Ungleichheit in Brasilien und Südafrika

Der Vergleich von Brasilien und Südafrika ist zwar – wohl auch aufgrund der geografischen Distanz und der Lage auf zwei verschiedenen Kontinenten – nicht sehr alltäglich in der wissenschaftlichen Literatur. Die zuvor erwähnten Ähnlichkeiten führten aber schon dazu, dass es einige vergleichende Studien gibt, insbesondere im Hinblick auf soziale Ungleichheit.

Die am häufigsten behandelte Thematik ist Rassismus. Das Werk „Making Race and Nation“ von Anthony Marx (2006) gehört sogar zu den neueren Standardwerken der historischen Komparatistik (vgl.: Katznelson 2003, S. 286f.; Mahoney 2003, S. 342f.). Marx vergleicht die historische Entstehung des Rassismus in Brasilien, Südafrika und den USA. Er zeigt dabei auf, dass ähnliche Situationen der Unterdrückung aufgrund der unterschiedlichen geschichtlichen Hintergründe verschiedene politische Formen annahmen. In Bezug auf Südafrika und Brasilien betont Marx die unterschiedliche Ausformung des Rassismus. In Brasilien wurde schon seit der Zeit der Sklaverei der Mythos verfolgt, dass „Rassendemokratie“ herrsche (Marx 2006, S. 48ff.): Vom Mythos der „humanitären“ Sklaverei ausgehend, wurde ein Bild geprägt, das die SklavInnen als nahezu gleichberechtigte Mitglieder der „kolonialen Großfamilie“ zeichnete. Später insbesondere vom einflussreichen Soziologen Gilberto Freyre in seinem Werk „Herrenhaus und Sklavenhütte“ (Freyre 1992) vertreten, wurden afrikanische Elemente in der brasilianischen Kultur sowie die „rassische“ Durchmischung als gewichtige Begründungen verwendet, um zu argumentieren, dass es in Brasilien keinen Rassismus gäbe und somit „Rassendemokratie“ vorherrsche. Demnach spiele die Hautfarbe keine Rolle – obwohl nahezu ausschließlich aus Afrika verschleppte Menschen SklavInnen und nahezu ausschließlich Europäer die „Herren“ waren. Aus mehr oder weniger gewaltsamen Affairen resultierende „Mestizen“ bekamen gelegentlich höhere Positionen in der sozialen Hierarchie, wodurch sich der Wunsch nach einem „branqueamento“ (d.h. „Weißmachen“) erklären lässt (vgl. auch: Jaccoud 2008). Der Mythos der „Rassendemokratie“ wurde v.a. ab den 1930ern zu einem wichtigen Teil der dominanten Ideologie, da somit diskursiv eine „inklusive Nation“ aufgebaut werden konnte (Marx 2006, S. 158ff.). Die Figur des „Mestizen“ wurde als typisch brasilianisch stilisiert und weiterhin starke rassistische Ressentiments hingegen de-thematisiert. Vor diesem Hintergrund erläutert A. Marx (2006, S. 250ff.) schließlich die Strategie afrobrasilianischer Bewegungen, die auf den „Bruch des Schweigens“ bezüglich des Rassismus abzielt.

