Literaturüberblick
Im Anschluss wird versucht, die empirisch fundierte Literatur zur Fragestellung nach den Möglichkeiten und Grenzen reformistischer Politik zu erfassen. Daher wird in diesem Abschnitt entsprechende Literatur zu sozial-reformistischer und insbesondere auch des in Europa entstandenen klassischen Falles einer solchen Politik – der Sozialdemokratie – kurz vorgestellt. Diese Debatte bezieht sich zwar nicht direkt auf die untersuchten Fälle, dient jedoch immer wieder als wichtige Referenz in Debatten in den beiden Ländern (vgl. z.B.: Arcary 2008; Bond 2007; French 2009). Aufgrund der Breite des Feldes bleibt diese Darstellung auf einzelne Standardwerke beschränkt. Im Anschluss daran wird die für die hier untersuchten Fälle spezifischere Literatur zur Beteiligung sozialer Bewegungen an Regierungen in der globalen (Semi-)Peripherie dargestellt. Besonderes Augenmerk gilt dann im Anschluss daran der vergleichenden Literatur zu Brasilien und Südafrika.
Sozialdemokratie und Reformismus
Die Literatur zur Sozialdemokratie ist ein nahezu unüberschaubares Feld. Dieser Literaturüberblick konzentriert sich auf Standardwerke (1) zur historischen Entwicklung, (2) des Vergleichs sozialdemokratischer Regierungen sowie (3) der aktuellen Transformation sozialdemokratischer Parteien.
Im Hinblick auf die historische Entwicklung thematisiert Przeworski (1980) drei strategische Fragen, die von sozialdemokratischen Parteien behandelt werden mussten (vgl. Leubolt 2006, S. 46ff.): (1) Soll Sozialismus mit Hilfe der politischen Institutionen der kapitalistischen Gesellschaft verwirklicht werden? (2) Ist die ArbeiterInnenklasse die einzige Akteurin, um die sozialistische Transformation einzuleiten oder sollen strategische Bündnisse mit anderen Klassen gesucht werden? (3) Sollen unmittelbare Verbesserungen mit Hilfe von Reformen innerhalb des Rahmens des kapitalistischen Systems angestrebt werden oder sollen alle Anstrengungen auf die strukturelle Transformation des Kapitalismus gerichtet sein?
Die erste Frage berührt mehrere Problembereiche. Durch die Delegation der politischen Entscheidungen an gewählte RepräsentantInnen können einerseits die Massen der Bevölkerung von der Politik entfremdet werden und in weiterer Folge kann deren Demobilisierung eintreten. Gleichzeitig lässt sich historisch auch eine „Verbürgerlichung“ der sozialdemokratischen RepräsentantInnen und BürokratInnen feststellen. Andererseits sind es gerade die gewählten VertreterInnen, die auf staatliche Gewaltausübung Einfluss nehmen und somit z.B. die gewaltsame Niederschlagung von Streiks verhindern könnten (Przeworski 1980, S. 28ff.). Die zweite Frage Przeworskis betrifft die Strategie der sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Parteien und die Konzeption des „Proletariats“. Im Kapitalismus werden die Menschen in Konkurrenz gesetzt und dadurch individualisiert, was zu Problemen bezüglich der Klasseneinheit, bzw. des Klassenbewusstseins führt. Das kann durch eine Partei ausgeglichen werden, die zur Bildung von Solidarität und Klassenbewusstsein beiträgt. Es bleibt jedoch anzumerken, dass die ursprüngliche Vermutung des 19. Jahrhunderts, dass das Industrieproletariat im Zuge der Entwicklung des Kapitalismus die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen würde, nicht eingetreten ist. Die Entwicklung des Dienstleistungssektors und die damit einhergehende Vergrößerung von Kleinbürgertum bzw. Mittelschicht wie auch von Marginalisierten, führten dazu, dass das klassische Industrieproletariat nicht die Mehrheit der Bevölkerung ausmachte. Somit ergibt sich ein Widerspruch zwischen „Klassenpartei“ und „Massenpartei“. Während eine „Klassenpartei“ nicht die Mehrheit der Bevölkerung vertreten kann, vertritt die „Massenpartei“ nicht Klassen, sondern Individuen und kann somit nicht im gleichen Ausmaß zur Bildung eines Klassenbewusstseins beitragen (Przeworski 1980, S. 36ff.). Die dritte Frage Przeworskis betrifft schließlich die klassische Entscheidung zwischen Reform und Revolution. In den Anfängen der ArbeiterInnenbewegung herrschte weitgehend Einigkeit darüber, dass das unmittelbar anzustrebende Ziel die „Expropriation der Expropriateure“ (Marx) und in weiterer Folge die Überwindung des Kapitalismus sei. Dies wäre mit Hilfe von Reformen zu bewerkstelligen, die in Angriff genommen würden, sobald die Sozialdemokratie nach gewonnenen Wahlen die Kontrolle über den Staatsapparat übernähme. Es wurde gemeinhin nicht angezweifelt, dass Reformen zur sozialistischen Revolution führen