Erinnerungsgemeinschaft an die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs
Während in den ersten Jahrzehnten nach 1945 Verdrängen und Verschweigen eine Auseinandersetzung mit der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft zugunsten eines schnellen Wiederaufbaus und einer Integration aller Deutschen in die Nachkriegsgesellschaft weitgehend verhinderten und allenfalls ritualisierte Formen des Gedenkens gepflegt wurden, wurde die Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs in den letzten Jahrzehnten eine selbstverständliche Aufgabe der Überlebenden und der Nachgeborenen.
In den 1990er Jahren wurde diese Entwicklung besonders forciert, da im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung zwei unterschiedliche Konzepte des Umgangs mit der Zeit des Nationalsozialismus, über die sich die beiden Gesellschaften auch wesentlich definierten und voneinander abgrenzten, zusammengeführt werden mussten. Gedenkstättenarbeit findet seither endgültig nicht mehr am Rande, sondern in der Mitte der Gesellschaft statt. Die Gedenkstätten und andere Einrichtungen zur Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs sind Teil des Alltags und breiter denn je gesellschaftlich akzeptiert. Über das „Ob“ des Andenkens an die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des Zweiten Weltkriegs wird in der Gesellschaft nicht mehr gestritten, allenfalls über das „Wie“. Die Geschichtsvergessenheit wurde zuweilen geradezu durch eine Geschichtsversessenheit (Assmann und Frevert 1999) abgelöst.
Schon in wenigen Jahren werden keine Menschen mehr am Leben sein, die die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs mit einem reflektierenden Bewusstsein erlebt haben. Es ist daher auch eine Aufgabe der kulturellen Institutionen und Projekte, diese Zeit im kollektiven und im kulturellen Gedächtnis präsent zu halten. Dabei hat die Generation der am Anfang des 21. Jahrhunderts Lebenden eine wichtige Scharnierfunktion zwischen der Generation ihrer Eltern und Großeltern, die die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft noch erlebt haben, und der Generation der Kinder und Jugendlichen, die naturgemäß keine Erinnerung mehr haben können und für die NS-Zeit vollständig auf die Vermittlung angewiesen sind. Das Wissen über den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg geht vom kommunikativen Gedächtnis, das von Individuen und einer unmittelbaren Erfahrungsgeschichte getragen wird, über auf ein kollektives Gedächtnis, das zum Beispiel durch die Bildung von Interessengemeinschaften Strukturen zur Weitergabe des Wissens schafft, und ein kulturelles Gedächtnis, das über die üblichen Wege der Bildung, der Kultur und der Medien tradiert wird. Nicht zuletzt deshalb befinden sich derzeit alle deutschen Gedenkstätten für die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs in einem umfassenden Veränderungsprozess, der sowohl im Selbstverständnis als auch in der Gestaltung dazu führt, dass der Vermittlungsarbeit und der musealen Präsentation ein weitaus größerer Raum eingeräumt wird.
Die heute lebenden Deutschen tragen naturgemäß für die Geschehnisse der Zeit des Nationalsozialismus weder eine moralische noch eine strafrechtliche Schuld. Sie haben aber gegenüber diesen Ereignissen eine bleibende moralische Verantwortung, aus der sich der Auftrag ergibt, die Erinnerung präsent zu halten, um sich nicht selbst schuldig zu machen. Ralph Giordano hat dieses Phänomen „die zweite Schuld“ (Giordano 2000) genannt. „So bleibt die Angst vor einer moralisch vorwerfbaren Vergessensschuld. Damit aber über Auschwitz kein Gras wächst, werden sich die kommenden Generationen vor allem mit der Entstehungsgeschichte des Nationalsozialismus auseinandersetzen und immer wieder die eine beunruhigende Doppelfrage stellen müssen: warum Hitler nicht verhindert werden konnte und warum die Gewaltverbrechen gerade in Deutschland geschehen sind“ (Reichel 2001, S. 210). Der Sinn dieser Erinnerung ist nicht ein bedrücktes Leben im Schatten der Vergangenheit, sondern das Wachhalten des Bewusstseins, dass die Demokratie und der Rechtsstaat nie und nirgends ungefährdet und Gerechtigkeit und Freiheit keineswegs selbstverständlich sind.
