Herausforderungen für Bildung und Erziehung
Jugend, Capabilities und das Problem der Pädagogik
Zoë Clark und Holger Ziegler
Der Beitrag setzt sich kritisch mit der These einer ‚Entgrenzung' von Jugend auseinander, welche die Kategorie des Moratoriums analytisch unbrauchbar mache . Statt die Perspektive eines Jugendmoratoriums zu verwerfen, schlagen die AutorInnen eine Revision dieser Kategorie auf der Basis einiger Überlegungen des sog . Capabilities Approach vor . Dies ermöglicht eine ungleichheitstheoretisch reflektierte Gegenstandbestimmung von Jugend, die ein angemessenes analytisches Fundamt einer pädagogischen Jugendforschung darstellen könnte .
Wenn in sozialwissenschaftlichen Debatten von Sozialisation die Rede ist, sind damit im weitesten Sinne die Mechanismen und Prozesse der Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft gemeint . Typischerweise verstehen sich die zur Erziehungswissenschaft gewendete Pädagogik und die pädagogische Jugendforschung als sozialwissenschaftliche Disziplinen, die die Frage des Aufwachsens aus der Perspektive einer solchen Vermittlung von Individuum und Gesellschaft in den Blick nehmen . In dieser Allgemeinheit ist mit einer solchen Perspektive jedoch zunächst theoretisch wie empirisch nur wenig gewonnen . Es wird damit lediglich die soziale Tatsache anerkannt, dass das Subjekt in seinem oder ihrem Handeln nicht außeroder ‚vorsozial' ist . Charles Taylor (1995, S . 131) hat darauf aufmerksam gemacht, dass auch noch die am stärksten ideosynkratischen Handlungs- und Daseinsrationalitäten „in the dimension of meaning [seien] and require a background of available meanings in order to be the thoughts [and rationalities] that they are“ . Entsprechend ist auch das, was Identität und Subjektivität konstituiert, nicht nur, wie es in einer klassischen Formulierung von Heinrich Popitz heißt, auf die Singularität des je einzelnen Individuums, sondern auch auf „den Außenhalt sozialer Bestätigung“ (Popitz 1992, S . 139) angewiesen .
Uwe Sander scheint diese generelle Perspektive nicht nur zu teilen, sondern hat stets darauf aufmerksam gemacht, wie stark ‚Jugend' sowohl als moderne begriffliche Kategorie als auch im Sinne einer praktischen Lebensführung durch politisch-ökonomische Entwicklungen und Mechanismen, institutionelle Klassifikationen und Problematisierungen sowie durch mediale, politische und wissenschaftliche Diskurse hervorgebracht wird (siehe z . B . Sander und Vollbrecht 1998; Sander 2000) . Im Zusammenhang mit einer Rekonstruktion von ‚100 Jahren Jugend in Deutschland' konstatiert Sander (2000) in diesem Zusammenhang eine Liberalisierung und Autonomisierung der Lebensführung Jugendlicher in konsumptiven Lebensbereichen, die sich jedoch weitgehend von gesellschaftlicher und der lebenspraktischen Verantwortung für die Reproduktion der eigenen Subsistenz und gesellschaftlichen Existenz entkoppelt habe . Die Befreiung von lebenspraktischen Verantwortungen sei insofern auch eine zwangsweise Unselbstständigkeit, die Sander mit durchaus überzeugenden Argumenten kritisiert .
Was Uwe Sander dabei im Kern problematisiert, sind Folgen einer Konzeption und die (partielle) Lebensrealität von Jugend als ‚Moratorium' (zwischen Kindheit und Erwachsensein) . Dieser Gedanke wurde unter anderem von Talcott Parsons vor nunmehr über 70 Jahren formuliert . Die Lebensphase Jugend, so Parsons` Argument, sei durch ein weitgehendes Fehlen von Verpflichtungen gekennzeichnet. Parsons (1942, S . 606ff .) spricht von einer strukturellen Unverantwortlichkeit, die er allerdings nicht nur in einer strukturell-funktionalen, sondern auch in einer kulturellen Dimension verortet . Die Jugendkultur stehe deshalb ein einem Spannungsverhältnis zur Erwachsenenkultur, weil sie sich nicht an Verantwortung orientiere . Es geht an dieser Stelle nicht darum, Parsons Strukturfunktionalismus das Wort zu reden, noch darum zu bestreiten, dass es in den letzten 70 Jahren offensichtlich weitreichende gesellschaftlich-kulturelle Veränderungen gab, die auch die Lebensphase Jugend und die Bedingungen, Strukturen und Praktiken des Aufwachsens und Jung-Seins in einer deutlich veränderten Weise strukturiert haben
(dazu: Sander und Vollbrecht 1998) .
