Reformismus und soziale Bewegungen in der (Semi-)Peripherie

Die oben vorgestellten Debatten werden zwar auch in der (Semi-)Peripherie rezipiert, beschäftigen sich jedoch nicht direkt mit der Thematik reformistischen Regierens in der Semi-Peripherie. Diesbezüglich werden eingangs (1) spezifische Literatur zur Machtübernahme von nationalen Befreiungsbewegungen und (2) zur Sozialdemokratie bzw. sozial-reformistischer Politik in der Peripherie vorgestellt. (3) Schließlich wird die für Brasilien und Südafrika besonders aktuelle Debatte um den „Entwicklungsstaat“ behandelt.

(1) Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts erlebten vor allem Staaten der (Semi-)Peripherie eine neue Welle der Demokratisierung (vgl. Sen 1999a). Dieser Prozess wurde im Rahmen der Transitionsforschung bearbeitet, deren dominanter Strang vor allem die Notwendigkeit eines Konsens unter „Eliten“ der scheidenden Regimes und der Befreiungsbewegungen betonte (O'Donnell und Schmitter 1986; O'Donnell et al. 1986). Am Kritikpunkt der Elitenfixierung anschließend, erforscht ein anderer Strang der Debatte um die Demokratisierung in der globalen (Semi-)Peripherie dezidiert Einflüsse „von unten“ (vgl. z.B. Collier 1999; Rueschemeyer et al. 1992; Therborn 1977). Die wichtigste Akteurin ist die ArbeiterInnenklasse bzw. ihre Repräsentationsorgane wie Gewerkschaften. Liberale Demokratie sowie die Entwicklung von Wohlfahrtsstaatlichkeit werden als Errungenschaften des Proletariats begriffen, die in der Auseinandersetzung mit den herrschenden „Eliten“ als Kompromiss erkämpft wurden. Die Fixierung auf klassenbasierte Repräsentation der Subalternen blendet jedoch oftmals wichtige Elemente der Mobilisierung in weiten Teilen der (Semi-)Peripherie aus. Die sozialen Bewegungen gegen koloniale Herrschaft und Diktaturen wurden oftmals durch den Nationalismus geeint (vgl. z.B. Fanon 2008b), weshalb vielfach von nationalen Befreiungsbewegungen gesprochen wird. Zusammenfassend, wird in der entsprechenden Literatur vordergründig der Einfluss sozialer Bewegungen auf den Staat thematisiert – besonders unter dem Eindruck des „Linksrucks“ in Lateinamerika (vgl. z.B.: Mirza 2006; Petras und Veltmeyer 2006).

Die Frage der Übernahme der Regierungsverantwortung durch nationale Befreiungsbewegungen wurde von Fanon (2008b) exemplarisch bearbeitet. Er hob vor allem die wichtige einende Rolle des Nationalismus hervor. Anders als in Europa oder den USA richtete sich der Nationalismus in der (Semi-)Peripherie gegen koloniale bzw. imperialistische Einflüsse und diente weniger zu deren Legitimierung. Daher diente der Nationalismus als ideologische Säule nationaler Befreiungsbewegungen. Damit einher ging eine breite politische Bündnisstrategie, die sowohl Landals auch Stadtbevölkerung und dabei insbesondere auch die nationale Bourgeoisie mit einschloss. Die Frage der Möglichkeit des Einschlusses der nationalen Bourgeoisie in progressive Bündnisse und damit verbundene Probleme (wie Korruption und Identifikation mit der Rolle der alten Herrscher; vgl.: Fanon 2008a, 2008b) werden in Kapitel 3.4 noch gesondert behandelt.

Aktuelle Debatten um soziale Bewegungen in Lateinamerika hingegen greifen die Thematik des Umgangs mit sozialer Ungleichheit stärker auf. Es ist in der entsprechenden Literatur üblich, den Unterschied zwischen den Regierungen dahin gehend zu beschreiben, dass es zwei linke Strömungen gäbe (vgl. insbesondere: Castañeda und Morales 2008a): eine „sozialistische“, „linke“ bzw. „populistische“ Fraktion, die sich um Venezuela, Bolivien und Ecuador manifestiert habe und eine „sozialdemokratische“, „mitte-links“ bzw. „moderne“ Fraktion um Brasilien, Bachelets Chile, Uruguay und Peru (vgl.: Castañeda und Morales 2008b; Laclau 2006; Petkoff 2007). Mit der Charakterisierung schwingen Werturteile von „gut“ und „böse“ mit, die je nach politischer Orientierung anders aufgeladen sind. Während konservative Zugänge „linke“ Regierungen als „populistisch“ verdammen, kritisieren progressive AutorInnen die „sozialdemokratische“ Fraktion für die Beibehaltung des neoliberalen Kurses. Oliveira geht in dieser Hinsicht so weit, für Brasilien (ebenso wie für Südafrika) von „umgedrehter Hegemonie“ (Oliveira 2006c, S. 21f., 2009) zu sprechen, in der Subalterne im Namen der Herrschenden regieren würden. Gleichheitsorientierte Politik finde zwar statt, aber bloß in einem neo-populistischen Rahmen und mit äußerst eingeschränkter Wirkung. Konservative AutorInnen loben hingegen die Umverteilungspolitik mittels Programmen für Einkommenstransfers wie sie in Brasilien und Mexiko praktiziert werden, während sie Verstaatlichungen und konfrontative Kurse gegenüber den „Eliten“ in Venezuela oder Bolivien verdammen (Castañeda und Morales 2008a).

