindens in der Verknüpfung mit dem Capability Approach (Nussbaum 1999; Sen 2010) . Hierbei wird versucht, die individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse systematisch auf die sozialen Rahmenbedingungen des Aufwachsens, also etwa der Befähigung oder dem Maß der Freiheit zu beziehen . Dazu gehört, Kinder und Jugendliche als Akteure oder Subjekte zu adressieren und ihre Informationen, ihre Perspektiven ihr Wissen nicht nachrangig zu dem der Erwachsenen zu behandeln . Allerdings zieht dieses Vorgehen auch die Frage an die Forschung nach sich, wie wir einen (auch methodisch zu verstehenden) Zugang zu den Perspektiven aller Kinder und Jugendlichen bekommen . Und zwar insbesondere zu Kindern und Jugendlichen, die nicht den ‚Normalitätserwartungen' der Sozialwissenschaft entsprechen . Forschung in diesem Bereich setzt sehr stark auf die Lese- und Artikulationsfähigkeit der Subjekte . Auch die Forschung muss folglich unter dem Anspruch Beachtung der Würde dafür Sorge tragen, Wege aufzuzeigen, die es allen Kindern und Jugendlichen ermöglichen, sich zu artikulieren und ihr subjektives Wohlbefinden zu thematisieren.
Das hat methodische, forschungsethische, aber auch theoriesystematische Implikationen: Methodisch stellt sich die Frage, welche unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten bei der Datenerhebung möglich sind und welche Anforderungen sich für die Auswertung ergeben, hier ließe sich an Erfahrungen aus der Forschung über frühe Kindheit anschließen . Forschungsethisch wäre zu klären ob und wenn ja wie eine Forschung in einer inklusiv geführten Jugendhilfeeinrichtung, bei der es um die Beteiligungsmöglichkeiten aus Sicht der Jugendlichen geht und die aus ihrer Sicht relevanten Barrieren bei Beschwerdeverfahren auch als Intervention verstanden werden kann und wie dann das Personal eingebunden wird oder wie sich die Forscher_innen dazu verhalten .
Schließlich stellt sich mit der Auseinandersetzung mit Inklusion theoriesystematisch die Frage, ob die bislang dominanten Vorstellungen der generationalen Ordnung nicht eigentlich brüchig sind, also ob bestimmte Kinder oder Jugendliche nicht mehr mit bestimmten Erwachsenen etwa bezogen auf Zugangsmöglichkeiten mehr verbindet als mit Gleichaltrigen (Andresen/Koch/König 2015) .
Das führt zum nächsten Abschnitt, bei dem es um die systematische Erfassung von Vulnerabilität geht . Wie kann es gelingen, Kinder und Jugendliche als verletzlich in den Blick zu nehmen und das Recht auf Verletzlichkeit auch zuzugestehen, ohne in einseitig paternalistische oder autoritäre generationale Ordnung zurück zu fallen?