Im Gegensatz zu Brasilien handelt es sich bei Südafrika historisch um einen rassistischen Staat (Marx 2006, S. 84ff.), in dem koloniale Herrschaft nicht von einer einzigen Nation (Brasilien: Portugal, später selbst von England dominiert) ausgeübt wurde. In Südafrika rangen nach Goldfunden im 19. Jahrhundert zwei Gruppen um die Vorherrschaft: Holland und England zugehörige Gruppen bekämpften einander schließlich zwischen 1899 und 1902 im „Anglo-Boer War“. Um ihre Herrschaft abzusichern, suchten die beiden konkurrierenden Kolonialmächte nach Einigkeit und etablierten dafür schließlich ein offen rassistisches Regime (vgl. auch: Terreblanche 2002). „White unity“ ging dabei einher mit dem offenen Ausschluss der afrikanischen Bevölkerung aus dem „gehobenen“ gesellschaftlichen Leben. Eine Strategie, die schließlich ab 1948 in die Etablierung des Apartheid-Regimes mündete, das von der burisch dominierten National Party (NP) ausging (Marx 2006, S. 84ff.; 104ff.). Somit wurde in Südafrika – ähnlich den USA, aber radikaler – „rassische“ Segregation verfolgt, in der „gespaltenen“ Nation waren die unterdrückten AfrikanerInnen jedoch im Gegensatz zur USA die gesellschaftliche Mehrheit. In weiterer Folge zeigt Marx (2006, S. 194ff.), dass die vom ANC angeführte Widerstandsbewegung ihre Identität vordergründig auf ihre „rassische“ Zugehörigkeit bezog und somit den anti-rassistischen Kampf in den Mittelpunkt ihres politischen Wirkens rückte.

Eine ähnliche Darstellung findet sich auch im von Hamilton, Huntley, Alexander, Guimarães und James herausgegebenen Sammelband „Beyond Racism: Race and Inequality in Brazil, South Africa, and the United States“ (Hamilton et al. 2001). Auch hier steht der Vergleich von unterschiedlich gelagerten Rassismen im Mittelpunkt und der brasilianische Fall des „nonracialism“ (Guimarães 2001) dient als Gegenbeispiel zum staatlich sanktionierten offenen Rassismus der USA und (in nochmals radikalerer Ausprägung) in Südafrika. Im Unterschied zu A. Marx wird in diesem Sammelband auch ansatzweise versucht, die Wechselwirkungen von Rassismus, Sexismus und klassenbasierter Unterdrükkung zu thematisieren: Es bleibt jedoch bei seltenen Ansätzen wie z.B. einem Beitrag zur US-amerikanischen Frauenbewegung und ihrer Thematisierung von rassistischer und sexistischer Diskriminierung (Wolfe 2001) oder auch der Thematisierung des Zusammenkommens von klassenbasierter und rassistischer Unterdrückung in Südafrika und daraus resultierenden Problemen für die PostApartheid Regierung (z.B.: James und Lever 2001). Dennoch geht das Buch in dieser Hinsicht über Marx' Darstellung hinaus und versucht auch, auf Basis des Vergleichs in Verbindung mit theoretischen Ausführungen, neue politische Anregungen zu formulieren. Diese reichen von Argumentationen, dass das Ende rassistischer Diskriminierung auch zu mehr Wirtschaftswachstum führen würde (Zoninsein 2001) bis zu Argumentationen, inwiefern die Berufung auf internationales Recht ermöglichen könnte, Rassismus als Verbrechen zu bekämpfen (McDougall 2001). Besonders interessant für diese Arbeit ist diesbezüglich ein Vorschlag von Powell (2001), der aufzeigt, dass Affirmative Action Politik zwar zu mehr Diversität und „racial inclusiveness“ beiträgt, aber dennoch nur moderate Erfolge zur effektiven Gleichstellung erzielen kann. Daher schlägt er als alternative Vision Transformative Action Politik vor, die im Gegensatz zu Affirmative Action auch die Privilegien der „weißen“ Bevölkerung antasten soll, was auch die Umverteilung von kulturellen, sozialen, politischen und ökonomischen Ressourcen einschließen würde. Den Abschluss des Buches bilden schließlich wieder Beiträge zu den einzelnen Ländern. Hier werden jeweils in unterschiedlicher Debattenform mögliche antirassistische Strategien diskutiert.