Gleichwohl war die Rede von der Jugend als Moratorium lange Zeit maßgeblich für die sozialwissenschaftliche Erforschung und Theoretisierung von Aufwachsen in modernen Gesellschaften . Es ist schwer zu bestreiten, dass die Kategorie des Moratoriums an Strahlkraft und Einfluss verloren hat. Anders formuliert, befindet sich das Jugendmoratorium in einer Krise . Nicht wirklich entschieden ist jedoch, ob diese Krise epistemischer oder gesellschaftlich-praktischer Natur ist . D .h . es ist zu klären, ob die Kategorie des Jugendmoratoriums verabschiedet wird, weil man die darin angelegte Perspektive für unzeitgemäß und antiquiert hält oder ob der Bedeutungsverlust der analytischen Kategorie des Jugendmoratoriums darin begründet liegt, dass sie nicht (oder nicht mehr) in der Lage ist, die Lebensphase Jugend in theoretisch oder zumindest relevanter Hinsicht zu erfassen .
Mit einer fundamentalen Kritik an der Jugendmoratoriumsperspektive ist jedoch auch das Problem verbunden, dass sich tragfähige Alternativen zu dieser Perspektive nicht wirklich durchgesetzt haben; es sei denn, man reduziert die pädagogische Jugend- und Aufwachsensforschung auf eine Transitionsbzw . Übergangsperspektive, die z . B . danach fragt, ob junge Menschen jene ‚Entwicklungsaufgaben' erfolgreich meistern, denen für ein erfolgreiches Erwachsenendasein Relevanz zugeschrieben wird . Diese Perspektive überzeugt allerdings jugendtheoretisch ebenfalls nicht (dazu: Clark 2015; Clark und Eisenhuth 2011) . Die gegenwärtige Jugendforschung hadert mit einer Gegenstandsbestimmung der Phase der Jugend . Bisweilen wird daraus die Konsequenz gezogen, Jugend nur noch als einen beobachterrelativen Sachverhalt (Scherr 2003) zu formulieren und auf den Anspruch einer theoretischen Begründung oder gar empirischen Erfassung eines objektiven Realitätsgehalts der Jugendphase zu verzichten (Zinnecker 2003) . Was von der Jugendforschung übrig bleiben würde, sind dann Forschungen zu den Diskursen über Jugend, Rekonstruktionen der Selbstbeschreibungen junger Menschen (bzw . von Menschen, die sich selbst als Jugendlich attribuieren) oder Analysen der gesellschaftlichen, politischen oder institutionellen Jugendsemantiken . Sofern auf einen Fokus auf Jugend im Sinne einer „eingrenzbaren Lebensphase oder Sozialgruppe […], die gemeinsame psychische und soziale Merkmale aufweist“ (Scherr 2003, S. 65) demgegenüber jedoch nicht verzichtet wird, finden sich gegenwärtig vor allem Arbeiten, die in einer Art Ausschlussverfahren postulieren, was die Jugendphase nicht oder ‚nicht mehr' ist, nämlich ein Moratorium . Die Kategorie des Jugendmoratoriums scheint nicht zeitgemäß, um zu analysieren, in welchem Verhältnis junge Menschen, Jugend und Gesellschaft zueinander stehen . Dabei wird beispielsweise die Prekarisierung junger Menschen auf dem Arbeitsmarkt ins Feld geführt, um eine Verabschiedung der analytischen Kategorie des Moratoriums zu begründen: Auf Grund aktueller Prozesse der Entgrenzung von Jugend und Arbeit habe die Kategorie des Moratoriums an Bedeutung verloren (siehe z . B . Böhnisch und Schröer 2008) . Diese These ist praktisch diametral zur These Uwe Sanders . Während Sander argumentiert, dass die Lebensphase Jugend von einer konsumptiven Selbstbestimmung gekennzeichnet sei, die von der Verantwortung für die lebenspraktische Besorgung der eigenen Existenz immer stärker entkoppelt werde, argumentieren Böhnisch und Schröer im Wesentlichen, dass junge Menschen im Kontext prekärer Arbeitsmarktbedingungen gezwungen seien, zu Produzenten ihres eigenen Humankapitals zu werden . Dies habe zu einer Art ‚Verarbeitlichung' der Jugendphase geführt . Vor dem Hintergrund einer marktwirtschaftlichen Überformung der Jugendphase sei die Rede von einem Jugendmoratorium im Sinne einer Entpflichtung vom Zwang zur Lohnarbeit nicht mehr angemessen, um die gegenwärtige Realität der Jugendphase zu charakterisieren .
