Critical Realism als Forschungsparadigma

Als Forschungsparadigma wird der auf Bhaskar (2008) zurückgehende kritische Realismus gewählt. Auf ontologischer Ebene wird davon ausgegangen, dass die Untersuchungsgegenstände zwar prinzipiell unabhängig vom Forschungsprozess und Forschenden existieren. Gleichzeitig wird jedoch auch postuliert, dass die Welt maßgeblich durch menschliche Handlungen beeinflusst wird, die wiederum von jeweils spezifischen Wahrnehmungen und Wissen abhängig sind. Somit bezieht sich Realität immer auf spezifische Ausschnitte, die im Hinblick auf relevante Orte, Zeithorizonte und handelnde Personen spezifiziert werden müssen. [1] Außerdem wird angenommen, dass Realität nicht immer empirisch beobachtbar und erfassbar sein muss, um Wissenschaftlichkeit gewährleisten zu können. [2] WissenschafterInnen beschreiben nicht zunächst neutral und fügen dann ihre Wertung der Beschreibung hinzu, sondern gehen davon aus, dass die Form der Fragestellung sowie der wissenschaftlichen Erklärung selbst die normative Ausrichtung der Forschung prägen (vgl.: Pühretmayer 2005).

Die Wahl des kritischen Realismus als Forschungsparadigma wirkt sich direkt auf die verfolgte Forschungsstrategie aus (für einen Überblick vgl. Blaikie 2008). Für diese Arbeit wird ein retroduktiver Zugang gewählt, der Regelmäßigkeiten mit Hilfe von nicht beobachtbaren Strukturen bzw. Mechanismen erklärt, die dafür verantwortlich gemacht werden. Um bisher nicht erforschte Strukturen oder Mechanismen zu entdecken, wird erst ein entsprechendes hypothetisches Modell erstellt, das dann durch Beobachtungen und Experimentieren bestätigt werden soll, um so den Konsequenzen von Struktur bzw. Mechanismus nachgehen zu können. Von kreativer Vorstellungskraft und Vergleichen angeleitete Suche nach Information soll zu neuen Erklärungsmustern führen. Mittels Konzepten und Theorien wird also auf zu erwartende Mechanismen geschlossen, mittels derer Beobachtungen erklärt werden können. In weiterer Folge werden durch die Beobachtungen die Mechanismen entweder näher erklärt oder neue Mechanismen beschrieben.

Der kritische Realismus entwickelt ein dialektisches Verständnis von Struktur und Handlung. Strukturen wurden demnach von Menschen produziert, reproduziert oder transformiert. Die somit geschichtlich entstandenen Strukturen ermöglichen oder begrenzen in weiterer Folge menschliche Handlungsoptionen (Archer 2004, S. 89ff.; Hay 2002; vgl.: McAnulla 2002). Gerade im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit ist die Wahrnehmung gesellschaftlicher Strukturen gefragt. Frye (2003) beschreibt den notwendigen Fokus auf Strukturen in der Ungleichheitsforschung anhand eines bildhaften Vergleichs mit einem Vogel im Käfig: Wenn bloß der Vogel aus der Nähe betrachtet wird, so kommt nur eine Strebe des Käfigs ins Blickfeld und es bleibt unklar, warum der Vogel nicht frei fliegen kann. Erst durch den Schritt zurück und den Ausblick auf den ganzen Käfig – also mit einem makroskopischen statt einem mikroskopischen Blick – kann Klarheit geschaffen werden (Frye 2003, S. 51). Der Fokus richtet sich somit zunächst auf strukturelle Faktoren, die Handlungen einschränken, aber auch ermöglichen können.

Theorie wird in dieser Arbeit als „Lupe“ für die empirische Darstellung gebraucht. Im Gegensatz zur linearen Forschungslogik positivistischer Forschungsparadigmen folgt kritisch-realistische Forschung einer zirkulären Logik (Blaikie 2008, S. 82). Sayer (1992, S. 85ff.) beschreibt die daraus resultierende Methodologie als doppeltes Wechselspiel zwischen der Beobachtung konkreter Ereignisse und theoretischer Abstraktion: “concrete � abstract, abstract � concrete“ (ebd.: 87). Konkrete Beobachtungen werden erst in Form eines theoretischen Modells abstrahiert, das dann wieder an neuen Beobachtungen angewandt wird. Die daraus folgenden Ergebnisse können dann wieder an das Modell rückgekoppelt werden, wodurch ein Kreislauf entsteht: Eingangs wird erst die Literatur zum behandelten Thema erfasst, um daran anschließend auf theoretischer Ebene Strukturen sozialer Ungleichheit zu ermitteln und kausale Mechanismen ausmachen zu können. Auf dieser Grundlage werden dann Theorien mittlerer Reichweite rezipiert, die die empirische Analyse anleiten.

Methodologisch wird der historische Institutionalismus als Analysegrundlage dienen, der mit Ansätzen der kritischen Staatstheorie entscheidend angereichert wird. Bob Jessops strategic relational approach und ähnliche von Marx, Gramsci und Poulantzas beeinflusste Zugänge sind diesbezüglich die zentralen Referenzpunkte. Diese Zugänge legen nahe, den grundlegenden Mechanismus so zu konstruieren, dass Ungleichheit durch den „Staat als Materialisierung von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen“ maßgeblich beeinflusst wird. Die Kräfteverhältnisse selbst werden als grundlegend ungleich verstanden, sodass die verschiedenen Akteure sehr unterschiedliche Potenziale zur Einflussnahme vorfinden. Diese wechselseitige Co-Konstitution von Ungleichheit, gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und dem Staat soll theoretisch näher erfasst werden, um dann die empirische Analyse anleiten zu können.

Ungleichheit fungiert in entsprechenden staatstheoretischen Arbeiten meist eher als „Hintergrundfolie“ denn als expliziter theoretischer Fokus. Aufgrund dieses Mangels an entsprechender Literatur ist es ein Anliegen dieser Arbeit, diese „Lücke“ zumindest teilweise auszufüllen. Daher werden in Kapitel 2 erst entsprechende Theorien in Form eines Literaturüberblicks dargestellt, die in weiterer Folge die Operationalisierung der staatstheoretischen Konzepte auf die Fragestellung ermöglichen sollen. Gleichzeitig wird dem Problem des relativen Mangels an empirischer Forschung in der deutsch- und englischsprachigen kritischen Staatstheorie begegnet, der in Bezug auf die globale Peripherie besonders eklatant ist. Im Anschluss wird die dafür angestrebte methodologische Grundlage erarbeitet.

  • [1] Für den Hinweis der nötigen zeitlichen, räumlichen und akteurs-spezifischen Spezifizierung gilt der Dank Hans Pühretmayer.
  • [2] Positivistische Zugänge gehen zwar davon aus, dass nicht-beobachtbare bzw. –beschreibbare Realitäten existieren können. Erklärungen dieser Realitäten können jedoch nur meta-physisch angenommen werden. Als spekulative Hypothesen können sie zwar zur Verbesserung und/oder Erfindung von Messinstrumenten führen, aber nicht als Grundlage für wissenschaftliche Erklärungen dienen.
 
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