Neuer Institutionalismus und Kräfteverhältnisse
Dem „neuen Institutionalismus“ (vgl. Lowndes 2002) werden in der Literatur drei große Strömungen zugeordnet: (1) rational choice, (2) soziologischer und (3) historischer Institutionalismus (für eine Überblicksdarstellung vgl.: Hall und Taylor 1996). Neuerdings könnte Schmidts diskursiver Institutionalismus als vierte Strömung hinzugezählt werden. [1] Für diese Arbeit dient der historische Institutionalismus als wichtige theoretische Stütze (Thelen 1999). In dieser Variante wird gesellschaftliches Handeln als durch Institutionen maßgeblich geprägt verstanden, wobei letztere breit definiert werden – als formelle oder informelle Prozeduren, Regeln, Normen oder Konventionen:
„How do historical institutionalists define institutions? By and large, they define them as the formal or informal procedures, routines, norms and conventions embedded in the organizational structure of the polity or political economy. They can range from the rules of a constitutional order or the standard operating procedures of a bureaucracy to the conventions governing trade union behaviour or bank-firm relations. In general, historical institutionalists associate institutions with organizations and the rules or conventions promulgated by formal organization.“ (Hall und Taylor 1996, S. 938)
Das breite Verständnis von Institutionen wird mit einem eklektischen theoretischen Zugang kombiniert und eignet sich daher gut für den theoretischen Zuschnitt dieser Arbeit. Der historische Institutionalismus ist außerdem besonders interessant, weil oftmals ein „macht-politischer“ Zugang verfolgt wird, der die konstante Institutionalisierung als Ergebnis gesellschaftlicher Auseinandersetzungen betrachtet, das spätere Auseinandersetzungen maßgeblich beeinflussen kann:
„While historical institutionalists acknowledge the cultural components of institutions, as well as the coordinating functions that institutions may perform, these scholars view institutions first and foremost as the political legacies of concrete historical struggles. Thus, most historical institutionalists embrace a power-political view of institutions that emphasizes their distributional effects”. (Mahoney und Thelen 2010b, S. 6f.)
Eine Stärke des historischen Institutionalismus liegt daher in der Berücksichtigung gesellschaftlicher Strukturen und ihrer gesellschaftlichen Strukturierung (Görg 1994). Die Verfestigung von Strukturen in Institutionen führt dann in weiterer Folge zu „Pfadabhängigkeit“ (path dependency), „a process whereby contingent events or decisions result in the establishment of institutions that persist over long periods of time and constrain the range of actors' future options” (Campbell 2004, S. 65). Die einseitige Betonung von Pfadabhängigkeit führt jedoch zu einem „latenten Strukturalismus“ (Hay und Wincott 1998, S. 952), da radikale Brüche kaum vorstellbar sind (vgl. auch: Scherrer 2005). Gleichzeitig merken Hay und Wincott (1998) auch an, dass es Potenzial in den Ansätzen des historischen Institutionalismus gibt, diese Probleme zu überwinden. Ein wichtiges Konzept dazu ist die „Critical Juncture“, ein Moment, in dem die strukturelle Verfestigung aufgebrochen wird und neue Pfade betreten werden. Hall und Taylor (1996, S. 942) kritisieren, dass es nicht immer als klar erscheint, wodurch „Critical Junctures“ ausgelöst werden können. Eine weitere Kritik betrifft die Konzeptionalisierung von evolutionärem Wandel (im Gegensatz zu revolutionären Veränderungen in „Critical Junctures“). Aktuelle Konzeptionen des historischen Institutionalismus (insbes.: Campbell 2004; Mahoney und Thelen 2010a) setzten sich mit dieser Kritik auseinander und verfügen mittlerweile auch über ein Instrumentarium, um institutionellen Wandel erfassen zu können.
