(Un-)Gleichheitsorientierte Politik in Brasilien und Südafrika
Die vergleichende Literatur zu Brasilien und Südafrika deckt nur einen Bruchteil des empirischen Materials zu (un)gleichheitsorientierter Politik in den beiden Ländern ab. In der spezifischen Literatur zu den jeweiligen Ländern hingegen kommt dem Fokus dieser Arbeit auf historisch-institutionalistische und gramscianisch inspirierte Arbeiten größerer Stellenwert zu. Unter dieser Prämisse wird anschließend auf Standardwerke zu sozialer Ungleichheit in Brasilien bzw. Südafrika eingegangen. Dann wird ein genereller Überblick zu den wichtigsten behandelten Themen vermittelt, um im Anschluss daran auf einzelne Arbeiten näher einzugehen, die sich besonders für die hier angewandte Methodik eignen. Aus dem breiten Feld werden insbesondere solche Arbeiten herausgegriffen, die nicht nur die (Re-)Produktion von Ungleichheitsstrukturen, sondern auch (mehr oder weniger explizit) Möglichkeiten gleichheitsorientierter Politik behandeln.
Standardwerke zu sozialer Ungleichheit in Brasilien und Südafrika
Die Literatur, die sich mit dem Themenkomplex sozialer Ungleichheit in den beiden untersuchten Ländern beschäftigt, ist vielfältig und schwer überschaubar. Ein großer Unterschied besteht in Bezug auf die Verfügbarkeit von Standardwerken.
In Südafrika erschienen in den letzten zehn Jahren mehrere wichtige Standardwerke zu sozialer Ungleichheit. Die historische Entstehung sozialer Ungleichheit wird von Terreblanche (2002) sowie von Seekings und Nattrass (2005) explizit behandelt. Beide sind wichtige Referenzpunkte für die akademische Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit. Terreblanche spannt einen weiteren historischen Bogen bis ins Jahr 1652, während sich Seekings und Nattrass auf das zwanzigste Jahrhundert beschränken und dafür die große Vielfalt des Datenmaterials im Hinblick auf die Darstellung der Sozialstruktur weitaus stärker aufnehmen. Außerdem führen sie auch mit dem „Distributionsregime“ ein eigenes (auf Esping-Andersen 1990 aufbauendes) Analysekonzept ein (nähere Ausführungen dazu in Kapitel 2.3.3.2). Damit beziehen sie sich auf den historischen Institutionalismus. Aufgrund der methodologischen Ähnlichkeit handelt es sich daher für diese Arbeit um einen äußerst wichtigen Bezugspunkt. Ähnlich wie Terreblanche betrachten sie das Ende der Apartheid als wichtigsten Bruch in der jüngeren Geschichte Südafrikas. Die 1948 eingeführte Apartheid unterteilen sie in eine frühe Periode bis in die 1970er und eine späte Periode danach, in der die Transformation ökonomisch begann. Die weiterreichende historische Betrachtung Terreblanches öffnet den Blick für eine Periodisierung der Zeit vor dem 20. Jahrhundert. Terreblanche unterscheidet sich auch in der Beschreibung der wirtschaftspolitischen Reformen in der Post-Apartheid-Ära. Während Seekings und Nattrass die ökonomischen Reformen tendenziell als notwendige Anpassungen an den Globalisierungsdruck beschreiben, kritisiert sie Terreblanche (mit starker Referenz auf Marais 2001) als neoliberal und thematisiert eine wirtschaftspolitische Kurswende als erste Notwendigkeit für gleichheitsorientierte Politik. [1]
