Theoretische Grundlegung von Gemeinschaft und Gesellschaft nach Tönnies

Der besondere Beitrag Tönnies' zur Stadtsoziologie beziehungsweise der Nachbarschaftsforschung liegt in der erstmaligen analytischen Trennung und schließlich seiner theoretischen Fundierung der Kategorien Gemeinschaft und Gesellschaft. Nachbarschaft deutet er als eine Ausprägung von „Gemeinschaften eines Ortes“. Dem Versuch, „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ zu explizieren, unterliegt die Annahme, dass diese Kategorien die Grundformen des menschlichen Zusammenlebens strukturieren sowie das soziale Dasein bestimmen. Tönnies' Überlegungen stützen sich zunächst auf die Betrachtung der vielfältigen Beziehungen zwischenmenschlicher „Willen“ zueinander und darauf, wie sich diese Beziehungen als Verhältnis individueller Akteure zueinander beschreiben lassen.

Gestaltet sich das Verhältnis „real“ und „organisch“, spricht Tönnies von „Gemeinschaft“. Diese definiert sich durch das intime Zusammenleben einer eher kleinen, eng miteinander verbundenen Gruppe, während Gesellschaft „ideelle“ und „mechanische“ Verbindungen umfasst (vgl. Tönnies 1963, S. 242 ff.). Tönnies' Gemeinschaftsbegriff neigt zu einer auf die Vergangenheit bezogenen Idealisierung. Er betrachtet Gemeinschaft als etwas „ursprüngliches“, als die „natürliche“ Ordnung des Zusammenlebens. Sie wird durch die Übereinstimmung menschlicher Willen, durch die Ausbildung von Sitte und Religion und durch Konvention begründet sowie durch politische Gesetzgebung und die öffentliche Meinung geklärt (vgl. Tönnies 1963, S. 251). „Alles vertraute, heimliche, ausschließliche Zusammenleben (so finden wir) wird als Leben in Gemeinschaft verstanden. Gesellschaft ist die Öffentlichkeit. […] Man geht in die Gesellschaft wie in die Fremde“ (vgl. Tönnies 1991, S. 3).

So versteht Tönnies unter Gesellschaft eher eine größere Gruppe von Menschen, die viel eher nebeneinander als notwendigerweise in enger Verbindung zueinander stehen. Gesellschaft tritt auch als Öffentlichkeit in Erscheinung. Sie stellt etwas Neues dar, etwas sich im Zuge der Entwicklung der Großstädte Herausbildendes. Tönnies' Werk kann demzufolge auch als Text gegen die Moderne gelesen werden (vgl. Rehberg 1993, S. 19).

Gemeinschaft und Gesellschaft sind Resultate zweier Willensformen. Zum einem des „Wesenswillens“, der die Gemeinschaft erschafft, und zum anderen des gesellschaftlich orientierten „Kürwillens“ (vgl. Tönnies 1991, S. 87 ff.). Der Wesenswille hat seine Wurzeln in der Vergangenheit, im Gefühl und im Instinkt. Dagegen hat der Kürwille seine Wurzel im Denken und er bezieht sich auf das Zukünftige und ist „ein Gebilde des Denkens“. Sozial drückt sich der Kürwille im Individualismus des gesellschaftlichen Lebens aus (vgl. Tönnies 1991, S. 73 ff.). Während sich der Wesenswille in Gemeinschaftsformen wie etwa einer Wohnbaugenossenschaft, einem Dorf, einer Kirche äußert, entspricht dem Kürwillen beispielsweise der moderne Nationalstaat.

Tönnies legt seinem Gemeinschaftsbegriff drei Formen der Gemeinschaft zugrunde: die Blutsgemeinschaft (Abstammungsgemeinschaft), die Gemeinschaft des Ortes und die Gemeinschaft des Geistes. Die am stärksten ausgeprägte Verbundenheit, die durch die Abstammung, stellt Tönnies bildhaft durch drei Verhältnisse dar: erstens durch das Verhältnis zwischen Mutter und Kind, welches „am tiefsten in reinem Instinkte oder Gefallen“ (Tönnies 1991, S. 7) begründet ist; zweitens durch das Verhältnis zwischen Mann und Frau im Sinne einer Partnerschaft und drittens durch das Verhältnis zwischen Geschwistern (vgl. Tönnies 1991, S. 7). Das Verhältnis in einer Partnerschaft und unter Geschwistern ist nicht mit der Intensität und Instinkthaftigkeit der Mutter-Kind-Beziehung zu vergleichen, sondern liegt in der „Gewöhnung aneinander“ und dem „Gedächtnis der Freude“ (Tönnies 1991, S. 7) begründet. Nach Ferdinand Tönnies führen diese drei Abstammungsbeziehungen nicht zwangsläufig zu gemeinschaftlichen Beziehungen, sondern sie sind „die stärksten oder am meisten der Entwicklung fähigen Keime“ (Tönnies 1991, S. 7) der Gemeinschaftsbildung.

Neben der „Gemeinschaft des Blutes“ entstehen auch „Gemeinschaften des Ortes“, welche unmittelbar im Zusammenwohnen zum Ausdruck kommen (Tönnies 1991, S. 12), und die „Gemeinschaften des Geistes“, die als „Miteinander-Wirken und Walten in der gleichen Richtung, im gleichen Sinne“ (Tönnies 1991, S. 12) zu verstehen sind. Alle drei Arten der Gemeinschaft sind sowohl im Zeitlichen wie auch im Räumlichen eng verknüpft. „Wo immer Menschen in organischer Weise durch ihre Willen miteinander verbunden sind und einander bejahen, da ist Gemeinschaft von der einen oder anderen Art vorhanden, indem die frühere Art die spätere involviert, oder diese zu einer relativen Unabhängigkeit von jener sich ausbildet“ (Tönnies 1991, S. 12). Somit sollten Verwandtschaft, Freundschaft und Nachbarschaft als nebeneinanderstehende Begriffe betrachtet werden. Verwandtschaft steht für die „nächsten und engsten Beziehungen“ (Tönnies 1991, S. 13).

