Ergebnisse
Die Ursachen der Lehrvertragsauflösungen offenbaren Herausforderungen beim Übergang und eine erste berufliche Sozialisation
In unserer Gesamtstudie[1] decken die von den Jugendlichen genannten Ursachen für die vorzeitigen Lehrvertragsauflösungen zu grossen Teilen die Ursachen ab, die im Rahmen von quantitativen Studien aufgezeigt wurden. In diesen Arbeiten werden die Ursachen mit der Berufswahl und/oder mit der Wahl des Unternehmens, mit den Arbeitsbedingungen und schliesslich mit den Ausbildungsbedingungen in Verbindung gebracht (Ferron, Cordonnier, Schalbetter, Delbos-Piot, & Michaud, 1997; Michaud, 2001; Schmid & Stalder, 2007; Stalder & Schmid, 2006). Unsere Ergebnisse offenbaren fünf Ursachen, die jeweils verschiedenen Situationen zugeordnet werden können: Beziehungen am Arbeitsplatz (N=23), Unmöglichkeit der Berufserlernung (N=23), Probleme beim Übergang SchuleAusbildung (N=10), Bedingungen der Arbeitswelt (N=8) und schliesslich externe Ursachen (N=2). Die letztgenannte Kategorie, die auf individuelle Probleme (berufsunabhängige Krankheit, Elternschaft) verweist und sehr selten vorkommt, wird im Folgenden nicht weiter berücksichtigt. Es kommt selten vor, dass eine Person ihre Ausbildung aus einem einzigen Grund heraus abbricht, oft handelt es sich um eine Anhäufung von Faktoren, manche Gründe hängen miteinander zusammen, insbesondere der Beziehungsaspekt und das Erlernen des Berufs.
A) Beziehungen am Arbeitsplatz
Unter Beziehungen am Arbeitsplatz werden Situationen zusammengefasst, die von einfachen Verständigungsproblemen mit den Kollegen über grundsätzlichere Fragen der Arbeitsatmosphäre bis hin zu strukturellen Problemen (Mobbing, sexuelle Belästigung, Probleme in Verbindung mit dem Status als Auszubildender etc.) reichen.
Bezogen auf den Übergang offenbaren die Beziehungen am Arbeitsplatz Probleme im Hinblick auf die Anpassung an eine erwachsene Umwelt, also Schwierigkeiten, die mit dem Übergang vom Umgang mit Jugendlichen hin zum Umgang mit Erwachsenen zusammenhängen (Negrini, Forsblom, Schumann & Gurtner, 2015). Dies kommt vor allem im Altersabstand, durch unterschiedliche Interessenlagen etc. zum Ausdruck.
„Anfangs hatte ich mit viel jüngeren Kollegen zu tun. Es ist klar, dass sie also weniger die Probleme von Erwachsenen hatten (lacht) […] es stimmt, dass die Stimmung eher, sozusagen lockerer war. Und als nach und nach das Personal gewechselt hat, also älteres Personal mit anderen Sorgen als diese Freunde-Freundinnen von der Schule, und das Ausgehen Samstag abends… […] mich geht das ja nichts an, was sie in ihrem Privatleben machen, ich, ich war da, um zu arbeiten, um zu lernen, um meine Arbeit zu machen.“
Ehemalige Auszubildende im Gastgewerbe (T1)
Vom Gesichtspunkt der beruflichen Sozialisation her gesehen können die Beziehungen am Arbeitsplatz Aufschluss über eine Anpassung an die Organisation und an die Arbeitsteilung geben; die Beziehungen können durch die besondere Stellung des Auszubildenden am unteren Ende der Unternehmenshierarchie, wodurch er der Willkür des ganzen Arbeitskollegiums ausgesetzt ist, erschwert werden. Parallel dazu befinden sich die Auszubildenden durch ihre provisorische Eingliederung am Arbeitsplatz (für die Dauer ihrer Ausbildung) und durch ihren Status in einer Situation der Isolierung gegenüber dem Arbeitskollegium:
„Sie [die Kollegen] nannten mich ‚den Lehrling'. Ich war nie wirklich integriert. Manche betrachteten mich wirklich als ihre Kollegin und andere sagten mir tatsächlich: ‚ich bin ich und du… du bist der Lehrling!' “ Ehemalige Auszubildende als Köchin (T1)
Die provisorische Eingliederung in den Beruf erschwert den Zugang zum Handlungswissen einer praktischen Gemeinschaft (Lave & Wenger, 2002), zur Unterstützung durch die Arbeitskollegen, zu den Kenntnissen über Abwehrmechanismen[2] (Dejours, 1998 ; Molinier & Dejours, 1997), gleichwohl versetzt sie den Auszubildenden in die Situation, dass er diese Strategien hinnehmen muss. Die Brutalität mancher Beziehungen zeugt vom Unbehagen, das in einigen besonders schwierigen Kontexten durch die Präsenz eines Neulings erzeugt wird, der allein durch seine Anwesenheit die Strategien ausser Kraft setzt, welche die erfahrenen Kollegen verfolgen.