Die beiden Werke können als wichtige Standardwerke zentral in die empirische Analyse einfließen, haben aber beide Schwächen im Hinblick auf die Erfassung der handelnden Akteure. Marais' (2001) „Limits to Change“ liefert eine solche Analyse. Eingebettet in die historische Entwicklung Südafrikas sowie in globale polit-ökonomische Transformationen beschreibt er detailreich die demokratische Transition Südafrikas. Seine zentralen theoretischen Referenzen Weltsystemtheorie und Gramsci führen ihn sowohl zur Einbeziehung internationaler Einflüsse auf Politik und Ökonomie in Südafrika als auch zu einer facettenreichen Analyse der Akteure, ihren politischen Handlungen und den Ergebnissen dieser Handlungen in der Zeit des Umbruchs. Auch wenn bei Marais Ungleichheit nicht so explizit im Mittelpunkt steht wie bei Terreblanche oder Seekings und Nattrass, wird sein Buch aufgrund der theoretischen und konzeptionellen Nähe zu den hier verfolgten Ansätzen als zentrale Referenz dienen. Die vollständig überarbeitete Neuauflage von „Limits to Change“ – „South Africa Pushed to the Limit“ (Marais 2011) – kann als wichtigstes aktuelles Standardwerk einer gramscianisch inspirierten Konjunkturanalyse in diese Arbeit einfließen. In diesem Zusammenhang sei auch noch auf das Werk Bonds (z.B. Bond 2003c, 2004b, 2005) verwiesen, der in der Zeit des Umbruchs als ökonomischer Berater der Allianz um den ANC tätig war und nun als kritischer Intellektueller fungiert, der – mit ähnlichen theoretischen Grundlagen wie Marais – wichtige aktuelle Analysen liefert, aber dabei stärker auf Fundamentalkritik setzt als Marais. Im Gegensatz zu Bonds Kritik am Widerspruch linker Rhetorik und rechter Politik („Talk left, walk right“; Bond 2004b) thematisiert Marais (2011) die Widersprüchlichkeit progressiver Ansätze und neoliberaler Transformation. Er berücksichtigt wichtige Diskursstränge ebenso wie institutionelle Veränderungen in wichtigen Feldern gleichheitsorientierter Politik: Die Politische Ökonomie wird in ihrem wechselseitigen Verhältnis zu Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik und der Auswirkungen auf Armut und Ungleichheit erfasst. Zusätzlich liefert Marais auch sektorale Studien zum südafrikanischen System sozialer Sicherheit, der HIV-AIDS-Problematik, Gesundheits- und Bildungssystemen, den Debatten um den Entwicklungsstaat sowie zwischen Mbeki und Zuma. Besonderes Augenmerk gilt den Kräfteverhältnissen und ihren Auswirkungen auf politische Institutionen. Marais' Werk ist aufgrund des ähnlichen Zuschnitts und der hohen Qualität der Ausarbeitungen besonders anschlussfähig an die Methodologie dieser Arbeit und wird daher als wichtigstes Standardwerk einfließen.
Im Gegensatz zu Südafrika wird soziale Ungleichheit in viel zitierten brasilianischen Werken eher nicht explizit fokussiert, sondern fungiert als wichtiger Hintergrundfaktor: Beispielsweise in der dependenztheoretischen Literatur wird Ungleichheit bzw. „strukturelle Heterogenität“ als zentrales Entwicklungshemmnis betrachtet, wobei die Frage von wirtschaftlicher Entwicklung im Vordergrund bleibt (vgl. z.B.: Furtado 2003). Dieser implizite Fokus auf Ungleichheit gilt auch für wichtige Konjunkturanalysen – wie sie Fiori (1995) zur Krise des brasilianischen „Entwicklungsstaates“, Vianna (2006) zu den Regierungen Cardoso und Lula, oder Oliveira (2006a) zur Regierungsübernahme Lulas verfasst haben. Im Hinblick auf den Einfluss sozialer Kräfteverhältnisse auf die Institutionalisierung gleichheitsorientierter Politik sind diese Arbeiten jedoch sehr interessant. Einen ähnlichen Fokus verfolgen auch Novys regulationstheoretisch inspirierte Analyse der brasilianischen Entwicklung mit besonderem Fokus auf São Paulo (Novy 2001a) und Andersons Studie der Regierungszeit Lulas (Anderson 2011). Weitere interessante Arbeiten im Hinblick auf Fragen von Hegemonie existieren zur gesellschaftlichen Wahrnehmung von Ungleichheit in Brasilien (Scalon 2004a; Souza 2008).