würden, da angenommen wurde, dass sie permanent und kumulativ wirksam wären und somit Schritt für Schritt zur Systemtransformation beitragen würden. [1] Probleme traten dann jedoch bei der praktischen Realisierung der Sozialisierung der Produktionsmittel auf, als sozialdemokratische Regierungen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zur Realität wurden – besonders im Umgang mit Massenstreik- und Fabrikbesetzungs-Bewegungen, die von sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften überwiegend als Gefahr für die öffentliche Ordnung wahrgenommen wurden. Gleichzeitig produzierten eingesetzte Verstaatlichungskommissionen nahezu keine Ergebnisse und die ersten Versuche der Systemtransformation scheiterten. Daher wurden die Energien zusehends in Maßnahmen konzentriert, um kurzfristig die Lebensbedingungen der Armen zu verbessern: Reformistische Wohnbauprogramme, Arbeitslosenunterstützungen, Mindestlöhne und ähnliches schlossen jedoch nahezu nahtlos an Bismarck'sche Reformen an. Während bei diesen ersten Reformen noch ein konkretes sozialdemokratisches Wirtschaftsprogramm fehlte, wurde ab den 1930er Jahren der Keynesianismus als solches eingeführt. Seither ging es nicht mehr um Systemtransformation mit Hilfe von Verstaatlichung, sondern um institutionelles Handeln zur Steigerung der Effizienz des Kapitalismus mit Hilfe von staatlicher Regulierung. Damit wurde die Profitrate zur strukturellen Grenze sozialdemokratischer Politik und die ursprüngliche Bedeutung des Reformismus als schrittweise Systemtransformation ging verloren (Przeworski 1980, S. 44ff.).
Diese reformistische Ausrichtung ist zentraler Referenzpunkt zur Definition sozialdemokratischer Politik in der überwiegenden Mehrzahl der Literatur zum Thema. Walby (2009, S. 10ff.; 278ff.) beschreibt – unter Berücksichtigung des Zugangs der Varieties of Capitalism (Hall und Soskice 2001) und der komparativen Wohlfahrtsstaatsforschung (Esping-Andersen 1990) – zwei große Projekte auf globaler Ebene: Neoliberalismus und Sozialdemokratie. Letztere stelle eine inklusive Form von sozialem Reformismus dar, die zusehends berufstätige Frauen mit einschließe, da sie stärker auf Vollbeschäftigung setze, mehr demokratische Mitbestimmung ermögliche, weniger staatliche und private Gewaltanwendung zulasse sowie mehr individuelle Freiheiten in Bezug auf sexuelle und reproduktive Rechte gewähre. Walby setzt sich direkt mit politischem Einfluss auf soziale Ungleichheit auseinander und benennt auf Basis von theoretischen und quantitativ ermittelten empirischen Ergebnissen die Sozialdemokratie als Kraft, die sich in jeder Hinsicht für mehr Gleichheit einsetzt. Walbys Darstellung bleibt notgedrungen eher schematisch, da sie die Vielfalt der weltweit beobachtbaren politischen Projekte auf Neoliberalismus und Sozialdemokratie reduziert.
Damit entgehen Walby Debatten um eine vielerorts beobachtbare Transformation der Sozialdemokratie im Sinne des „dritten Weges“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus (Giddens 1998). Von entsprechenden VertreterInnen wurde argumentiert, dass „sozialistische“ keynesianische Lösungen über Staatseingriffe in der komplexen Realität der „Globalisierung“ nicht mehr möglich wären. Stattdessen bedienten sich die SozialdemokratInnen des „drittenWegs“ liberaler Konzepte und stellten zivile Verantwortung und die Werte Reziprozität, Chancengleichheit und Selbstbestimmung in den Mittelpunkt (vgl.: Pratt 2007). Die politische Konsequenz dieser Transformation ist in erster Linie die Verfolgung von neoliberaler Wirtschaftspolitik durch sozialdemokratische Regierungen. Daher diagnostiziert Candeias (2004) das Aufkommen eines „sozialdemokratischen Neoliberalismus“, der sonst meist als „Sozialliberalismus“ bezeichnet wird. Neben der neoliberalen Ausrichtung der Wirtschaftspolitik wird in entsprechenden Arbeiten auch eine Akzentverschiebung in der Sozialpolitik von Welfare zu Workfare (Peck 2001) und generell die Zunahme von autoritären Zügen der Staatlichkeit (Kannankulam 2008) thematisiert.
- [1] Auch im „Manifest der kommunistischen Partei“ findet sich der Hinweis auf die Notwendigkeit „despotischer Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse, durch Maßregeln also, die ökonomisch unzureichend und unhaltbar erscheinen, die aber im Lauf der Bewegung über sich selbst hinaustreiben und als Mittel zur Umwälzung der ganzen Produktionsweise unvermeidlich sind“ (Marx und Engels 1986, S. 841). Diese „Maßregeln“ werden durch zehn Vorschläge radikaler Reformen konkretisiert.