Debatten um soziale Ungleichheit in Brasilien und Südafrika

Der Großteil der Arbeiten, die sich mit sozialer Ungleichheit in Brasilien und Südafrika beschäftigen, fokussiert vordergründig auf Einkommensungleichheit bzw. die Entwicklung des Gini-Koeffizienten. Während in Brasilien die Daten des statistischen Zentralamts als zentrale Referenz für alle ForscherInnen betrachtet werden[1], sind die Daten des südafrikanischen Zentralamts stärkeren Zweifeln ausgesetzt. Studien der Einkommensungleichheit beziehen sich daher auf unterschiedliche Quellen, die dann Grund für kontroversielle Debatten liefern (vgl. z.B.: Van der Berg et al. 2007a vs. Meth 2008). [2] Trotz der erwähnten Messprobleme lässt sich im Hinblick auf die Einkommensungleichheit feststellen, dass beide untersuchten Länder weiterhin zu den ungleichsten Staaten der Welt gehören und, dass die Entwicklungsdynamik unterschiedlich ist. Während die Einkommensungleichheit in Brasilien während der letzten zehn Jahre – bei einem Sinken des Gini Koeffizienten von 0,594 im Jahr 1999 bis auf 0,543 im Jahr 2009 (ipeadata.gov.br) – schwach, aber kontinuierlich abnahm (vgl. Barros et al. 2007), stagniert sie in Südafrika seit dem Ende der Apartheid (Meth 2008; SSA 2002). Wird für Südafrika die Kategorie „Rasse“ besonders berücksichtigt, zeigt sich, dass „rassenspezifische“ (inter-racial) Ungleichheiten abnahmen, während Ungleichheiten innerhalb von „Rassengruppen“ (intra-racial) zunahmen (vgl. Leibbrandt et al. 2006). Letzterer Fakt weist auf den sozialen Aufstieg einer Gruppe von AfrikanerInnen („black bourgeoisie“; vgl. z.B.: Iheduru 2004) hin, die vom Wegfall der expliziten rassistischen Diskriminierung und der Einführung von Maßnahmen der Affirmative Action profitierte. In Brasilien hingegen nahmen „rassenspezifische“ Ungleichheiten zwar auch ab, jedoch in weitaus geringerem Ausmaß als in Südafrika (vgl.: Theodoro 2008).

Die Entwicklung von nicht-einkommensbasierter sozialer Ungleichheit ist weitaus komplexer zu analysieren als erstere. Eine genauere Analyse der entsprechenden Literatur würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Daher wird auf einige Eckpunkte verwiesen, um dann zu den in der Literatur genannten Gründen für die skizzierten Entwicklungen übergehen zu können. Die im Human Development Index (HDI) der UNDP erfassten Daten weisen auf gegenläufige Entwicklungen in den beiden Ländern hin. Während der HDI Brasiliens sich in den letzten zwanzig Jahren kontinuierlich verbesserte, war Südafrika eines von wenigen Ländern, in denen es zu Verschlechterungen kam (vgl. UNDP 2009, S. 168f.). Dieser im internationalen Vergleich ungewöhnliche Trend ist in erster Linie auf die Auswirkungen von HIV/Aids zurückzuführen (vgl. Preston-Whyte 2006), wodurch die Lebenserwartung stark sank. Trotz Verbesserungen des Alphabetisierungsgrades und des damit zusammenhängenden Education Index sowie insbesondere auch des Gender-Related Development Index (GDI), verschlechterte sich daher der HDI Südafrikas. [3]

Die für diese Arbeit interessanten Begründungen der eben beschriebenen Entwicklungen sind noch weitaus vielfältiger. Generell wird für beide Länder darauf hingewiesen, dass sich nach dem Ende der Diktaturen die Bereitstellung von grundlegender sozialpolitischer Infrastruktur (basic social services) verbessert habe, was – zumindest teilweise – auf Kosten von vormals privilegierten Gruppen ging (vgl. z.B.: IPEA 2009; Lund 2001). Außerdem wird auf die Auswirkungen der globalen ökonomischen Transformationen (bzw. des Neoliberalismus) auf die jeweiligen Arbeitsmärkte verwiesen: Während in Brasilien v.a. in den 1990er Jahren der informelle Sektor so stark anwuchs, dass mehr als 50% der arbeitenden Bevölkerung nicht formell beschäftigt waren (vgl. z.B. Soares 2005; Theodoro 2005), gilt in Südafrika die Arbeitslosigkeit[4] als eines der größten Probleme in Bezug auf den Arbeitsmarkt (vgl. z.B. Altman und Valodia 2006).

Dennoch wird in Südafrika in erster Linie das durch das Apartheid Regime kreierte Problem der rassistischen Diskriminierung am Arbeitsmarkt politisch adressiert. Dazu dient in erster Linie das wohl am meisten genannte Regierungsprogramm gleichheitsorientierter Politik Südafrikas – das im internationalen Vergleich wohl ambitionierteste Affirmative Action Programm[5] Broad-Based Black Economic Empowerment (BBBEE). [6] Ziel ist die Integration von AfrikanerInnen in den Arbeitsmarkt, insbesondere auch in höheren Positionen wie Middle Management, Management und auch als KapitalistInnen. Als wichtigstes Instrument dient dabei die „balanced scorecard“, auf der der nötige Anteil an afrikanischen MitarbeiterInnen in Privatfirmen verzeichnet werden muss, um Staatsaufträge lukrieren zu können. Während generell schleppende Fortschritte diagnostiziert werden, gehen die Meinungen dazu auseinander. Während einige auf die trickle down Strategie setzen und die positive Vorbildwirkung erfolgreicher AfrikanerInnen in den Vordergrund rücken (z.B. Jack und Harris 2007), wird die staatlich geförderte „Produktion“ einer black bourgeoisie mittels BBBEE als „Kooptation der schwarzen nationalen Elite in das ‚big business'“ (Mbeki 2010, S. 56) kritisiert (vgl. auch: Bond 2009; Mbeki 2009; für einen Überblick über die Debatte vgl.: Mangcu et al. 2007).

