Wissenschaftstheorie
Neben der disziplinären und theoretischen Verortung sind Fragen nach Forschungsstrategie und dem zugrunde liegenden Forschungsparadigma relevant. Auf wissenschaftstheoretischer Ebene werden entsprechende Entscheidungen getroffen, die in weiterer Folge den konkreten Zugang zur wissenschaftlichen Herangehensweise maßgeblich beeinflussen. Jessop (2006, S. 190f.) unterscheidet diesbezüglich vier Ebenen: (1) Deontologie bzw. Ethik beschäftigt sich mit der normativen Konzeption von „gut“ und „böse“ bzw. „richtig“ und „falsch“. (2) In der Ontologie werden Fragen des Seins bzw. der Grundauffassung gesellschaftlicher Zusammenhänge verhandelt. Die ontologische Grundfrage lautet demnach:
„Was ist?“ (Martens und Schnädelbach 1986, S. 48) Eine „Ontologie stellt die Gesamtheit der Grundannahmen über gesellschaftliche bzw. politische Realität dar“ (Pühretmayer 2012, S. 36). Es geht also um für Sozialwissenschaften prinzipiell notwendige (implizite oder explizite) Annahmen zur Existenz von Gegenständen sowie den Bedingungen ihrer Existenz. (3) Epistemologie ist dem gegenüber die „Theorie des Wissens“ (Marsh und Furlong 2002, S. 19): Was wissen wir von der Welt und wie können wir es in Erfahrung bringen? Welche Geltungskriterien halten wir für gerechtfertigt und wer ist von der Produktion „anerkannten“ Wissens einoder ausgeschlossen? Ontologie und Epistemologie werden von Blaikie (2008) als wichtigste Bestandteile von Forschungsparadigmen identifiziert, die als Grundlage für (4) die Methodik dienen, d.h. für die konkreten Regeln, um Wissen zu generieren und/oder zu testen.
Ethischen (deontologischen) Fragen in Bezug auf soziale Ungleichheit wird insbesondere in der normativen Moralphilosophie nachgegangen, die stark von John Rawls (1971, 1979) und Amartya Sen (1992, 1999b) geprägt wurde (vgl. Buckler 2002, S. 186ff.; Callinicos 2000, S. 36ff.). Rawls' Differenzprinzip ist ein starkes Plädoyer gegen Ungleichheit: Ungleichheiten sind demnach nur dann zu vertreten, wenn sie den sozial am schlechtesten Gestellten zugute kommen. Sen entwickelte Rawls' Zugang dahin gehend weiter, dass er Freiheit als normativ anzustrebendes Ziel propagiert (Sen 1999b, 2003). In der liberalen Moralphilosophie Rawls' und Sens wird jedoch die relative Unantastbarkeit der Verfügungsverhältnisse in der Produktion und die Markt-Freiheit vorausgesetzt. Auch wenn in dieser Arbeit diese Voraussetzung nicht geteilt wird, dient Sens (1992, S. 12ff.) grundlegende Frage zur Ungleichheit als erste Orientierungshilfe in Bezug auf die normative Orientierung: „Inequality of what?“ – „Ungleichheit wovon?“. Sen zeigt, dass diese Frage sehr unterschiedlich beantwortet werden kann. In seiner breiten Darstellung spannt er den Bogen bis hin zu neoliberalen Theorien, die sich explizit gegen Gleichheit wenden – jedoch dabei gleichzeitig die gleiche Behandlung (bzw. gleiche Nicht-Einmischung) seitens des Staats einfordern. Was also oftmals als Gegensatz zwischen Gleichheit und Freiheit betrachtet wurde, fasst Sen als unterschiedliche Zugänge zur Bedeutung von Gleichheit auf. Daher bedingt die Frage „Ungleichheit wovon?“ die Frage nach der Definition von Ungleichheit: „Was ist Ungleichheit“?
In diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung von Differenz und Ungleichheit wichtig. In der einschlägigen Literatur (vgl. Burzan 2007, S. 7; Kreckel 2004, S. 15ff.; Therborn 2006, S. 4f.) wird Ungleichheit nicht mit Verschiedenartigkeit gleichgesetzt, d.h. Unterschiede in Bezug auf physische oder persönliche Merkmale gelten nicht prinzipiell als Ungleichheiten. Letztere liegen laut Kreckel (2004, S. 16f.) erst dann vor, wenn „bestimmte soziale Differenzierungen es mit sich bringen, daß einzelne Individuen oder Gruppen in dauerhafter Weise begünstigt, andere benachteiligt sind“. Oftmals tritt dieser Fall ein, wie
z.B. bei der Herausbildung von Rassismus (Back und Solomos 2000) oder eines klassenoder geschlechtsspezifischen Habitus (Bourdieu 1982, 2005b); dennoch ist die Unterscheidung wichtig – auch weil auf politischer Ebene das Eintreten für Gleichheit oftmals als „Gleichmacherei“ diskreditiert wird. Diesbezüglich ist Göran Therborn (2006, S. 5) zuzustimmen, wenn er schreibt: „The inequalities of the world prevent hundreds of millions of people from developing their differences”. Bezüglich einer generellen Definition sozialer Ungleichheit soll hier im Weiteren an Reinhard Kreckel angeschlossen werden:
„Soziale Ungleichheit im weiteren Sinne liegt überall dort vor, wo die Möglichkeiten des Zugangs zu allgemein verfügbaren und erstrebenswerten sozialen Gütern und/oder zu sozialen Positionen, die mit ungleichen Macht- und/oder Interaktionsmöglichkeiten ausgestattet sind, dauerhafte Einschränkungen erfahren und dadurch die Lebenschancen der betroffenen Individuen, Gruppen oder Gesellschaften beeinträchtigt bzw. begünstigt werden.“ (Kreckel 2004, S. 17)
An dieser Stelle bleibt festzuhalten, dass Gleichheit – wie schon durch die Leitbegriffe der Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ angedeutet – ein zentrales Ideal der modernen Gesellschaft ist, das sich theoretisch sowohl in der rechtlich-politischen Verfassung wie auch in der Ökonomie manifestieren sollte. Gleichzeitig sind soziale Ungleichheiten jedoch konstitutive Merkmale der Moderne (vgl. Klinger 2003, S. 21ff.). Der deontologische Hintergrund dieser Arbeit ist die egalitäre Auflösung dieses Widerspruchs.
Robert W. Cox (1981) kombiniert epistemologische und deontologische bzw. ethische Überlegungen, indem er zwischen kritischen Theorien und Problemlösungstheorien unterscheidet. Letztere verstehen die vorherrschenden sozialen Verhältnisse und ihre Institutionalisierung als gegeben. Ihre Aufgabe besteht dann darin, dafür zu sorgen, dass potenzielle Probleme für die Kontinuität der Verhältnisse aus dem Weg geräumt oder geglättet werden. Kritische Theorien hinterfragen hingegen gesellschaftliche Strukturen im Hinblick darauf, wem sie nutzen und wie Emanzipationsprozesse für Benachteiligte aussehen könnten. Die vorliegende Arbeit verortet sich im Feld der kritischen Theorie, mit der Grundannahme, dass soziale Ungleichheit gesellschaftlich produziert wird, und sucht nach den Ursachen ihrer Vertiefung und den davon profitierenden Akteuren sowie nach Potenzialen zum Abbau von Ungleichheit und den dafür verantwortlichen gesellschaftlichen Kräften.