Hall und Taylor (1996, S. 954f.) kritisieren auch die große Bedeutung induktiver Forschungsstrategien im historischen Institutionalismus: Um aktuelle Phänomene erklären zu können, wird ein breiter historischer Bogen gespannt, um zu rekonstruieren, wie und warum historische Akteure handelten. Dadurch gewinnen die Erklärungen einerseits an Realismus und Schärfe. Andererseits produzieren historische InstitutionalistInnen dadurch auch weniger verallgemeinerbare Theorien über institutionelle Neuerungen und Wandel. Schließlich könnte auch die fehlende Detailgenauigkeit im Hinblick auf aktuelle Geschehnisse aufgrund des weiteren Blicks in die Geschichte kritisiert werden – ein Widerspruch, der zwar kaum aufzulösen ist, aber im Sinne eines Abwägens zwischen Zuoder Abnahme analytischer Schärfe durch die Einbeziehung historischer Faktoren bearbeitet werden kann.
Aufgrund des „macht-politischen“ Zugangs des historischen Institutionalismus eröffnen sich Möglichkeiten, den Zusammenhang von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und politischen Institutionen zu thematisieren. Trotz der generell guten Eignung verbleiben entsprechende Konzepte jedoch oft etwas schematisch und die hier verfolgte Fragestellung im Hinblick auf soziale Ungleichheit kann damit nicht vollständig erfasst werden. Problemen, die im Zusammenhang mit induktiver Forschungslogik entstehen, wird mittels des Rückgriffs auf eine retroduktive Strategie begegnet: Theoretische Fundierung dient dem späteren Finden von Kategorien und Heuristiken, die die historische Betrachtung anleiten. Der gramscianisch und regulationstheoretisch inspirierte strategischrelationale Zugang Jessops liefert neben solchen Kategorien auch Möglichkeiten, „Critical Junctures“ konkreter zu bestimmen.
Daher wird hier auf eine institutionalistische Version des strategisch-relationalen Zugangs zurückgegriffen werden. Das zentrale Konzept Poulantzas (2002, S. 159) vom Staat als „die materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses zwischen Klassen und Klassenfraktionen, das sich im Staat immer in spezifischer Form ausdrückt“ wird auch hier in gewisser Weise die Forschung anleiten, jedoch in modifizierter Form. Einerseits wird durch die Einbeziehung neuerer Ungleichheitstheorien der Klassenreduktionismus zugunsten eines breiteren Konzeptes von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen aufgegeben. Die Kategorien „Rasse“, Ethnizität und Geschlecht werden in diesem Zusammenhang mit aufgenommen. Andererseits wird dann auch methodologisch ein institutionalistisch umformulierter Zugang favorisiert. In diesem Sinne ist Jessops Neuformulierung des zuvor zitierten Konzepts Poulantzas' forschungsleitend, der Staatsmacht als institutionell vermittelte Verdichtung von sich verändernden Kräfteverhältnissen betrachtet: „state power is an institutionally-mediated condensation of the changing balance of political forces“ (Jessop 2009d, S. 380).
Die im deutschsprachigen Raum stark rezipierte Debatte um Staat und Staatlichkeit in der Nachfolge von Gramsci und Poulantzas soll empirisch „unterfüttert“ werden. Zusätzlich wird die in diesem Bereich meist eher implizit präsente Frage von sozialer Ungleichheit explizit in den Mittelpunkt gerückt. Geografisch liegt der Fokus auf der Peripherie. Im Lichte des „OECD-Zentrismus“ der Debatten um Staat und Staatlichkeit im deutsch- und englischsprachigen Raum ist dazu die Rezeption von Zugängen aus peripheren Kontexten nötig.
- [1] Laut Hall und Taylor (1996, S. 946ff.) zeichnet sich der soziologische Institutionalismus in erster Linie durch Fokussierung auf Kultur bzw. die kulturelle Erklärung von Praktiken aus. Zugänge wie Schmidts „diskursiver Institutionalismus“ (Schmidt 2008) teilen diesen Fokus. Die Berücksichtigung gesellschaftlicher Konflikte, die bei vielen Zugängen des soziologischen Institutionalismus vermisst wird (Hall und Taylor 1996, S. 954) stellt aber ein Distinktionskriterium dar.