B) Das Erlernen des Berufs
Hinter der Bezeichnung Erlernung eines Berufs verbirgt sich die Frage nach schulischen Leistungen (Ergebnisse, die unzureichend sind oder vom Unternehmen als unzureichend bewertet werden, Durchfallen durch Prüfungen), aber auch das, was aus den Ausbildungsbedingungen hervorgeht (schwache Betreuung, unzureichende oder zu starke Arbeitsbelastung, Abweichungen zwischen dem Unterricht und der Unternehmenswirklichkeit).
Bezogen auf den Übergang verweist die Frage nach der Erlernung des Berufs vor allem auf die Veränderungen durch den Ausbildungsrhythmus; die Jugendlichen wechseln von einem täglichen schulischen Rhythmus zu einem wöchentlichen Rhythmus. Auch die Art der Betreuung verändert sich; nach den Lehrkräften der Sekundarstufe muss man mit dem Wechsel von beruflichen Lehrkräften und betrieblichen Berufsbildnern zurechtkommen. Diese Wechsel des Ausbildungspersonals stellen auch neue pädagogische Methoden dar.
„Ja ich finde, dass sie [die berufsbildenden Lehrkräfte] über die Themen hinwegfliegen! […]. Ja das ging ziemlich schnell! Und manchmal neigten sie dazu, bei einem Thema etwas zu pfuschen! Es stimmt schon, dass wir keine Kinder mehr sind, aber… […]. So ist es halt! In der Schule [cycle d'orientation] waren sie aufmerksamer, da wurde besser erklärt! Das ist das Problem!“
Ehemaliger Auszubildender im Handel (T1)
Die Ausbildungsbedingungen verdeutlichen auch Fragen, die mit dem Status als Auszubildender zusammenhängen. Dieser Status ist schwammig und mehrdeutig, er bringt widersprüchliche Rollen mit sich: Nachdem die Jugendlichen die
„traditionelle“ schulische Welt verlassen haben, sind sie keine Schüler mehr, aber sie bleiben lernende Personen, ohne dabei zugleich Fachleute zu sein. Der Auszubildende schwankt demnach oft zwischen drei Rollen: Der des Auszubildenden, der einen Beruf durch seine Ausübung erlernen soll; der des „Stifts“, dem die einfachen Aufgaben übertragen werden; der der billigen Arbeitskraft, die voll in die Produktion eingebunden wird.
„Ich war die einzige Auszubildende und die einzige in der Gastronomie, also habe ich ganz alleine gearbeitet… Ich hatte meine Chefin, Chef de rang, die tagsüber da war, aber sonst, am Abend war sie nie da. […] Ich war da: ‚aber das ist ein bisschen komisch, denn ich bin keine Angestellte, also man gibt mir zu viel Verantwortung und ich bin noch nicht bereit zu… wenn ich etwas Blödes mache, diese Verantwortung zu übernehmen' […]. Ich bin Auszubildende… das hat doch mit 'lernen' zu tun…“
Ehemalige Auszubildende im Gastgewerbe (T1)
Die Mehrdeutigkeit des Status macht es für den Auszubildenden nicht nur schwer klarzukommen, sie versetzt sie oder ihn auch mitten in das besondere Spannungsfeld der dualen Ausbildung, in eine Spannung zwischen zwei manchmal gegensätzlichen Logiken: Die Produktions- und die Ausbildungslogik (Moreau, 2000). Man könnte hier demnach von einer Form der beruflichen Sozialisation (im Beruf, bei der Arbeit) sprechen, die der Ausbildungswelt eigen ist.
C) Die Bedingungen der Arbeitswelt
Diese Ursache beinhaltet Arbeitsbedingungen und Fragen der Gesundheit bei der Arbeit. Arbeitsbedingungen können dem Beruf geschuldet sein (Beschwerlichkeit, Arbeitszeiten) oder dem Unternehmen. Wenn das Unternehmen klein ist, ist es in der Tat schwierig, die Arbeit so einzuteilen, dass sich der Auszubildende nach und nach an die Bedingungen gewöhnen kann. In manchen Situationen erlauben es Gesundheitsfragen dem Auszubildenden nicht, seiner Ausbildung nachzugehen (Erschöpfung, Allergien, Phobien etc.).
Bezogen auf den Übergang steht ein Teil der Schwierigkeiten, die mit den Arbeitsbedingungen zusammenhängen, in Verbindung mit der Anpassung an den Unternehmensrhythmus, an die Arbeitszeiten (in Form von Arbeitsstunden, aber auch von Urlaub). Im Kleinen erkennt man den Übergang von der Ausbildungswelt in die Welt der Produktion.