Dieser ursächliche Zusammenhang zwischen ernsthafter Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der Verankerung und Bewahrung der Demokratie in der Gesellschaft ist eine der Grundlagen des Wertesystems in Deutschland. Aus dem von früheren Generationen Erlebten und dem für die Zeitgenossen Erinnerten leiten sich aber auch die Wertmaßstäbe ab, die für ein rechtsstaatliches vereintes postmodernes und postnationales Europa konstitutiv sind. Dabei wird es in der Zukunft noch weniger um die Diskussion der Polarität von Tätern und Opfern gehen als um das gemeinsame Ziehen von Konsequenzen aus der Vergangenheit, weil die Bereitschaft der Nation der Täter, ihre eigene Schuld anzuerkennen, als „eine Zweite Aufklärung sozusagen“ (Levy und Sznaider 2001, S. 237) inzwischen als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann. Versöhnung wird dennoch nicht aus dem Verwischen der Unterschiede entstehen, sondern aus dem Erforschen und der Kenntnis der unterschiedlichen Erfahrungen der Vergangenheit, die die gemeinsame Forderung nach Humanität und nach der moralischen Verantwortung der demokratischen Bürgergesellschaft begründen. „An die Stelle des leerlaufenden Erinnerungsimperativs tritt die Bildung reflektierten Geschichtsbewusstseins als Resultat begreifen wollender Auseinandersetzung“ (Knigge 2010, S. 14).
Wenn sich die Zukunft in der postmodernen Gesellschaft nicht mehr homogen aus der Vergangenheit entwickelt, kann der primäre Sinn der Vergegenwärtigung des Nationalsozialismus nicht mehr im bloßen Rückbezug auf Ereignisse bestehen. Erinnerung sollte vielmehr ein integraler Bestandteil des Diskurses über die europäische Politik werden, um damit die Wertediskussion zu begründen und deren Ziele zu definieren. Aus der gemeinsamen Geschichte werden dann „zukunftsweisende Erinnerungen“ (Levy und Sznaider 2001, S. 211 f.) lebendig erhalten. Ein Beispiel für die Vermittlung von Geschichte in diesem neuen Bedeutungszusammenhang ist die Erklärung des Jahrestages der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar 1945 zum europäischen Gedenktag. Über die Grenzen von Nationen hinweg wird damit nach dem Ende des Kalten Kriegs an ein Gründungsmotiv des neuen Europa erinnert. Die Geschichte des Nationalsozialismus ist ein Lehrstück über die Verführbarkeit von Individuen und eines ganzen Volkes und deshalb eine bleibende Mahnung zu Aufklärung und Mündigkeit. „Negatives Gedenken zielt letztendlich auf die Gewahrwerdung der radikalen Unselbstverständlichkeit des (gesellschaftlich) Guten, über dessen Verständnis und Grad an Verwirklichung – etwa als Freiheit, Solidarität, Toleranz, Menschenwürde, Menschenrechte, Demokratie – immer wieder neu, historisch informiert zu sprechen wäre. Es ist in seinem Kern nichts anderes als willentliche und bedachte Selbstbeunruhigung, die in politische und mitmenschliche Verantwortung umschlagen soll“ (Knigge 2002, S. 433).
Ein Forschungsprojekt zur Tradierung von Geschichtsbewusstsein und eine repräsentative Bevölkerungsumfrage zum selben Thema (Welzer et al. 2002) kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass die Verstrickung der Bevölkerung in den Nationalsozialismus in der breiten Öffentlichkeit nicht adäquat wahrgenommen wird und die Deutschen mehrheitlich meinen, ihre Vorfahren seien keine Täter, sondern Opfer gewesen. Obwohl die Menschen aller Altersgruppen zum Nationalsozialismus überwiegend über ein gutes Wissen verfügen, machen sie mindestens dann keinen Gebrauch davon, wenn es um die eigene Familie geht. Befragte mit Abitur oder Hochschulabschluss tendieren sogar noch stärker zu der Annahme, ihre Angehörigen seien dem Nationalsozialismus gegenüber negativ eingestellt gewesen. „Diese Ergebnisse der Repräsentativbefragung werfen ein klares Licht darauf, dass in der Gesamtbevölkerung weit überwiegend die Auffassung vorherrscht, dass eigene Familienangehörige keine Nazis waren; Antisemiten und Tatbeteiligte scheinen in deutschen Familien praktisch inexistent gewesen zu sein“ (Welzer et al. 2002, S. 247).