Von anderer Seite wird jedoch das Argument der „beiden Linken“ kritisiert und darauf hingewiesen, dass die verschiedenen (Mitte-)Links-Regierungen zu vielfältig wären, um in einen Dualismus gepresst werden zu können (Gallegos 2006) und, dass es wichtige Gemeinsamkeiten gäbe, die gegenüber den Unterschieden überwiegen (Arditi 2008; French 2009). Letztere weisen auf das Potenzial zur Etablierung eines „Post-Neoliberalismus“ hin, das den neuen Regierungen innewohne (vgl. auch: Sader 2009a). Diese Debatte kann hier nicht weiter vertieft werden. Interessant sind jedoch die vorgebrachten Argumente des sozialdemokratischen Kurses der Regierung Lula sowie die Auseinandersetzung mit der Kritik der Etablierung „umgedrehter Hegemonie“. Letztere Kritik verweist auch auf Südafrika, wo die Bedingungen der Machtübernahme jedoch anders waren als in Brasilien, da dem bewaffneten Widerstandskampf eine größere Rolle zukam.

Deonandan, Close und Prevost (Deonandan et al. 2007, S. 8) greifen dieses Themengebiet im Rahmen von mehreren qualitativen Fallstudien von revolutionären Bewegungen in Afrika und Lateinamerika auf. Ihre Arbeit ist besonders interessant, da sie sich mit Bewegungen auseinandersetzen, deren explizites politisches Ziel soziale Gleichheit bzw. Gerechtigkeit darstellt, das sie mit Hilfe einer Partei und in weiterer Folge der Erlangung staatlicher Macht erreichen wollen. Während die Machtausübung unter Bedingungen liberaler Demokratie erfolgt, eint die Bewegungen der bewaffnete Widerstand gegen autoritäre Regimes. Die Umstellung von militärisch geprägter Politik auf Verhandlungen in einer liberalen Demokratie („ballots instead of bullets“: Close und Prevost 2007, S. 8) wird begleitet vom Problem der tradierten militärisch-hierarchischen Organisation von revolutionären Bewegungen. Demokratische Partei- und Staatsstrukturen sind somit nur gegen starke interne Widerstände durchsetzbar und meist stark defizitär. Die Hinweise von Deonandan, Close und Prevost sind insbesondere im Hinblick auf den ANC (vgl.: Prevost 2007) sehr hilfreich, beschäftigen sich aber nur am Rande mit der Thematik gleichheitsorientierter Politik.

(2) Entsprechende Debatten zur Sozialdemokratie bzw. Sozial-Reformismus in der globalen Peripherie stehen in engem Bezug zu den eingangs umrissenen Diskussionen um Aufkommen und Ausprägung eines „Post-Washington Consensus“ und eines entsprechenden „inklusiven Liberalismus“ (Porter und Craig 2004). In einem Werk, das sich explizit der „Sozialdemokratie in der globalen Peripherie“ widmet (Sandbrook et al. 2007), führen die AutorInnen eine Typologie zur Unterscheidung unterschiedlicher sozialdemokratischer Zugänge ein: (1) Der eben beschriebene Zugang des „dritten Wegs“ wird (2) von der zuvor dargestellten „klassischen Sozialdemokratie“ unterschieden. (3) Schließlich stellen die AutorInnen auf Basis des empirischen Beispiels der Regierung des indischen Bundesstaates Kerala die Konzeption „radikaler Sozialdemokratie“ vor. Letztere verbindet sozialpolitische Errungenschaften mit der Ausweitung partizipativer Demokratie, ist bisher aber nur auf lokaler bzw. regionaler Ebene beobachtbar (z.B. auch in Porto Alegre; vgl.: Leubolt 2006). In Bezug auf Umverteilungs- und Gleichstellungspolitik diagnostizieren Sandbrook, Edelman, Heller und Teichman (2007), dass die „Sozialdemokratie des dritten Weges“ am wenigsten und die „radikale Sozialdemokratie“ am meisten darauf abziele, während die „klassische Sozialdemokratie“ einen Mittelweg darstelle. In Verbindung mit den zuvor dargestellten Debatten um den „Post-Washington Consensus“ eröffnet diese Literatur Perspektiven zur Klassifizierung der reformistischen Bestrebungen in Brasilien und Südafrika.