„Ja, man musste sich wirklich bewegen und naja, man konnte nicht, man musste die Dinge schnell erledigen und naja, das liegt nicht jedem. Wir konnten es alle gut machen, aber in einem unterschiedlichen Rhythmus, denke ich, also äh, so halt.“ Ehemaliger Auszubildender als Verkäufer von Einzelteilen (T1)
Vom Gesichtspunkt der beruflichen Sozialisation her veranschaulichen die Arbeitsbedingungen wahrscheinlich am deutlichsten die Anpassung an die Arbeit, an ihre Mechanismen und an ihre Bedingungen. Für den Jugendlichen ist das die Entdeckung der Beschwerlichkeit, wie man hier sieht:
„Als Speng… in der Spenglerei arbeiten: Ok, aber dass man da draussen ist, das ist ein Nachteil… Im Sommer, ok, da ist es ein Vorteil, weil es warm ist, man ist draussen, da würde man gern mit uns tauschen. Aber… im Winter… ist es draussen zu kalt.
[…] Um halb sieben fertig sein, am Samstag arbeiten: Nein!
[…] Ich frage Sie: Welche Person auf diesem Planeten hat Lust, vor fünf Uhr am Morgen aufzustehen und zur Arbeit zu gehen?“
Ehemaliger Auszubildender als Spengler (T1)
D) Der Übergang
Der Übergang umfasst alles, was mit der beruflichen Orientierung, mit der Berufswahl zu tun hat. Dabei geht es nicht nur um die Fähigkeit von Jugendlichen, einen Beruf auszuwählen, sondern auch um die Bedingungen der Wahl, das heisst um die Möglichkeit, einen Ausbildungsplatz zu finden und seine Wahl nicht aus Mangel an Alternativen treffen zu müssen. Daran schliesst sich eine weitere Dimension an, die auf den Übergang von der Schule in die Arbeitswelt verweist: Wechsel des Rhythmus, Kadenzen, Arbeitszeiten, Übergang von einer Welt der Peers in die Gesellschaft von Erwachsenen.
Als Grund für die Lehrvertragsauflösung verdeutlicht die Übergangsfrage eine Besonderheit des Schweizer Systems, in dem die Wahl besonders früh stattfindet:
„Also für mich ist 16 Jahre nicht das Alter, äh, wo man wissen kann, was man im Leben will. Selbst mit 17 Jahren ist das für mich zu früh. […] Ich denke, dass man ab 19-20 Jahren weiss, was man im Leben will, aber andernfalls, höchstens wenn man schon als ganz kleines Kind beschlossen hat, dass man das machen wird, ich denke nicht, dass man wissen kann, was man machen will.“
Ehemalige Auszubildende im kaufmännischen Bereich (T1)
Eine Reihe an Gründen verweist auf den Kontext der Schweizer Berufsausbildung, also auf ein Ausbildungssystem, das in ein Produktivsystem integriert ist und in dem die KMU manchmal Mühe haben, Zeit für die Betreuung von Auszubildenden aufzuwenden oder ihnen angepasste Arbeitsbedingungen anzubieten. Im Zentrum der Lehrvertragsauflösungen findet man häufig die Frage des Übergangs Schule-Arbeit, die im Rahmen der betrieblichen Berufsausbildung und im aktuellen ökonomischen Kontext nicht mehr notwendigerweise eine angepasste Zeit ist, um sich Schritt für Schritt an die Anforderungen des Arbeitsmarkts zu gewöhnen.
Gleichwohl zeigen diese Ursachen auch, dass die Auszubildenden während der ersten Erfahrungen in der Arbeitswelt einer ersten beruflichen Sozialisation ausgesetzt werden, die sie mit einem Arbeitskollegium, mit seiner Organisation, mit Arbeitsteilung zwischen Jungen und Erfahrenen, zwischen Auszubildenden und Fachkräften konfrontiert (Chaix, 1996). Durch diese Arbeitsteilung werden die Jugendlichen mit den verschiedenen Angestelltenstatus vertraut (Kergoat, 2003), insbesondere mit dem hybriden Status von Auszubildenden. Dieser Status versetzt sie in eine untergeordnete Position, in eine Situation der Verletzlichkeit und bestimmt sie oftmals zur „Drecksarbeit“ (Hughes, 1996; Lhuilier, 2005). Diese berufliche Vor-Sozialisation lässt sie ausserdem die Isolation entdecken, die mit dem Anstellungsstatus zusammenhängt, das Fehlen von Solidarität, das mit der Nicht-Integration in das Arbeitskollegium zusammenhängt.
- [1] Da die Ergebnisse aus zwei Datenerhebungen stammen, präzisieren wir, aus welcher Erhebung der jeweilige Auszug entnommen wurde. Wenn der Textauszug aus Interviews der ersten Datenerhebung entnommen wurde, kennzeichnen wir das in Klammern (T1); für Auszüge aus der zweiten Erhebung gehen wir analog vor (T2).
- [2] In der Psychodynamik der Arbeit (Dejours, 1998) verändern die Abwehrmechanismen die Prozesse, die von den Personen bei der Arbeit in Gang gesetzt werden und die es ihnen ermöglichen, Leiden und Angst zu begegnen. Diese Mechanismen können individuelle, kollektive oder berufstypische Strategien sein, daher spricht man von Berufsstrategien.