Dieses Auseinanderklaffen zwischen den historischen Tatsachen sowie der öffentlichen Gedenkkultur auf der einen Seite und dem privaten Erinnern auf der anderen Seite beweist, dass die traditionelle Gedenkstättenarbeit zumindest im Hinblick auf ihre Breitenwirkung noch nicht sehr erfolgreich war. Wenn der demokratische Lernprozess der Gesellschaft als Erinnerungsgemeinschaft gelingen soll, darf er deshalb zumindest nicht ausschließlich an Spezialisten und an eigens dafür geschaffene Institutionen delegiert werden, weil diese sonst zu Einrichtungen werden, deren Wirkung sich geradezu kontraproduktiv zu ihrer Intention entwickelt. In der Gesellschaft darf nicht der Eindruck entstehen, man habe sich seiner Schuld entledigt, weil man spezialisierte Einrichtungen zur historisch-moralischen Bildung mit öffentlichen Geldern finanziert, die das Thema stellvertretend und abschießend erledigen. Wenn die Erinnerungsarbeit die Gesellschaft nicht beruhigen, sondern sie aufrütteln soll, muss sie ungeachtet aller professionellen Initiativen und Anleitungen mitten in der Gesellschaft stattfinden und die Menschen mit den Spuren der Erinnerung in ihrer je eigenen regionalen wie individuellen Lebenswelt und vor ihrem je eigenen Wertesystem konfrontieren.
Die Auseinandersetzung mit der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft und deren Verbrechen geschieht im Rahmen des kulturellen Gedächtnisses im Wesentlichen auf vier verschiedenen Feldern (Reichel 2001, S. 9 f.):
• als politische und rechtliche Auseinandersetzung
• als öffentliche Erinnerungskultur mit Feiern, Gedenktagen und Denkmälern
• als ästhetische Vergegenwärtigung mit künstlerischen Mitteln
• als wissenschaftliche Bearbeitung
Die Problematik des gesellschaftlichen Diskurses zum Nationalsozialismus und seiner Vermittlung in der Öffentlichkeit besteht derzeit auch darin, dass diese Arbeitsgebiete zu wenig miteinander kommunizieren und deshalb Anstöße, die von Fragen und Antworten der jeweils anderen Bereiche vorgetragen werden, zu wenig aufgegriffen und für die eigene Arbeit nutzbar gemacht werden. Kulturmanagement, das seine gesellschaftliche Aufgabe ernst nimmt, bietet die Chance, diese verschiedenen Stränge miteinander in ein Gespräch und zu einem Austausch zu bringen. Auch dabei soll die Erinnerung nicht passiv bleiben, sondern zu einem Anlass werden, um aktiv Fragen zu stellen und andauernde Reflexionen über moralische Entscheidungsmöglichkeiten zu provozieren.
Die Erinnerungskultur ist in Deutschland – im Gegensatz beispielsweise zu den USA und Israel – von der Polarität der Präsenz von Tätern und Opfern und deren historischen Wirkungsstätten geprägt. Die weit verbreitete Abstraktion von der Realität der deutschen Täter, die einen ihrer Höhepunkte fand, als im Jahr 1993 die Neue Wache in Berlin mit der allgemeinen Widmungsformel „Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“ zur zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft umgestaltet wurde, ist deshalb für den gesellschaftlichen Diskurs nicht zielführend, weil sie jeden ursächlichen Zusammenhang zwischen verantwortlichen Tätern und deren Opfern ausblendet.
Deutschland war das Land der Täter, gleichzeitig gab es aber auch unter den Deutschen mit dem Bombenkrieg, der Flucht und der Vertreibung Opfer. Beide Aspekte in der Öffentlichkeit zu diskutieren, ohne die Differenzierung zwischen Ursache und Wirkung aus dem Blick zu verlieren, ist eine wichtige Aufgabe der kulturellen Institutionen und Projekte. Günter Grass gab 2002 mit seiner Novelle „Im Krebsgang“ für das Aufgreifen dieser Thematik einen wichtigen Anstoß, der zu einem Paradigma für die adäquate Beschäftigung mit Tätern und Opfern und deren Verhältnis zueinander wurde.
Zum Prototypen der Vermittlung dieser Ambivalenz in Kulturund Bildungseinrichtungen wurde die von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erarbeitete und in den Jahren 2006 und 2007 in Bonn, Berlin und Leipzig gezeigten Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Integration“. Sie veranschaulichte nicht nur, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allein in Europa zwischen 60 und 80 Mio. Menschen ihre Heimat verlassen mussten und die Deutschen dabei mit bis zu 14 Mio. Flüchtlingen und Vertriebenen am stärksten betroffen waren, sondern wies auch nachdrücklich auf den vom nationalsozialistischen Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg als Ursache hin. Als Abschluss öffnete die Ausstellung den Blick auf das aktuelle Weltgeschehen und zeigte dabei, dass Flucht und Vertreibung bis heute eine große politische Herausforderung und ein globales Schicksal für Millionen Menschen geblieben sind.