Eine wichtige genuin brasilianische Strömung ist die geografische Betrachtung sozialer Ungleichheit, die Castro 1946 mit seinem Buch zur „Geografie des Hungers“ (Castro 2008) begründete und die aktuell im Rahmen groß angelegter Projekte zur Kartografierung sozialer Ungleichheit weiter verfolgt wird (vgl.: Campos et al. 2003; Guerra et al. 2007; Guerra et al. 2006; Pochmann et al. 2009; Pochmann et al. 2005; Pochmann et al. 2004). Die besondere Beachtung räumlicher Ungleichheiten in Brasilien ist insbesondere dadurch zu erklären, dass sowohl kleinals auch großräumliche Ungleichheiten stark ausgeprägt sind. Neben Ungleichheiten auf engstem urbanen Raum sind in Brasilien auch regionale Ungleichheiten sehr markant (vgl.: Novy 2001a; Santos und Silveira 2008) [2]. Beeinflusst durch die jeweils dominanten Industriezweige kam es im Laufe der kapitalistischen Entwicklung zu Auf- und Abstiegen bestimmter Regionen. Der anfangs zum Zweck des Zuckerrohranbaus kolonialisierte Nordosten erlebte mit dem Preisrückgang des Zuckers auf dem Weltmarkt wirtschaftlichen und sozialen Abstieg, der bis heute anhält (Furtado 1975; Oliveira 2008). Im Südosten – vor allem um São Paulo und Minas Gerais – entstanden die neuen dynamischen Zentren um Mineralienextraktion und Kaffee, die ihre wirtschaftliche Vormacht auch politisch umsetzten. In weiterer Folge entwickelte sich vor allem der Raum um São Paulo zur reichsten Region des Landes, während der Nordosten und der Norden die ärmsten Regionen sind. Auf die Bedeutung regionaler Ungleichheit wird zwar in weiterer Folge eingegangen, [3] der Fokus der Arbeit liegt jedoch auf (un-)gleichheitsorientierter Politik. Entsprechende Arbeiten werden im Anschluss im Rahmen einer Darstellung von Debatten erfasst, die als wichtiger Hintergrund für diese Arbeit betrachtet werden können.
- [1] Diese Differenz hängt nicht zuletzt mit der jeweiligen Position in einer der zentralen Debatten der Anti-Apartheidsbewegung: liberale vs. marxistische Kritik am ökonomischen Modell der Apartheid (Seekings und Nattrass 2005, S. 30f.; für die Darstellung der Debatte vgl. Wolpe 1990, S. 25ff.). Die eher der liberalen Seite zuordenbaren Seekings und v.a. Nattrass betonen die Dysfunktionalität des staatlichen Rassismus mit kapitalistischer Marktwirtschaft, da Konkurrenzverhältnisse empfindlich eingeschränkt würden. Die marxistische Analyse hingegen sieht den südafrikanischen Kapitalismus als „capitalism of a special type“: Rassismus ermöglicht die Überausbeutung der AfrikanerInnen durch Zahlung von weitaus niedrigeren Löhnen als es sonst üblich wäre und ist daher ein funktionales Element für die herrschenden Klassen.
- [2] So verwies auch Milko Matijascic, der brasilianische Leiter des von der UN und IPEA geführten International Poverty Centre (mittlerweile unbenannt in International Policy Centre for Inclusive Growth), im Interview (2008) auf die Wichtigkeit der regionalen Frage in Bezug auf Ungleichheiten in Brasilien: „Wer die regionalen Aspekte der Ungleichheit in Brasilien nicht erfasst, hat gar nichts begriffen“ (Matijascic, Interview 2008).
- [3] Auch in Südafrika haben räumliche Fragen große Bedeutung, die räumliche Segregierung der AfrikanerInnen als zentraler Maßnahme rassistischer Diskriminierung macht einen großen Unterschied zu Brasilien aus. Auch nach Apartheid bestehen die räumlich getrennten Townships weiter. Brasilianische Favelas sind im Gegensatz dazu in größerer Nähe von reicheren Gebieten situiert.