Fall 6: Frau H.: Wer sich nur auf die Familie verlässt, tut sich mit der Mobilisierung und der Annahme von Nachbarschaft schwer (Bericht aus dem Pflegeheim)
Befragt wurden Frau H. (95 Jahre) selbst und ihr Sohn. Für weitere Befragungen wurde keine Einwilligung gegeben. Die Befragung fand sechs Wochen nach dem Umzug von Frau H. statt.
Bis vor zwei Jahren hat Frau H. noch in ihrer Eigentumswohnung am anderen Ende des Stadtteils im vierten Stock gelebt. Trotz einer Knieoperation, zunehmender Sehbehinderung und weiterer Einschränkungen hat sie ihren Haushalt noch selbstständig versorgt. Als in der benachbarten Galgenhalde eine fast ebenerdige Wohnung frei wurde, ist sie nach dort umgezogen. Früher hatte sie, so ihre eigenen Ausführungen, viele gute Freunde, eine Schwester, die schon vor Jahren verstorben sei, aber auch gute Bekannte im Wohnumfeld, die jedoch mittlerweile auch alle tot seien. Zwei Schwestern lebten noch, aber weiter entfernt, davon stünde eine kurz vor der Heimunterbringung. Sie lebe gerne in ihrer Wohnung, aber es werde immer schwerer. Vor drei oder vier Jahren sei sie mit einer Lebensmittelvergiftung im Krankenhaus gelegen. Seitdem sei alles schlechter geworden. Der mit einer Generalvollmacht ausgestattete Sohn könne sie nicht auch noch versorgen. Er habe selbst Familie und eine anstrengende Arbeit. Befragt wurden Frau H. selbst und ihr Sohn. Für weitere Befragungen wurde keine Einwilligung gegeben.
Der Sohn betonte, dass bereits die Lebensmittelvergiftung, die zum letzten Krankenhausaufenthalt geführt hätte, gezeigt habe, dass man über die häusliche Versorgungssituation dringend nachdenken müsse. Bis zu diesem Zeitpunkt habe seine Mutter ihre Demenz noch überspielen und kompensieren können: Stürze wurden verheimlicht, Essen sei auf dem Herd verbrannt, Wäsche sei in der Waschmaschine gelassen worden. Sein wöchentlicher Besuch hätte immer weniger ausgereicht. Versuche, die Versorgungslage zu verbessern, zum Beispiel die Versorgung mit Essen auf Rädern, wurden von der Mutter „immer wieder hintertrieben“. Nur nach intensivster Überredung nahm sie schließlich das Essen an und ließ einen Notruf installieren. Durch die altersbedingte Abnahme des Bekanntenkreises vereinsame Frau H. zunehmend. Über eine externe Beratungsstelle organisierte der Sohn eine professionelle Nachbarschaftshelferin der Organisierten Nachbarschaftshilfe. Dies sei jedoch zu wenig gewesen, um das schwache soziale Gefüge um die Mutter auszugleichen. Zudem verweigerte die Mutter Hilfe immer dann, „wenn s nur ums Schwätza geht“ (Mutter). Noch schwieriger wurde es, als Frau H. die Nachbarschaftshelferin beschuldigte, sie zu bestehlen. Aufgrund dessen wurde die Nachbarschaftshelferin wieder abbestellt, und der Sohn musste in der Woche bis zu drei Mal die Mutter nach der Arbeit besuchen. Der Sohn machte sich Sorgen wegen der zunehmenden Vereinsamung und Depressivität seiner Mutter. Nach einer ärztlichen Bestätigung der Diagnose Demenz und nach Gesprächen mit verschiedenen Diensten gelangte er zur Erkenntnis, dass eine ausreichende Versorgung in der angestammten Wohnung nicht länger zu realisieren sei. Eine Versorgung bei ihm zu Hause kam ebenfalls nicht infrage. Nach einem Besuch in einem Pflegeheim seines Wohnorts entschied er sich für den Umzug seiner Mutter dorthin. Bei der Entscheidung und beim Auszug wurden weder die Dienste im Stadtteil noch die Gemeinwesenarbeit einbezogen. Der Mietvertrag beim Bauund Sparverein eG wurde ohne Begründung gekündigt.
Für das Team machte der Fall von Frau H. Zweierlei deutlich. Alle waren der Auffassung, dass, insbesondere dann, wenn sich die sozialen Beziehungen durch Alterung natürlich reduzieren, neue Beziehungen nicht mehr ohne weiteres aufzubauen sind. Im Zusammenhang mit unserer Studie wurde allerdings auch deutlich, dass vor allem in Wohnsituationen, wo keine quartiersbezogene Altenhilfe gegeben ist, neue tragfähige Nachbarschaften nicht mehr aufgebaut werden können. Die Möglichkeit, familiär oder außerfamiliär koordinierende Versorgung zu bekommen, bestimmt somit die Schwelle hin zur Heimunterbringung. Die kritische Hinterfragung der Zeit vor der Zuspitzung der Mängellage bei Frau H. machte dem Team jedoch auch deutlich, dass es zu wenig präventives Hinsehen und präventive Aufmerksamkeit im Vorfeld gegeben hat und die Situation sich weitestgehend außerhalb des Versorgungsnetzes der Galgenhalde, das dem Sohn so gar nicht bekannt war, zuspitzte. Zumal in dem Haus, in dem Frau H. lebte, auch keine Patin tätig war.
Zwischenbilanz
In einer Zwischenbilanz ist zu sagen, dass die bisherigen sechs Beispiele deutlich gezeigt haben, dass ergänzende Hilfe aus der Nachbarschaft kein Allheilmittel ist, sondern eine günstige Ausgangslage. Sie kann aber – trotz steigenden Pflegebedarfs
– (nur) zusammen mit dem professionellen Dienst eine Heimunterbringung verhindern oder verzögern. Diese Kombination von professioneller Hilfe in der Pflege, semiprofessioneller Hilfe (durch die organisierten hauswirtschaftlichen Dienste) und der einzelfallbezogenen Hilfe durch die Nachbarn gelingt aber meist in einem alternden Quartier nur dann, wenn sie initiiert, gepflegt und laufend koordiniert wird. Es sind weniger die Pflegedienste, die diese Koordination vornehmen, sondern eher lokale Beratungsstellen (zum Beispiel Pflegestützpunkte, Informations-, Analyseund Vermittlungsstelle für Case-Management) oder quartiersbezogene, gemeinwesenorientierte Dienste, die aber häufig die Einzelfälle nicht nachhaltig im Blick behalten können. Zugehende Beratung im ambulanten Pflegebereich wird nur sehr selten geleistet, da sie aus dem Budget der Pflegeversicherung nicht finanzierbar ist, sondern andere Finanzquellen voraussetzt, die oft nicht gegeben sind (zum Beispiel Bürgerstiftungen, kommunale Zuschüsse).