Die Gemeinsamkeit dieser Perspektiven besteht insbesondere darin, dass vor dem Hintergrund einer sog . Entgrenzung oder eines ‚Sich-Entgrenzens' von Jugend die Moratoriumsperspektive nicht mehr überzeugen könne . Der Unterschied dieser Perspektiven besteht darin, dass Sander vor allem die individuellen und gesellschaftlichen Folgen eines ausgeweiteten und verallgemeinerten Moratoriums problematisiert, während Böhnisch und Schröer für einen Strang der Jugendforschung stehen, der – basierend auf der Annahme einer Entgrenzung von Jugend und Arbeit – das Jugendmoratorium sowohl als analytische als auch als normative Kategorie verabschiedet . Überspitzt formuliert lauten die zwei Stränge der Kritik an der Moratoriumsperspektive wahlweise, dass ein entgrenztes Jugendmoratorium mit einer weitreichenden erzwungenen Unselbstständigkeit einhergehe und daher problematisch (bzw . politisch-normativ ‚falsch') sei oder, dass eine in Relation zu den Anforderungen an des Arbeitsmarktes ‚entgrenzte' Jugend nicht (oder nicht mehr) als Moratorium bezeichnet werden könne . Der Moratoriumsperspektive sei entsprechend die empirische Grundlage entzogen .
Die beiden widersprüchlichen Kritikstränge finden ihre Grundlage gleichwohl beide in einer Entgrenzungsdiagnose, die jedoch – jenseits der Tatsache, dass sie seit den 1980er Jahren (siehe z . B . Hornstein 1982) verwendet wird, um darauf zu verweisen, dass die (Alters-)Grenzen zwischen Kindheit und Jugend sowie zwischen Jugend- und Erwachsenenleben diffus geworden seien – als vergleichsweise assoziationsoffene Metapher fungiert und in analytischer Hinsicht eher opak bleibt: Mit Entgrenzung werden diverse Zustände fokussiert, sehr unterschiedliche Prozesse und Mechanismen beschrieben und teils diametral entgegen gesetzte Diagnosen begründet .
Im Folgenden werden wir zunächst die Entgrenzungsmetapher in Bezug auf die Moratoriumsperspektive und damit verbunden auf ihre Tragfähigkeit für die Jugendforschung hin befragen . Im Anschluss daran schlagen wir vor, den CapabilitiesAnsatz als gerechtigkeitstheoretisches Fundament einer Jugendtheorie und -forschung zu installieren und diesen Ansatz für eine Gegenstandsbestimmung der Jugendphase zur Anwendung zu bringen .
Inwiefern hat also die Kategorie der Entgrenzung das Potenzial, die Lebensphase Jugend – oder zumindest die gegenwärtigen Bedingungen des ‚Jung-Seins' – angemessen zu erfassen und analysieren?
Man muss den Begriff der Entgrenzung nicht als Modebegriff abqualifizieren, um mit Dieter Kirchhöfer eine gewisse ‚Bezeichnungseuphorie' zu konstatieren:
„Es gibt kaum einen gesellschaftlichen Bereich, der nicht als ‚sich entgrenzend' bezeichnet werden könnte“ (Kirchhöfer 2004, S . 24) . In der Tat entgrenzt sich nicht nur „die Jugend“ sondern auch wahlweise „das Pädagogische“ (Höhne 2000), „die Freizeit“, „die Arbeit“ (Pongratz und Voß 2003), „das Private“, „der Alltag“, „der Wohlfahrtsstaat“, „die Lebenslagen“ (Thiersch 2008), „das Politische“ (Schröer 2004), „das Geschlecht“ (Lenz 2004) etc . und letztlich – das ist keine Satire – „der Mensch“ (Funk 2011) und das Leben selbst . Es geht hier weniger um die banale Tatsache, dass man eine Metapher überziehen kann, sondern darum, dass ‚Entgrenzung' als eine Container-Kategorie fungiert, mit der letztlich beliebige Formen des sozialen oder funktionalen Wandels beschrieben werden, ohne dass der Vorteil der offensichtlich sehr breiten und in vielerlei Hinsicht assoziationsoffenen Entgrenzungskategorie gegenüber spezifischen, analytischen Kategorien offenbar wird . Vor allem enthält die Entgrenzungskategorie – sowie im semantischen Umfeld die Kategorien der „Grenzverschiebung“ und „Grenzbearbeitung“ – keinen erkennbaren Hinweis auf die Richtung dieser Veränderungen . Folgt man Andresen und Fegter (2008, S . 