Neben diesen beiden Büchern existieren viele vergleichende Beiträge zu spezifischeren Aspekten des Rassismus in Südafrika und Brasilien wie z.B. eine Aufarbeitung des Verhältnisses von „Rasse“, sexuellem Verlangen und staatlicher Regulierung (Moutinho 2004) oder der Unterschiede der Affirmative Action Politik (Silva 2006). Dennoch ist Rassismus nicht das einzige behandelte Gebiet. Sektorale Studien vergleichen z.B. auch die Rentensysteme (Barrientos 2008; HelpAge 2003) oder die Produktion von informellen Wohnvierteln bzw. Slums (Huchzermeyer 2002). Auch im Zuge des Aufkommens von Süd-Süd-Kooperationen (z.B.: Alden und Vieira 2005; Lechini 2005) und der Debatte um neue Regionalmächte im „globalen Süden“ (z.B.: Desai 2008; Nayyar 2008) werden die beiden Länder verglichen.

Eine besonders interessante sektorale Studie für diese Arbeit ist Liebermans Vergleich der Einkommenssteuerpolitik der beiden Länder (Lieberman 2001), insbesondere weil er im historisch-institutionalistischen Rahmen arbeitet. Dabei führt er das Konzept der „National Political Community“ (NPC) ein, womit er einen einheitlichen Referenzrahmen für die „Eliten“ der jeweiligen Länder bezeichnet. Die historische Konstitution der NPCs variiert für ihn im Zusammenhang mit der Handhabung regionaler und „rassischer“ Unterschiede während kritischer Momente (critical junctures) und beeinflusst in weiterer Folge die Bildung von Klassenbeziehungen und politischen Strategien, die er als ursächlich für den Willen der einkommensstarken Gruppen ansieht, Steuern zu entrichten (Lieberman 2001, S. 517). Als kritische Momente definiert er die jeweiligen Prozesse einer ersten Verfassungserstellung (Br.: 1889-1891; RSA: 1902-1909). In Brasilien waren ihm zu Folge die „Eliten“ regional zersplittert, während die Aufarbeitung des Anglo-Boer War die südafrikanischen „Eliten“ um das Konzept der „Rasse“ einte. Geeint um „white unity“, etablierte sich unter den reichen „Weißen“ das Bewusstsein, dass soziale Zugeständnisse nötig seien, um das „poor white problem“ wirksam bekämpfen zu können. Daher akzeptierten sie relativ hohe Einkommenssteuern zur Finanzierung von Sozialausgaben für ihre „weißen Gefolgsleute“. In Brasilien akzeptierten die Reichen hingegen nie die progressive Besteuerung, sondern versuchten sie über die Flucht in den Föderalismus zu vermeiden. „There was no political 'glue' to hold together upper groups in that country, and without explicit forms of political exclusion it appeared more likely that 'others' might someday profit from tax payments“ (Lieberman 2001, S. 533). Auf Basis dieser Analyse kommt Lieberman zum ironischen Schluss, dass die rassistisch geprägte NPC Südafrikas progressive Einkommensbesteuerung bewirkte, die mittlerweile vordergründig den AfrikanerInnen zu Gute kommt, während der Regionalismus Brasiliens – in Verbindung mit dem Mythos der „Rassendemokratie“ – zu einem weitaus regressiveren Steuersystem führte:

“Today, low-income blacks in South Africa benefit from the progressive income tax that was developed in the wake of this history of deliberate racial exclusion. By contrast, their poor, black Brazilian counterparts continue to face a far more regressive tax system.” (Lieberman 2001, S. 547)

Diese Analyse ist einerseits interessante Grundlage für diese Arbeit, da sie schon eine erste institutionalistische Verbindung zwischen Kräfteverhältnissen, Ungleichheit und reformistischer Politik setzt. Andererseits jedoch bleiben wichtige Aspekte unterbetont oder ganz ausgeblendet: Das Verständnis der Erstellung einer ersten umfassenden Verfassung als einzige critical juncture verunmöglicht die Analyse von Veränderungen, die nach diesem Punkt stattgefunden haben. Der einseitige Fokus auf die „Eliten“ suggeriert zusätzlich, dass Entwicklungen bloß „von oben“ gesteuert werden, während den jeweiligen Bevölkerungsmehrheiten bloß passive Rollen zugestanden werden.

