Entscheidungssituation, Entscheidungsfindung und Passungswahrnehmung: Eine theoretische Verortung
Die Auseinandersetzung mit berufsbiografischen Entscheidungen findet zu unterschiedlichen Zeitpunkten statt, wird durch Merkmale der Entscheidungsfindung geprägt und ist mitunter dann gelungen, wenn daraus ein passender Entscheid resultiert. Diese drei Aspekte werden nun vertieft besprochen und daraus Hypothesen abgeleitet.
Merkmale der Entscheidungsfindung: Das Modell des Career Decision-Making Processes
Prozesse der Entscheidungsfindung bereiten die Festlegung eines Entscheidungsergebnisses vor. Die Gesamtheit dessen, was Menschen mit Bezug auf zu treffende Berufsentscheidungen tun, oder was sie diesbezüglich denken, kann als Entscheidungsfindung betrachtet werden. Dies lässt sich entscheidungstheoretisch in zwei Richtungen modellieren. In der einen wird versucht, die Komplexität dieser Denk-, Handlungs- und Kontextstrukturen so zu verdichten, dass möglichst ein Hauptmerkmal gefunden werden kann, das in aller Regel situationsübergreifend ist und damit hauptsächlich bestimmt, wie Menschen Entscheidungen treffen (Scott & Bruce, 1995; Simon, 1957). Diesem Verständnis steht jenes gegenüber, das möglichst breit alle Faktoren einzubeziehen und zu verstehen versucht, die in den Prozess der Entscheidungsfindung einfliessen. Dieser zweite Zugang steht hier im Vordergrund, und zwar basierend auf dem von Gati, Landman, Davidovitch, Asulin-Perrez & Gadassi (2010) vorgestellten Ansatz der Entscheidungsprofile. Ihr Profil-Modell umfasst elf Dimensionen, die Personen und ihre Entscheidungsfindungen charakterisieren. Insgesamt basiert es auf der Annahme, “that individuals may be better characterized by a combination of styles, and that considering the set of behaviors used by the individual is more informative than the “dominant type” approach for characterizing of the way individuals make career decisions” (Gati et al., 2010, S. 278). Diese inhaltliche Auffächerung der Entscheidungsfindung auf mehrere (Profil-)Dimensionen soll zu einem möglichst differenzierten Bild verhelfen, wie Individuen ihre Entscheidungsfindung voranbringen. Dazu haben eigene Analysen gezeigt, dass nicht alle Dimensionen inhaltlich ausreichend gut voneinander zu trennen sind. Aus diesem Grund scheint eine Reduktion auf Dimensionen, die sich inhaltlich gut trennen lassen, und die im vorliegenden Kontext bedeutsam sind, angemessen zu sein. Zusätzlich sind von den im Modell gemachten Voraussetzungen zwei für den vorliegenden Kontext besonders bedeutsam. Die erste gilt dem Umstand, dass die einzelnen Dimensionen bipolar modelliert sind. Dies bedeutet, dass der eine Pol jeder Dimension eher für eine gelingende Entscheidung adaptiv ist, der andere eine gelingende Entscheidung eher weniger unterstützt. Durch diese Bipolarität ist das Modell im Kontext präskriptiver Konzepte zu verorten, weil es aussagt, dass je eher die adaptive Ausprägung erreicht wird, das Merkmal einer produktiven Entscheidungsfindung eher dienlich ist. Neben dieser einen Voraussetzung ist im vorliegenden Kontext als zweite wichtig, dass ein Teil der elf Dimensionen stärker persönlichkeitsgebunden und damit über Entscheidungssituationen hinweg als eher stabil zu betrachten ist. Andere hingegen sind eher situativ bedingt, also auch von kontextuellen Aspekten abhängig. Für welche Dimensionen das eine, bzw. für welche das andere gilt, bleibt im Modell jedoch unklar. Gerade diese Frage ist aber für ein präskriptives Modell wichtig, denn Wissen dazu könnte zeigen, welche Merkmale der Entscheidungsfindung nicht nur bei einer spezifischen Entscheidungssituation, sondern bei mehreren Entscheidungssituationen bedeutsam sind für eine hohe Passungswahrnehmung. Im vorliegenden Kontext wurden mit den Dimensionen „Informationen sammeln“, „Entscheidungsverzögerung“, und „einen idealen Beruf anstreben“ drei Aspekte ausgewählt, von denen angenommen wird, dass sie nicht nur im Kontext einer einzelnen berufsbiografischen Entscheidungssituation für eine hohe Passungswahrnehmung wichtig sind, sondern dass dies gleich für mehrere Situationen zutrifft (Kracke et al., 2008). Es wird also argumentiert, dass Berufsentscheidungen von Menschen generell verlangen, neues Wissen aufzubauen, berufliche Idealziele zu balancieren oder zu treffende Entscheidungen zügig voranzubringen, und dass dies damit im Zusammenhang steht, inwiefern der getroffene Entscheid als passend wahrgenommen wird.
Zu diesen drei Merkmalen ist bekannt, dass erstens Informiertheit in Theorien rationaler Entscheidungen ein zentrales Kriterium bei zu treffenden Entscheidungen darstellt. Informiertheit hilft, Sachlagen inhaltlich neu oder besser zu verstehen oder zu strukturieren. Dies ist gerade bei Berufsentscheidungen wesentlich, da hier beispielsweise die Optionen nicht grundsätzlich festgelegt sind. Auch sind die Konsequenzen von beruflichen Entscheidungen nur schwer abschätzbar, oder vergangene bzw. künftig zu gestaltende Lebenszeit wirkt sich unterschiedlich auf den Entscheid aus (Hellberg, 2009). Das zweite Merkmal der Entscheidungsfindung, die Tendenz, Entscheidungen aufzuschieben wird mit Vermeidungstendenzen in Zusammenhang gebracht (Scott et al., 1995; Gati et al., 2010). Dieses Merkmal kann zu treffende Entscheidungen besonders dann beeinflussen, wenn der Entscheid an zeitlich einzuhaltende Vorgaben gekoppelt ist, wenn also beispielsweise Verzögerungstendenzen vorherrschen, gleichzeitig aber bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Entscheid vorliegen muss. Dieser Entscheidungsdruck kann ein Risiko dafür sein, eine gut durchdachte und damit stabile Entscheidung treffen zu können. Mit dem dritten Merkmal der Entscheidungsfindung, dem Anstreben eines idealen Berufs, wird schliesslich ein Erwartungsaspekt angesprochen. Das Streben nach einem idealen Beruf lässt sich beispielsweise als Erfolgserwartung betrachten, die mit dem Durchhaltevermögen verbunden ist (Wigfield & Eccles, 2000), Heranwachsende also darin unterstützt, auch bei auftretenden Schwierigkeiten einen Entscheid aktiv zu suchen.
Im Folgenden wird analysiert, wie diese drei Merkmale der Entscheidungsfindung bei unterschiedlichen beruflichen Entscheidungssituationen mit der Passungswahrnehmung assoziiert sind.