Verfassungsentwicklung und –prinzipien

Die Verfassung Kambodschas wurde von einer gewählten Versammlung konzipiert, dem Volk jedoch nicht zur Annahme vorgelegt. Sie ist das Ergebnis eines intransparenten, durch Parteieliten dominierten Aushandlungsprozesses ohne Beteiligung anderer gesellschaftlicher Akteure (Croissant 2014). Den institutionellen Rahmen zur Ausarbeitung der insgesamt fünften Verfassung des Landes[1] bildete das Friedensabkommen von 1991, das in Anhang 5 die Ausarbeitung eines Grundgesetzes für ein demokratisches und rechtsstaatliches Kambodscha durch eine direkte gewählte Konstituante festlegte.

Die Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung hatten, wie erwähnt, eine Mehrheit für die oppositionelle FUNCINPEC und die BLDP gebracht. Diese Parteien bildeten gemeinsam mit der KVP einen im Verhältnis zu ihrer Mandatsstärke besetzten, insgesamt zwölf Mitglieder zählenden Ausschuss, dem die Ausarbeitung des Verfassungstextes oblag (Brandt 2005, S. 11). Die Beratungen im Ausschuss waren vertraulich (Menzel 2008). Der Ausschuss legte der UN-Administration einen Entwurf vor, der aufgrund fehlender Bestimmungen zu einer unabhängigen Justiz, einem unzureichenden Schutz der Menschenund Bürgerrechte sowie weitgreifender Kompetenzen des Staatsoberhaupts auf Kritik stieß (Shawcross 1994, S. 32). In der Folge präsentierten Prinz Ranarridh und Hun Sen dem formal zustimmungspflichtigen Präsidenten des Obersten Nationalrats, Prinz Sihanouk, jeweils eigene Entwürfe. Auf deren Grundlage wurde unter Vermittlung von Sihanouk ein Kompromissvorschlag ausgearbeitet, der innerhalb von nur fünf Tagen von der Verfassungsgebenden Versammlung beraten und mit 113 Stimmen bei fünf Gegenstimmen und zwei Enthaltungen angenommen wurde (Findlay 1995, S. 9).

Inhaltlich orientiert sich die Verfassung am Vorbild der ersten Verfassung von 1947, die ihrerseits Elemente der Verfassung der Vierten Französischen Republik übernommen hatte, sowie an der postkommunistischen Reformverfassung von 1989. Darüber hinaus nimmt sie auch Anleihen an ausländischen Vorbildern (Menzel 2008, S. 67) und beruft sich unter anderem auf die Charta der Vereinten Nationen sowie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Art. 31).

Laut Verfassung ist Kambodscha eine parlamentarische Wahlmonarchie und ein demokratischer Verfassungsstaat (Art. 1), wobei der König nach Art. 7 „herrscht, aber nicht regiert“. Der König ist somit auf eine repräsentative, zeremonielle und vermittelnde Rolle beschränkt. Kernelemente der Verfassung sind das Demokratieprinzip, die Gewaltenteilung, die monarchische Staatsform sowie die Menschenrechte. Zu den Besonderheiten im regionalen Vergleich gehört die Einführung eines am französischen Verfassungsrat der Fünften Republik orientierten Modells der Verfassungsgerichtsbarkeit sowie die

„Ewigkeitsklausel“ (Menzel 2008) in Art. 17, welche Art. 7 für unveränderlich erklärt.

Infolge einer Reihe von Änderungen seit Inkrafttreten gliedert sich die Verfassung inzwischen in 16 Abschnitte mit insgesamt 158 Artikeln sowie sieben Zusatzartikeln. Diese betreffen die Änderung des Verfassungstextes und des Zusammentretens der Nationalversammlung und sind als Anhang gekennzeichnet[2]. Abschnitt I (Art. 1–6) gilt der Staatsform, Staatsprache und Hauptstadt sowie dem Staatsgebiet. Kap. II (Art. 7–30) betrifft die Stellung des Staatsoberhauptes. Abschnitt III (Art. 31–50) kodifiziert die bürgerlichen Rechte und Pflichten. Abschnitt IV (Art. 52–55) bestimmt das Regierungssystem, bestehend aus Nationalversammlung, Senat (seit 1999), königlicher Regierung und Judikative, und legt das Prinzip der Gewaltenteilung fest. Die Abschnitte V (Art. 56–64) und VI (Art. 65–75) betreffen Grundfragen des Wirtschaftssystems bzw. behandeln Bildung, Kunst und soziale Angelegenheiten. Die Abschnitte VII bis XII gelten der Nationalversammlung (Art. 76–98), dem Senat (Art. 99–115) und der Gemeinsamen Sitzung beider Häuser (Art. 116–117), der Königlichen Regierung (Art. 118–127) sowie der Judikative (128–135) und dem Verfassungsrat (Art. 136–144). Die Grundsätze der staatlichen Verwaltung sind in Abschn. XIII (Art. 145–149) geregelt. Die Artikel 150 bis 153 (Abschn. XV) regeln im Zusammenwirken mit Art. 2 der zusätzlichen Bestimmungen zur Verfassung von 2004 das Verfahren der Verfassungsänderung. Der letzte Abschn. XVI (Art. 154–158) enthält unter der Überschrift „Übergangsbestimmungen“ u. a. Reglungen zur Umwandlung der Konstituante in ein nationales Parlament (Art. 155) sowie zur Bildung des ersten Senats (Art. 157).

In den ersten 15 Jahren ihres Bestehens wurde die Verfassung mehrfach geändert. Die meisten Änderungen erfolgten als Reaktion auf politische Konflikte zwischen Regierung und König bzw. zwischen Regierung und Opposition (vgl. Menzel 2008). Die bedeutendsten betreffen die Einführung des Senats und die Regelung der Thronnachfolge sowie die Wahl des Premierministers mit absoluter statt mit Zweidrittelmehrheit der Nationalversammlung (vgl. Kap. 5.3). Darüber hinaus wurde das Verfahren zur Änderung der Verfassung verändert. Nach Artikel 150 erfolgt die Revision der Verfassung durch ein verfassungsänderndes Gesetz mit Zustimmung von mindestens zwei Dritteln der Mitglieder der Nationalversammlung. Die Initiative zur Verfassungsänderung liegt beim König, dem Premierminister sowie, auf Antrag eines Viertels der Mitglieder der ersten Kammer, beim Präsidenten der Nationalversammlung. Mit Inkrafttreten der 2004 und 2006 verabschiedeten Zusatzbestimmungen zur Verfassung ist es der sich nach einer Wahl konstituierenden Nationalversammlung nun möglich, mit absoluter Mehrheit verfassungsändernde Parlamentsgesetze zu beschließen. Diese Änderungen haben durchweg die Dominanz der Parlamentsmehrheit, d. h. der KVP unter Führung von Hun Sen gestärkt. Sie verdeutlichen die geringe Geltung des Konstitutionalismus als Organisationsprinzip eines Regierungssystems sowie die Formalisierung der faktischen Machtsituation zum Nutzen des autoritären Machthabers.

  • [1] Vorgängerverfassungen wurden 1947, 1972, 1976 und 1981 verabschiedet. Letztere war 1989 reformiert worden (Croissant 2014).
  • [2] Alle Angaben basieren auf der englischsprachigen Übersetzung zum Stand März 2008 (Hill und Menzel 2008).
 
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