Andere Arbeiten vergleichender Forschung zu Brasilien und Südafrika beziehen sich dem gegenüber vordergründig auf die subalternen Akteure. Gay W. Seidmans Buch „Manufacturing Militance: Workers' Movements in Brazil and South Africa, 1970-1985” (Seidman 1994) behandelt in diesem Zusammenhang die Gewerkschaftsbewegungen der beiden Länder und ihren jeweiligen Beitrag zur Demokratisierungsbewegung. Dabei hebt sie in erster Linie die Ähnlichkeiten der Bewegungen hervor: Der brasilianische unabhängige und radikale Gewerkschaftsverband CUT (Central Única dos Trabalhadores) und der südafrikanische radikale „mixed race“ Gewerkschaftsverband Cosatu (Confederation of South African Trade Unions) waren ihr zu Folge beide ungewöhnlich wichtige Akteure in der Demokratisierungsbewegung. Diese Ähnlichkeiten bezieht sie auf vergleichbare Prozesse autoritär-staatlich angetriebener nachholender Industrialisierung und damit einhergehender Proletarisierung. Globale ökonomische Krisentendenzen in den 1970ern führten in beiden Fällen zur Delegitimierung des jeweils vorherrschenden autoritären Systems. Unmut in Bezug auf die ökonomische Situation konnte durch die im Industrialisierungsprozess gestärkten Gewerkschaftsbewegungen in Proteste gegen die jeweiligen Regierungen kanalisiert werden. Beide Bewegungen wurden in weiterer Folge zu zentralen Akteuren der Demokratisierungsbewegungen und daher kam es in beiden Fällen zu einem stark sozialistischen Einschlag.

Auch Becker (2008a) beschäftigt sich mit dem Einfluss sozialer Bewegungen auf Politik in Südafrika und Brasilien, bezieht sich dabei jedoch vordergründig auf die Zeit nach den Transitionen zu liberalen Demokratien und den Einfluss der Bewegungen auf die jeweiligen Regierungen. Ähnlich wie Seidman hebt auch Becker die Gemeinsamkeiten der beiden Fälle hervor und stellt dabei v.a. auf die enge Bindung von Gewerkschaftsbewegungen und (von ANCbzw. PTgeführten) Regierungen ab. In beiden Fällen wurde Becker zu Folge eher die Sozialals die Wirtschaftspolitik progressiv transformiert. Frustration über den neoliberalen Kurs führt, Becker zu Folge, zu „zwiespältigen Verhältnissen“ der sozialen Bewegungen zu den jeweiligen aktuellen Regierungen. Unterschiede macht er hingegen im Hinblick auf die Bindung der Parteien an die Bewegungen aus, die er vor allem auf die Abfolge von liberal-demokratischer Transition und Regierungsübernahme der Parteien bezieht: „Der ANC wurde noch auf der Welle sozialer Mobilisierung ins Regierungsamt gewählt, während dem PT-Wahlsieg eine Phase relativ schwacher Mobilisierung, aber zunehmender sozialer Unzufriedenheit, welche die PT auf ihre Mühlen lenken konnte, vorausging“ (Becker 2008a, S. 173).

Die Beiträge von Seidman und Becker sind für diese Arbeit hochgradig relevant. Die von ihnen hervorgehobenen Gemeinsamkeiten zeigen die nötigen Ähnlichkeiten auf, um Brasilien und Südafrika vergleichend analysieren zu können. Beide betrachten Kräfteverhältnisse als ausschlaggebende Faktoren gesellschaftlicher Entwicklung und räumen dabei auch subalternen Kräften Gestaltungspotenzial ein. Gleichzeitig bleiben die Kontraste, die von Marx und Hamilton u.a. aufgezeigt werden, etwas unterthematisiert, insbesondere die komplexe Verbindung von klassenspezifischer Ungleichheit und Rassismus. Schließlich soll in dieser Arbeit methodisch die institutionelle Komponente stärker hervorgehoben und inhaltlich auf politische Bearbeitung sozialer Ungleichheit fokussiert werden.

 
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