Die Vorsteherin, der Vorsteher
In den Berliner Bezirksverordnetenversammlungen heißt der "Parlamentspräsident" Vorsteher. Die Bezeichnung weicht sicherlich in anderen Kommunalparlamenten ab. Jede Vorsteherin und jeder Vorsteher kennt selbstverständlich die Geschäftsordnung des eigenen Gremiums inund auswendig. Rechtsextreme in der Volksvertretung stellen aber eine besondere Herausforderung dar. Lange vor der konstituierenden Sitzung muss sich jede Vorsteherin und jeder Vorsteher mit extremen Situationen gedanklich auseinander setzen. Was ist Volksverhetzung? Welche Grenzen kennt demokratisches Rederecht? Welche Ordnungsmittel hat das Sitzungspräsidium? Ist es sinnvoll, Sitzungen von der Polizei schützen zu lassen? Welchen Kontakt mit der Polizei sucht man? Wie viel Polizeischutz darf sein? Wird durch zuviel Polizei der Plenarbetrieb gestört oder gar beeinträchtigt? Welche Rechte haben die Zuschauer? Dürfen sie Beifall und Missfallen frei kundtun?
Als erstes muss jedoch eine zentrale Frage beantwortet werden: Ist die bisherige Geschäftsordnung geeignet, auch den Herausforderungen der neuen Situation stand zu halten? Diese Frage richtet sich zuvorderst an die demokratischen Parteien. Der Vorsteherin bzw. dem Vorsteher kommt natürlich auch bei der Überarbeitung der Geschäftsordnung eine besondere Rolle zu. Nur zu verständlich ist der Wunsch, den Rechtsextremen durch eine gut durchdachte Geschäftsordnung möglichst wenige Möglichkeiten einzuräumen, im Schutz des Abgeordnetenmandats ihre Ideologie auszubreiten. Grundsätzliche Redezeitbegrenzung oder das Recht, Anträge vor dem Einreichen im Ältestenrat prüfen zu lassen, wären hierfür denkbare Mittel. Aber Vorsicht: Die demokratischen Parteien sollten auf gar keinen Fall über das Ziel hinausschießen. Nach unserer sicheren Überzeugung sollten sich Kommunalparlamente keinesfalls Regeln in die Geschäftsordnungen schreiben, die ihre bisherige, demokratische Arbeit verändern würde.
Zurück zur Geschäftsordnung: Unser Rat ist es, keine "Lex NPD" oder ähnliches zu schaffen. Ziel muss sein – wenngleich dies sehr hart ist –, dass auch die Rechtsextremisten volle parlamentarische Rechte haben. Öffentlich kommt ein augenscheinliches "prozedurales Austricksen" der entsprechenden Fraktionen ohnehin nicht gut an. Innerhalb ihrer braunen Klientel und leider auch in der Grauzone um sie herum würden die NPD-Vertreter in eine Märtyrerrolle gedrängt, die sie gewöhnlich auszuschlachten verstehen und in der sie sich gut gefallen.
Die BVV Treptow-Köpenick hat ihre Geschäftsordnung lediglich dahingehend geändert, dass bei Beitritten (zu Anträgen) die antragstellende Fraktion ihre Zustimmung erteilen muss. Es galt zu verhindern, dass die NPD mit auf einen Zug aufspringen kann, ohne dass die Antragstellerin dies verhindern könnte. Es würde die demokratischen Parteien in ein Dilemma stürzen; einerseits sind sie ja vom Guten im eigenen Antrag überzeugt, andererseits wollen sie auf keinen Fall verdächtig sein, mit Feinden der Demokratie gemeinsame Sache zu machen. Weil es diese Klausel in dieser Geschäftsordnung gibt, hat die NPD noch nicht einmal einen Beitritt beantragt.