832), wird mit Entgrenzung eine wie auch immer gelagerte „Neuordnung des gesellschaftlichen Systems“ beschrieben . Sofern es bei dieser Beschreibung bleibt und der Mechanismus dieser Neuordnung ungeklärt bleibt, ist die bloße Feststellung von ‚Entgrenzungen' ungefähr so erkenntnisträchtig wie die Aussage, dass gesellschaftlicher Wandel stattfinde (Clark 2015, S. 96f.). „Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können . Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht“ schreiben Marx und Engels (MEW 4, S . 465) im Manifest der kommunistischen Partei (das gemeinhin nicht als ihre stärkste analytische Schrift gilt) . Diese ‚Entgrenzung' wird von Marx und Engels zumindest auf die „fortwährende Umwälzung der Produktion“ und die damit zusammenhängende „ewige Unsicherheit und Bewegung“ zurückgeführt, die kennzeichnend für die Bourgeoisepoche als Ganzes sei . Die bloße Feststellung von ‚Entgrenzungen' hat indes weniger Gemeinsamkeiten mit politisch-ökonomischen Analysen, sondern eher mit platonischen Aphorismen: „panta rhei“ . Die Entgrenzungsmetapher ist in der Mehrheit der Schriften ohne Zweifel gesellschafts-, institutionenoder zumindest im weitesten Sinne kulturkritisch gemeint . Diesen ‚kritischen' Zungenschlag bekommt sie aber vor allem durch additive Zutaten wie ‚neo-liberal' oder ‚konsumeristisch' . Wenn es aber darum gehen sollte, wie Aspekte der Lebenswelt verzweckt, verdinglicht oder durch marktförmige oder bürokratische Prozesse einverleibt werden, kommt man etwa mit Habermas' Analyse einer Kolonialisierung der Lebenswelt (1981) analytisch durchaus weiter, als mit der diffus bleibenden Entgrenzungsmetapher (Clark 2015, S. 99f.), zumal die Habermassche Analyse ja durchaus Einfluss auf die pädagogische Theorieentwicklung hatte (Müller und Otto 1984) .
Es soll an dieser Stelle jedoch weniger darum gehen, ob die Kategorie der Entgrenzung ein theoretisch hinreichend substanzielles Fundament für die Jugendforschung als Ganzes bereitstellt . Vielmehr geht es um die Frage, ob mit der These einer Entgrenzung tatsächlich der Moratoriumsgedanke in der Jugendtheorie in Frage gestellt werden kann . Wir behaupten, dass dies nicht oder nur in einem sehr überschaubaren Ausmaß, der Fall ist . Was als Entgrenzung diagnostiziert wird, steht mit den wesentlichen theoretischen Grundannahmen des Moratoriumsgedanken nicht in einem erkennbaren Widerspruch .
Dies lässt sich am besten vor dem Hintergrund der These erörtern, dass mit einer tatsächlichen oder vermeintlichen Entgrenzung von Jugend und Arbeit eine Funktionsverschiebung der Jugendphase markiert werde . Kurz zusammengefasst lautet der durchaus gesellschaftskritische Gedanke dabei, dass ein Raum ‚freien Experimentierens' durch die Konfrontation junger Menschen mit ihrer zukünftigen Prekarisierung verunmöglicht werde . In der Tat ist nicht zu bestreiten, dass gesellschaftliche Handlungsfähigkeit eine voraussetzungsvolle positive Freiheit darstellt, deren Grundlage ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit und Absicherung ist . Prekarität legt eher Strategien der pragmatischen Bewältigung und des Durchkommens im Alltag nahe als die experimentelle Erprobung von potenziell erstrebenswerten Lebensplänen und -entwürfen . Der Gedanke einer Entgrenzung von Jugend und Arbeit setzt allerdings voraus, dass es jemals eine stabile Grenze zwischen Jugend und Arbeit gegeben hat . Schließlich kann sich nur etwas entgrenzen, wenn es zuvor begrenzt war . Die These der Entgrenzung des Moratoriums beruht also auf der Annahme, dass das Jugendmoratorium in seinem Ursprung funktional von der ökonomischen Sphäre getrennt gewesen sei, nun aber über das Eindringen ökonomischer Rationalitäten und Probleme derart instrumentalisiert werde, dass die Selbstbezüglichkeit eines kulturellen Experimentierraums durch diese Entgrenzung durchbrochen werde . Betrachtet man sich theoretisch zentrale Schriften, die konstitutiv für die Kategorie des Jugendmoratoriums waren, findet sich jedoch fast durchgängig ein funktionalistischer Bezug sowohl auf die ökonomische, als auch auf die politische Sphäre bei der Bestimmung des Jugendmoratoriums .