Der verwandtschaftliche Wille und Geist“ ist nicht an die räumliche Nähe gebunden, sondern er kann seine Stärke und Lebendigkeit, „allein durch sich selber“ (Tönnies 1991, S. 13), aus dem „bloßen Gedächtnis“ ziehen (vgl. Tönnies 1991,

S. 13). Freundschaft sei unabhängig von Verwandtschaft und Nachbarschaft, „als Bedingung und Wirkung einmütiger Arbeit und Denkungsart; […] am ehesten gegeben“ (Tönnies 1991, S. 13).

Nachbarschaft, die „Gemeinschaft des Ortes“ ist, so Tönnies: „der allgemeine Charakter des Zusammenlebens im Dorfe, wo die Nähe der Wohnstätten, die gemeinsame Feldmark oder auch bloße Begrenzung der Äcker zahlreiche Berührungen der Menschen, Gewöhnung aneinander und vertraute Kenntnis voneinander verursacht; gemeinsame Arbeit, Ordnung, Verwaltung notwendig macht“ (Tönnies 1991, S. 13).

Diese Art der Gemeinschaft kann, wie die der Verwandtschaft, jedoch schwerer als diese, auch in Abwesenheit aufrechterhalten werden. In diesem Fall muss sie„in bestimmten Gewohnheiten der Zusammenkunft und heilig gehaltenen Bräuchen ihre Stütze suchen“ (Tönnies 1991, S. 13). Bräuche, Gewohnheiten und „Gleichheit und Ähnlichkeit des Berufs oder der Kunst“ stützen die Nachbarschaft (vgl. Tönnies 1991, S. 13). „Wenn das städtische Zusammenwohnen […] unter den Begriff der Nachbarschaft gefasst werden kann […], so bildet hingegen die geistige Freundschaft eine Art von unsichtbarer Ortschaft“ (Tönnies 1991, S. 13). Und während die verwandtschaftlichen Verhältnisse als instinktiv, die nachbarschaftlichen Verhältnisse als gewohnheitsbedingt bezeichnet werden können, kann man die freundschaftlichen Verhältnisse am ehesten der mentalen Natur zuordnen (vgl. Tönnies 1991, S. 13 f.).

Für die Stadtsoziologie ist Tönnies' Vergleich des städtischen und des dörflichen Lebens und damit insbesondere seine These, „dass gemeinschaftliche Formen der sozialen Beziehungen zugunsten gesellschaftlicher an Bedeutung verlören“, wichtig (Häußermann und Siebel 2004, S. 104 ff.). Wird im Dorf und in der kleineren Stadt Identität noch über die „Position innerhalb der Gemeinschaft bestimmt“, so verliert eine Stadt diese Möglichkeit der Integration, sobald sie sich zur Großstadt entwickelt (vgl. Häußermann und Siebel 2004, S. 105). Denn nach Tönnies ist das „großstädtisch industrielle Leben gänzlich anders“ (Häußermann und Siebel 2004, S. 105). Die Konsequenz des (Groß-) Stadtlebens für die Gemeinschaft liegt in erster Linie in ihrer Komplexität.

„Die äußere Gestaltung des Zusammenlebens, wie sie durch Wesenswillen und Gemeinschaft gegeben sind, wurden unterschieden als Haus, Dorf und Stadt. Das sind die bleibenden Typen des realen und historischen Lebens überhaupt. […] Die Stadt ist die höchste, nämlich komplizierteste Gestaltung menschlichen Zusammenlebens überhaupt. Hier ist mit dem Dorfe die lokale Struktur gemeint, im Gegensatz zur familiären des Hauses. Aber beide beinhalten viele Merkmale der Familie, das Dorf mehrere, die Stadt mindere. (Tönnies 1991, S. 211)“

Die Menschen sind hier mehr durch formale Organisationen und Märkte miteinander verbunden als über informelle Beziehungen beziehungsweise über ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. In der kleinen Stadt oder im Dorf sind die Menschen eher „über vertragliche Bindungen“ (Häußermann und Siebel 2004, S. 106) miteinander verbunden. In der Stadt haben die Menschen „den gemeinsamen Raum, die Nachbarschaft, […] nicht gemeinsam konstruiert, sondern er ist das zufällige Ergebnis der Wahl vieler Einzelpersonen“ (Häußermann und Siebel 2004, S. 106). Tönnies räumt jedoch ein, dass auch in der Großstadt Formen gemeinschaftlichen Lebens möglich sind, indem sich in den Großstädten quasi kleinere Städte bilden. Diese Sicht änderte jedoch nichts an seiner Überzeugung, dass durch die „fortschreitende Industrialisierung und Urbanisierung die gemeinschaftlichen Formen schließlich“ verdrängt würden (Häußermann und Siebel 2004, S. 106). „Aber wie die Stadt innerhalb der Großstadt, was diese durch ihren Namen kundgibt – so dauern überhaupt die gemeinschaftlichen Lebensweisen, als die alleinigen realen, innerhalb der gesellschaftlichen, wenn auch verkümmernd, ja absterbend fort“ (Tönnies zitiert nach Häußermann und Siebel 2004, S. 106).

 
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