(3) Im Hinblick auf Strategien jenseits des „Washington Consensus“ kam dem Konzept des „Entwicklungsstaates“ in den letzten Jahren wieder größere Bedeutung zu. Das diesbezüglich prominenteste Feld stellen die Ansätze der neo-statist school zum „Developmental State“ dar, die unter dem Motto „Bringing the State Back In“ (Evans et al. 1985; vgl. dazu auch: Heigl 2009, S. 27ff.; Leubolt 2008, S. 4f.) verstärktes staatliches Engagement einfordern. Ganz im Sinne Webers [1] wurde anhand des „best practice“ Beispiels des süd-ost-asiatischen Entwicklungsstaats dargestellt, dass ein starker Staat, fußend auf kompetenter Bürokratie, zentral für positive polit-ökonomische Entwicklung wäre. In diesem Zusammenhang wird also einerseits die Qualifikation des Staatspersonals als einer der zentralen Faktoren thematisiert. Außerdem wird noch betont, dass die staatliche Bürokratie gegenüber sozialen Gruppen im Staat über Autonomie verfügen muss, also isoliert von wirtschaftlichem und zivilgesellschaftlichem Druck Politik machen kann. Ein in diesem Sinne „starker Staat“ sollte jedoch nach Evans (1998) gleichzeitig mit den zentralen wirtschaftlichen Kräften eng zusammenarbeiten, weshalb er von notwendiger „eingebetteter Autonomie“ (embedded autonomy) spricht.

„Entwicklungsstaaten“ wird meist hohes Potenzial gesellschaftlicher Modernisierung attestiert. Diesem grundsätzlichen Ziel werden dann andere Ziele – wie z.B. Verteilungsgerechtigkeit – untergeordnet. Die Folgen dieser Zielsetzung waren regional sehr unterschiedlich: Während süd-ost-asiatische „Entwicklungsstaaten“ trotz Niedriglohnstrategie relativ egalitäre Einkommensverteilungen produzierten (Pohlmann 2002), führten ihre lateinamerikanischen Pendants zu sehr hohen Einkommensungleichheiten (Riesco 2007). Gleichzeitig wird jedoch auch lateinamerikanischen „Entwicklungsstaaten“ attestiert, mehr zu sozialem Ausgleich und Mobilität beigetragen zu haben als das danach folgende Paradigma des „Washington Consensus“ (ebda.).

Trotz der Unterschiede ist der positive Bezug auf den Staat ein generelles Merkmal der Beiträge der neo-statist school, dessen Rolle als die eines „neutralen Schiedsrichters“ betrachtet wird. Explizit oder implizit an der Studie Alexander Gerschenkrons zur wirtschaftlichen Entwicklung ökonomisch rückständiger Staaten wie z.B. Deutschland im 19. Jahrhundert anknüpfend (Gerschenkron 1962), werden Fragen nach dem wirtschaftlichen Erfolg peripherer Staaten in Bezug auf nachholende Entwicklung gestellt. „How does one best explain the relative success of some late-late industrializers vis-à-vis others?” fragt beispielsweise Kohli (2004, S. 367) in einem der Standard-Werke zum Thema. Anhand der vergleichenden historischen Analyse der Entwicklung Brasiliens, Südkoreas, Indiens und Nigerias hebt er besonders die Rolle des Staates in der Förderung und Verhinderung der Industrialisierung hervor und unterscheidet dabei drei Idealtypen. (a) Der effektivste Staatstypus in Bezug auf schnelle Industrialisierung ist der „kohäsiv-kapitalistische Staat“. Angelehnt an Südkorea und teilweise auch an Brasilien handelt es sich dabei um „economistic states that concentrate power at the apex and use state power to discipline their societies. Generally right-wing authoritarian states, they prioritize rapid industrialization as a national goal, are staffed competently, work closely with industrialists, systematically discipline and repress labor, penetrate and control the rural society, and use economic nationalism as a tool of political mobilization” (Kohli 2004, S. 381). Diese Form des ökonomisch erfolgreichen Entwicklungsstaates verfügt also einerseits über kompetente Staatsbedienstete, die eng mit den Kapitalfraktionen kooperieren, die als strategische Partner betrachtet werden und andererseits über Autonomie gegenüber der Bevölkerung, was über faschismus-ähnliche Formen des Korporatismus und autoritäre Regierungsformen sichergestellt wird.