So verwendete z . B . Tenbruck (1965) ironischerweise die Kategorie der Entgrenzung, um die Entstehung der Jugendphase im Kontext der modernen Gesellschaften zu beschreiben . Während junge Menschen in einfachen Gesellschaften sich lediglich die Fähigkeiten ihrer unmittelbaren sozialen Gruppe – ihrer Familie, ihrer Gemeinde – anzueignen hatten, ‚entgrenze' sich die Jugendphase in modernen, komplexen Industriegesellschaften von diesen unmittelbaren Sozialisationsräumen . Die öffentliche, institutionelle Bereitstellung jener Sozialisationsräume, die Jugend als ein Moratorium ermöglichen, dienen Tenbruck zufolge sowohl der ökonomischen, als auch der kulturellen Vorbereitung auf die Erwachsenenphase . Auch bei Parsons wird das Betroffensein junger Menschen von Wettbewerbsbedingungen und erhöhten Autonomieanforderungen thematisiert, die als Bestandteil der Jugendphase der Vorbereitung auf das Erwachsenensein dienen, von dem Autor jedoch keinesfalls als Gegensatz zu einer eigenständigen Jugendphase ins Feld geführt werden (Parsons, 1965/1971, S . 141) . Wenn sich schließlich bei Erik Eriksons Formulierung des Moratoriumsgedankens eine Idee nicht findet, dann ist es die, dass das Jugendmoratorium als Ausdruck einer pädagogischen Separierung zu verstehen sei . In Eriksons Konzeption eines Jugendmoratorium bleibt die „Antizipation des […] Verantwortlichwerdens“ (Erikson 1971, S . 224) nicht auf eine Aneignung von Funktionalität und Wettbewerbsfähigkeit beschränkt, sondern ist vor allem ein Prozess des Einschreibens von Bedeutung in das Jugendmoratorium selbst . In der Folge schreiben junge Menschen laut Erikson Bedeutung in die neue Generation von Erwachsenen ein (Clark 2015, S . 86ff .) .
Wird das Konzept des Jugendmoratoriums also vor dem Hintergrund der prekären Bedingungen junger Menschen, auf die ein Großteil der VertreterInnen der Entgrenzungsthese verweist, obsolet? Dies wäre plausibel, wenn die Moratoriumsidee tatsächlich davon ausgehen würde, dass das Jugendmoratorium eine Entkopplung von der ökonomischen (aber auch vor den politischen) Sphäre voraussetzt und diese ‚Entkopplung' nun durch eine ‚Entgrenzung' dieser Sphären in Frage gestellt wird . Allerdings, und dies sollte mit den knappen Bezügen auf Tenbruck, Parsons und Erikson verdeutlicht werden, basiert die ‚klassische' theoretische Begründung eines Jugendmoratoriums aber gar nicht auf einer solchen Entkopplungsannahme . Vielmehr scheint die Verkopplung mit der ökonomischen als auch der politischen Sphäre als konstitutives Element für die Kategorie des Jugendmoratoriums .
Gleichwohl ist mit dem Einwand, dass mit der Beschreibung von Entgrenzungsphänomenen die strukturelle Grundlage eines Jugendmoratoriums nicht in Frage gestellt wird, keinesfalls verbunden, dass es keine Gründe für die Jugendforschung und -theorie gäbe, das klassische Moratoriumskonzept zu hinterfragen und ggf . zu revidieren .
Zum einen hängt die Überzeugungskraft des klassischen Moratoriumskonzepts davon ab, wie man sich im Spannungsverhältnis (potenziell) konfligierender Sichtweisen in Sozialisations- und Jugendtheorien positioniert . Diese rücken traditionell wahlweise die Frage der „soziale[n] Integration von Individuen in die Gesellschaft“ in den Mittelpunkt oder die Frage danach, „wie Individuen zu sozialem Handeln befähigt und in die Lage versetzt werden, sich aktiv an der Gestaltung des Zusammenlebens zu beteiligen“ (Grundmann 2006, S . 9) . Zum anderen ist die Jugendforschung gut beraten, einen zentralen – und gerade im Kontext der Entgrenzungsthese erstaunlich weitreichend de-thematisierten – Aspekt der gesellschaftlichen Entwicklung systematisch ernst zu nehmen, nämlich die seit gut 20 Jahren durchaus massiv zunehmende soziale Ungleichheit .