Der Vorsteher der BVV hat es sich zur Angewohnheit gemacht, vor jeder Sitzung noch mal in Ruhe einen Blick in die Geschäftsordnung zu werfen. Besonders den Katalog möglicher Ordnungsmaßnahmen studiert er genau. Wenn nämlich am Rednerpult ein Rechtsextremer laut wird und seine Äußerungen drohen, volksverhetzenden Charakter zu bekommen, was nach § 130 StGB strafbar wäre, dann muss die Vorsteherin bzw. der Vorsteher unverzüglich reagieren. Sie bzw. er muss sofort – fast instinktiv – wissen, wann die Grenze zur Volksverhetzung überschritten ist und muss eingreifen, bevor es zu spät ist. Zu diesem Zeitpunkt besteht kaum noch die Möglichkeit, in der Geschäftsordnung nachzulesen.
Bedacht werden sollte ebenso, dass im Kommunalparlament zu diesem Zeitpunkt auch eine Art Ausnahmezustand herrschen wird. Wenn Vertreter der NPD am Rednerpult volksverhetzende Aussagen verbreiten, dann kann man von keinem demokratischen Parlament dieser Erde erwarten, ruhig und sachlich zu bleiben. Logischerweise schallen dem rechtsextremen Redner zahlreiche, nicht immer zimperliche Zwischenrufe entgegen.
Die Vorsteherin bzw. der Vorsteher kann diese Situation nur meistern, wenn die Vorbereitung im Vorfeld der Sitzung entsprechend gut war. Einerseits muss man, wie oben geschildert, die Geschäftsordnung "aus dem Effeff" kennen, andererseits ist ein Mindestmaß an juristischer Vorbildung notwendig. Um einen ersten Eindruck zu bekommen, was Volksverhetzung ist, ist das Internet eine erste Informationsquelle. [1] Unbedingt sollte dann aber ein vertiefendes Gespräch mit dem Rechtsamt im Rathaus folgen. Nur im intensiven persönlichen Gespräch mit einer rechtskundigen Person des Vertrauens, kann die Vorsteherin bzw. der Vorsteher den vollen Umfang dieser Rechtsvorschrift im Strafgesetzbuch ermessen.
In der BVV Treptow-Köpenick hat es fast zwei Jahre gedauert, bis die NPD einen Antrag stellte, der nach Auffassung des Vorstehers mit volksverhetzenden Argumenten begründet wurde. Der Vorsteher hatte bei diesem Antrag ("Rote Stolpersteine"; Drucksache VI/0664) die Möglichkeit, sich im Vorfeld der Versammlung mit dem Rechtsamt zu beraten. Dies ist natürlich – wie oben geschildert – bei volksverhetzenden Aussagen am Rednerpult nicht möglich. Im Beispiel des obigen Antrags musste der Vorsteher erkennen, dass er kein materielles (also inhaltliches) Prüfungsrecht besitzt. Folglich musste er den Antrag als solchen zulassen; er weigerte sich jedoch, die Begründung mit abzudrucken. Da Begründungen grundsätzlich nicht mit beschlossen werden und somit nicht Bestandteil des Antragstextes sind, ist dies möglich. Hinzu kam, dass der Vorsteher das Nichtabdrucken der volksverhetzenden Begründung zu Beginn des Tagesordnungspunktes öffentlich darlegte. Ein wichtiger und richtiger Schritt, der seine öffentliche Wirkung nicht verfehlte. Im nichtöffentlichen Ältestenrat wies der Vorsteher den NPD-Vertreter zusätzlich auf folgendes hin: Sollte er versuchen, Bestandteile der beanstandeten Begründung in der Einbringungsrede vorzutragen, würde er ihm nach der BVV-Geschäftsordnung das Wort entziehen. An diese klare Ansage sah sich der NPD-Vertreter – es war in diesem Fall wie so oft Udo Voigt, der den Antrag begründen sollte – gebunden.
Dieses Beispiel macht Mut! Auch der Vorsteher der BVV Treptow-Köpenick tut sich seither leichter damit, bei den Rechtsextremen steuernd einzugreifen. Aber Vorsicht: Die meisten Rechtsextremen haben im Hintergrund einen "juristischen Beistand". Sollte dieser die Chance wittern, einem BVV-Vorsteher unlauteres und undemokratisches Verhalten nachzuweisen, so wird er dies mit großer Freude und noch größerem Getöse tun. Die umfassende und gute Vorbereitung des Vorstehers ist hier das A und O.
- [1] Eine erste Übersicht bietet auch Stegbauer (2000).