(b) Die andere – negative – Seite des idealtypischen Kontinuums Kohlis ist der „neopatrimoniale Staat“. Anhand einer Fallstudie zu Nigeria herausgearbeitet und sonst vor allem im sub-saharischen Afrika, aber auch teilweise in Asien und Lateinamerika verortet, diagnostiziert Kohli (2004, S. 393) für diese Staaten:

Variously described as clientelistic, corrupt, or predatory, they are not modern, rational-legal states.“ Diese nicht dem weberianischen Ideal rationaler Verwaltungsführung entsprechenden Staaten sind nicht dazu im Stande, Industrialisierung voranzutreiben.

(c) „Fragmented-multiclass states“ sind schließlich die letzte Kategorie Kohlis, die er in Indien und teilweise auch in Brasilien verortet. Hier handelt es sich um Staaten, die prinzipiell weberianischen Idealen moderner Staatlichkeit genügen und im Gegensatz zu „kohäsiv-kapitalistischen Staaten“ meist liberaldemokratisch regiert sind. Dadurch ergibt sich der Versuch, die Bevölkerung zu repräsentieren, der mit den entwicklungsstaatlichen Bestrebungen zur gesellschaftlichen Transformation einher geht, was Kohli zu Folge zu mangelhafter staatlicher Autonomie und in weiterer Folge zu einer Tendenz zu Populismus führt. Kohlis Fragestellung geht in eine andere Richtung als die hier angestrebte. Sein Werk ist jedoch dabei hilfreich, Debatten um Potenziale des „Entwicklungsstaates“ als anzustrebende Staatsform zu relativieren (vgl. z.B.: Riesco 2007), die in erster Linie die in dieser Staatsform erfolgte Umverteilung thematisieren. Ein näherer Blick auf bestehende vergleichende Literatur zu den beiden hier fokussierten Ländern soll der Präzisierung der Fragestellung dienen, die im abschließenden Abschnitt der Einleitung stattfinden wird.

  • [1] Webers normativer Hintergrund ist dabei die Forderung nach rationaler Verwaltungsführung (Bürokratie), die er einerseits von traditioneller und andererseits von charismatischer Herrschaft abgrenzt (Weber 1980, S. 124ff.; 541ff.). Zentral für Staatlichkeit ist für Weber (1980, S. 29) das „Monopol legitimen physischen Zwanges“. Sein Idealtypus rationaler Herrschaft setzt daher die Existenz eines legitimen staatlichen Gewaltmonopols voraus, das mit Hilfe der bürokratischen Organisation sichergestellt werden soll. Die rationale Herrschaft setzt bei Weber (1980, S. 125f.) einen (1) kontinuierlichen regelgebundenen Betrieb mit (2) festen Amtskompetenzen voraus, wo (3) rein nach Fachqualifikation angestellte BeamtInnen, (4) in fester Amtshierarchie, zuständig für das Verwaltungshandeln sind. (5) Für ihre Handlungen gilt das Prinzip der Aktenmäßigkeit, d.h. die Entscheidungen werden schriftlich festgehalten und archiviert. Für diesen Punkt fungiert bei Weber das Parlament als zentrale Institution, während die Bürokratie sonst strikt hierarchisch in letzter Instanz einem charismatischen Führer zu unterstehen hat. Webers zweiter Idealtypus, die charismatische Herrschaft, gilt als eine Art Bindeglied „außeralltäglicher Herrschaft“ und muss entweder rationalisiert und legalisiert oder traditionalisiert werden, um verstetigt werden zu können. Als dritten Idealtypus und als Gegenspielerin rationaler Herrschaft definiert Weber traditionelle Herrschaft, die er mit patriarchalen und feudalen Herrschaftsstrukturen assoziiert. Es sind also keine objektiven Regeln, sondern vielmehr persönliche Beziehungen ausschlaggebend. Die Untertanen verfügen nicht über festgeschriebene Rechte, sondern sind stets auf die Gunst des Herrschers angewiesen. Die damit verbundene Herrschaftsform bezeichnet Weber als Patrimonialismus (Weber 1980, S. 580ff.; zu diesen Ausführungen vgl. auch: Leubolt 2008, S. 3f.).
 
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