Wie gelingt vor diesem Hintergrund also eine theoretisch zumindest potenziell überzeugende Gegenstandsbestimmung der Jugendphase, die zugleich einen empirischen Zugang zu den ungleichen Bedingungen des Jung-Seins eröffnet? Mit dieser Frage ist auch verknüpft, ob die Jugendforschung sich auf die Deskription eines – für eine möglichst große Schnittmenge heterogener junger Menschen zutreffenden – Status Quo reduzieren oder bereits in der Gegenstandsbestimmung der Jugendphase ungleichheitstheoretische wie gerechtigkeitstheoretische Implikationen reflektieren sollte. Der analytische Status des Jugendbegriffs hängt durchaus von der Positionierung zu diesen gleichermaßen wissenschaftlichen wie politisch-normativen Fragen ab .
Wir schlagen an dieser Stelle eine Reformulierung des Jugendmoratoriums in Rekurs auf einige Prämissen des sog . ‚Capabilities Ansatzes' (CA) vor, der sich als ein politisch-philosophischer Ansatz im Kontext einer kritisch-realistischen Wissenschaftstheorie verstehen lässt (Gorski 2013) . Wir argumentieren für eine Perspektive, die das Jugendmoratorium als ‚Capability' in den Blick nimmt und damit einen evaluativen Maßstab für die Analyse der ungleichen Zugangsmöglichkeiten zu jenen Praktiken und Zuständen begründet, die sich als Jugend verstehen lassen (Clark 2015, S . 105ff .) .
Ganz knapp formuliert ist der CA ein Ansatz, der die Ungleichheit von Lebensaussichten fokussiert und dabei versucht zu begründen, in welcher Hinsicht solche Ungleichheiten relevant und wie individuelle Lebensstandards zu evaluieren sind .
‚Equality of what?' ist eine zentrale Ausgangsfrage, die Amartya Sen (1980) mit der Metrik der Capabilities beantwortet . Der zentrale Gegenstand von Verteilungen – bzw . das ungleich verteilte soziale Gut – wird dabei (abweichend von rein ressourcenorientierten Ansätzen) als das Ausmaß an realen Freiheiten und effektiven Möglichkeiten verstanden, Praktiken und Zustände zu realisieren bzw . ein Leben zu führen, das von den je Einzelnen begründet wertgeschätzt wird . Die als ‚Capabilities' bezeichneten realen Freiheiten menschlicher Entwicklungsmöglichkeiten unterscheidet der CA von bereits realisierten Daseins- und Handlungsweisen, die als ‚Functionings' thematisiert werden . Während die realisierten Functionings, zumindest im Prinzip mehr oder weniger unmittelbar empirisch erfass- und messbar sind, lassen sich Capabilities eher als „causal powers“ (dazu: Sayer 1992; 2000) verstehen, sofern AkteurInnen über diese als „positive Freiheiten“ (dazu: Petitt 2001) verfügen .
Der CA zielt entsprechend nicht auf einen Vergleich individueller Kompetenzen oder Leistungsfähigkeit und Produktivität, sondern die realen Möglichkeitsspielräume, die den je Einzelnen zur Verfügung stehen und als Maßstab zur Bestimmung von Lebensaussichten und Qualitäten von Lebensformen dienen . Die primäre Aufgabenbeschreibung sozialwissenschaftlicher Forschungen besteht aus dieser Perspektive in der Analyse des objektiven Spektrums effektiv realisierbarer und hinreichend voneinander unterscheidbarer Handlungs- und Daseinsalternativen, über die AkteurInnen verfügen, um ihr Leben so zu gestalten, dass sie es mit guten Gründen wertschätzen können . Die aus einer Capabilities-Perspektive nahegelegte Evaluation sozialer Prozesse und Verhältnisse bzw . von Daseinsformen und Praktiken wählt entsprechend weder die aktuellen Ressourcen noch die gegenwärtigen Fähigkeiten, Kompetenzen, Bedürfnisaufschubsneigungen oder realisierten Lebensweisen von Individuen oder aggregierten Gruppen als maßgeblichen Gegenstand, sondern die potenzielle Ermöglichung menschlicher Entfaltung, die durch die jeweiligen sozialen, institutionellen und ökonomischen Einflüsse, Bedingungen und Kontexte strukturiert bzw . hergestellt werden . Dies beinhaltet gegebenenfalls auch einen Rekurs auf individuelle Attribute, wendet sich jedoch gegen sozialwissenschaftliche oder pädagogische Forschungen, die sich auf einen „individual-attributes approach“ (Wright 2009, S . 103) reduzieren .
‚Jugend als Capability' zu verstehen bedeutet nun, den Zugang zu jenen Praktiken, Zuständen und Relationen, die als Jugendlichkeit beschrieben werden, als einen Aspekt des Lebensstandards junger Menschen in den Blick zu nehmen . Die zentrale Frage lautet also, welche jungen Menschen einen Zugang zu einem Leben in Jugendlichkeit haben, um so die gegenwärtigen sozialen Bedingungen des Jungseins (Münchmeier 2000) zu analysieren .
Junge Menschen nicht per se der Jugend zuzuordnen, sondern ein Leben in Jugendlichkeit als eine exklusive Form der Vergesellschaftung zu verstehen, ist der wesentliche ungleichheitstheoretische Aspekt, der dieser Perspektive zugrunde liegt .
Der Möglichkeitsspielraum, ein Jugendmoratorium im Sinne einer ‚strukturellen Unverantwortlichkeit' in Anspruch nehmen zu können, ist gekoppelt an spezifische (strukturierende) Voraussetzungen. Aus einer ungleichheitstheoretischen Perspektive in dieser Tradition stellt z . B . die Familie keine ausreichende Lösung dar, um Verantwortung von jungen Menschen an erwachsene Menschen umzuverteilen . Damit wäre der Zugang zu dem Jugendmoratorium in den Raum des Privaten separiert und somit kein öffentliches Gut der Verteilung . Offensichtlich reichen auch die nach wie vor hoch selektiven formellen Bildungszugänge (dazu z . B . Becker und Lauterbach 2004) nicht aus, um die Möglichkeit der Inanspruchnahme eines Jugendmoratoriums für alle jungen Menschen zu gewährleisten .
Um die Ermöglichung der Jugendphase und die damit verbundene intergenerationelle Reproduktion sozialer Ungleichheit zu analysieren, scheint eher ein Anschluss an Überlegungen der Care-Ethik und die in diesem Zusammenhang virulente Frage der öffentlichen Verantwortung für junge Menschen gewinnbringend . Während das klassische Jugendmoratorium als Freiheit ‚von' dem Zwang zur Lohnarbeit gedeutet wird – also als eine ‚negative Freiheit' – ist es eine zentrale Pointe des CA, dass ‚positive Freiheiten' (Clark 2015; Gasper und van Staveren 2003) als Maßstab des Lebensstandards gewählt werden . Aus der Perspektive der Care-Ethik ist die Verantwortung für junge Menschen nicht als eine primär private, intersubjektive zu betrachten, sondern Teil öffentlicher Verantwortung . Die soziale Verteilung von Verantwortung ist zentral für die Beurteilung der Zugangsbedingungen zu Jugendlichkeit und den damit verbundenen Bildungsmöglichkeiten . Welche jungen Menschen haben unter welchen Bedingungen Zugang zu asymmetrischen Verantwortungsverhältnissen oder sind gezwungen, Verantwortung für die eigene Reproduktion zu tragen? Der Fokus einer Jugendforschung auf dieser Grundlage würde also darauf liegen, was welchen jungen Menschen zugestanden wird .
Die Vorteile eines solchen Jugendkonzeptes lassen sich wie folgt zusammenfassen:
1 . Eine einseitige Fokussierung des klassischen Jugendmoratoriums auf Lohnarbeit wird aufgebrochen . Nicht das formale Recht, nicht in Lohnarbeit involviert zu sein, steht im Zentrum, sondern die Möglichkeiten junger Menschen, legitimer Weise in Abhängigkeit zu leben .
2 . Mit einer evaluativen Bestimmung der Jugendphase wird der Zugang zu Jugendlichkeit zu einem Gerechtigkeitskriterium. Die Verantwortungsverteilung entlang unterschiedlicher Populationen junger Menschen wird zum Kriterium von Verteilungsgerechtigkeit .
3 . Anders als bei Jugendkonzepten, die zur Identifikation einer Population dienen, können graduelle Zugänge zu Jugendlichkeit bestimmt werden . Privilegien und Benachteiligungen junger Menschen sind Untersuchungsgegenstände ungleicher Bedingungen des Jung-Seins .
4 . Die Gegenwart junger Menschen wird nicht gegen ihre Zukunft ausgespielt . Der Untersuchungsgegenstand ist zunächst der gegenwärtige Lebensstandard junger Menschen . Daran anschließend ist die Frage, inwiefern ein Zugang zu unterschiedlichen Formen öffentlicher Verantwortung die Aspirationen und Präferenzen junger Menschen beeinflusst. `Welche Aspekte von Jugendlichkeit adaptieren Präferenzen und Aspirationen junger Menschen?` könnte eine Frage lauten, die den instrumentellen Charakter von Jugendlichkeit nicht aus dem Blick verliert .
5 . Im Gegensatz zu integrationsorientierten und funktionalistischen Jugendkonzepten ist ein ethischer Individualismus, d . h . die Perspektive, dass das je einzelne Subjekt die „ultimate unit of moral concern” (Pogge 2002, S . 169) darstelle, es einen Prima-facie-Vorrang individueller Rechte und Ansprüche gegenüber Gemeinschaftsinteressen und politischen Zielen gäbe, ein Kernelement des Capabilities-Ansatzes . Anders als in humankapitalistischen Perspektiven geht es nicht primär um den national-ökonomischen pay-off der Transition junger Menschen . Der instrumentelle Wert des Zugangs zu Jugendlichkeit und damit verbundenen Bildungsoptionen wird auf die individuellen Biografien bezogen.
Es gibt also durchaus eine Reihe von Gründen, die klassische Konzeption eines Jugendmoratoriums als kardinalen Ausgangspunkt der Jugendforschung zu modifizieren oder gar zu verwerfen. Dies entlastet die Jugendforschung aber nicht von der Notwendigkeit, ein Jugendkonzept zu entwickeln, das in der Lage ist, das Passungsverhältnis gegenwärtiger sozialer Bedingungen und den Status junger Menschen in einer angemessenen Weise analysier- und evaluierbar zu machen . Eine durch einige Prämissen des CA informierte Revision der Idee eines Jugendmoratoriums liefert hierzu einen Ansatzpunkt, der gerade für eine pädagogische Jugendforschung fruchtbar sein könnte .
Peter Kelly hat mit Recht daran erinnert, dass die Wissensproduktion der Jugendforschung nicht ‚neutral' und ‚a-politisch' ist und auch nicht neutral und apolitisch sein kann . Nicht zuletzt dienten und dienen die Ergebnisse der Jugendforschung dazu, junge Menschen durch unterschiedliche Institutionen regierbar zu machen: „Youth studies, as diverse, heterogeneous, but recognizable institutionally located intellectual activity, emerges as such so that Youth, in all its variety, can be made knowable in ways that promise to make the government of youth possible” (Kelly 2003, S . 169) . Es ist kaum zu bestreiten, dass die Pädagogik eine Institution der Regierung von Jugend ist . Dies gilt zunächst unabhängig davon, wie sich die Pädagogik dabei fachlich oder politisch-normativ ausrichtet und in welcher Weise die Jugendforschung eine Wissens- und Informationsbasis für die pädagogische Regierung von Jugend liefert . Allerdings gehen wir davon aus, dass die von uns vorgeschlagene Form der Jugendforschung das Potenzial hat, nicht nur eine Wissensbasis für politisch-pädagogische Programmatiken und Technologien zu liefern, sondern auch einen Beitrag zum Problem der Pädagogik in ihrer materialistisch-emanzipatorischen Tradition beizusteuern . In dieser Tradition wird die „volle und freie Entwicklung jedes Individuums“ (MEW 23, S . 618) als eine politisch-normative Kerndimension von Bildung begründet . Der Gegenbegriff dieser Formulierung von Bildung ist entsprechend nicht nur ‚Unmündigkeit', sondern das, was inzwischen wieder als ‚Entfremdung' diskutiert und als Kernelement einer Kritik von Lebensformen (Jaeggi 2013) begründet wird . Dabei geht es um Konstellationen und Praktiken, in denen Subjekte sich Selbst- und Gesellschaftsverhältnissen fügen, die sie von ihren Entfaltungsmöglichkeiten abschneiden und in denen ihre Möglichkeiten und Potenziale verkümmern, eine selbstbestimmte, autonome Lebensführung zu realisieren . Sofern dies das Problem der Pädagogik beschreibt, ist eine pädagogische Jugendforschung gut beraten, dieses Problem bereits in der theoretisch-konzeptionellen Begründung ihres Gegenstandes thematisch werden zu lassen . Wer unseren Vorschlag als einen möglichen Entwurf zu einer solchen Jugendforschung versteht, liegt so falsch nicht .