In Brasilien nimmt (wie schon in der Einleitung betont) die Debatte zu rassistischer Diskriminierung keinen vergleichbaren Stellenwert ein. Auch Affirmative Action ist daher eher ein Randthema, das jedoch im Zuge der ersten entsprechenden Maßnahmen – die Einführung von sozialen und/oder „rassen“-bezogenen Quoten an Universitäten (Feres Júnior und Zoninsein 2006) – kontrovers diskutiert wurde (z.B.: Arcary 2007; Maestri 2007). Politisch kommt dem Thema jedoch relativ geringe Bedeutung zu (Theodoro 2008). Dennoch ist es interessant, diesen Unterschieden im Untersuchungsteil nachzugehen. Außerdem berühren die kritischen Argumente zum BBBEE auch ein wichtiges Thema, das sowohl in Brasilien als auch in Südafrika diskutiert wird: ökonomische Umstrukturierungen und die Rolle von Staat und Zivilgesellschaft.

Insbesondere progressive AutorInnen üben Kritik an den neoliberalen Umstrukturierungen, die für die jeweiligen Phasen nach der Demokratisierung diagnostiziert werden (vgl. z.B.: Bond 2004b; Oliveira 2006b). Der renommierte brasilianische Intellektuelle Francisco de Oliveira geht diesbezüglich so weit, von „umgedrehter Hegemonie“ im Post-Apartheid-Südafrika sowie im von Lula regierten Brasilien zu sprechen: Gesellschaftliche Gruppen „von unten“ regierten ihm zu Folge im Interesse der Gruppen „von oben“ (vgl. Oliveira 2006c, S. 21f., 2009). Mit dieser provokativen Intervention trat er Debatten in Brasilien los, (1) wie die Regierung Lula in gramscianischen Termini zu kritisieren wäre (vgl. Oliveira et al. 2009) und (2) ob es sich um ein neoliberales oder ein sozialdemokratisches Projekt handle (vgl. z.B. Sader 2010; Vianna 2009).

(1) Oliveiras wichtigstes Argument betrifft die Stellung der vormals kritischen Akteure in Brasilien. Insbesondere dem progressiven Gewerkschaftsdachverband CUT attestiert er die Aufnahme an den Rand des Bereiches der Machtausübung, da die CUT nun für das Management von großen Pensionsfonds zuständig sei. Auch andere subalterne Akteure wie z.B. die zahlenmäßig größte soziale Bewegung Lateinamerikas, die Landlosenbewegung (MST), würden mittels staatlicher Investitionen an den Staatsapparat gebunden und somit in das Herrschaftsprojekt integriert. Das gelte auch in besonderem Ausmaß für die Ärmsten des Landes, die mittels des Einkommenstransferprogrammes Bolsa Família mit geringen Geldbeträgen befriedet werden, was Oliveira als Populismus und Assistenzialismus bezeichnet (Oliveira 2009). Mit diesen Argumenten übereinstimmend, bezeichnet Braga die Entwicklungen seit dem Amtsantritt Lulas als „passive Revolution“ (Braga 2009), während der Herausgeber der brasilianischen Edition der „Gefängnishefte“ (vgl. Gramsci 1999ff.), Coutinho (2009), von der „Hegemonie der kleinen Politik“ spricht: Durch technische Lösungen der Armutsbekämpfung, die er in Anlehnung an Gramsci als „kleine Politik“ bezeichnet, [7] werden Fragen der „großen“ Makro-Politik und in diesem Zusammenhang auch von größer angelegter Umverteilung systematisch ausgeschlossen. Für die eben zitierten Kritiker steht ebenso wie in vielen anderen Studien (z.B. Brandão et al. 2008; Hunter und Power 2007; Marques und Mendes 2005; Singer 2009) die Einführung bzw. Aufstockung der sozialen Einkommenstransfers in Brasilien in direktem Zusammenhang mit dem Machterhalt Lulas bzw. der Arbeiterpartei. In Bezug auf die vorher beschriebene sinkende Einkommensungleichheit wird dem Programm des Einkommenstransfers auch eine wichtige Rolle zugeschrieben (vgl. Hoffmann 2005a; Medeiros et al. 2007). Auch in internationalen Institutionen wie der Weltbank oder der UN wird Bolsa Família als „best practice“-Modell für erfolgreiche Armutsbekämpfung gepriesen (Lindert et al. 2007; Skoufias et al. 2009; vgl. auch: Yeates 2009). [8]

Die Diskussionen um die brasilianischen Einkommenstransfers sind auch im Hinblick auf gleichheitsorientierte Politik in Südafrika relevant. Einerseits handelt es sich in Form von nicht-beitragsabhängigen Sozialrenten um die ältesten sozialpolitischen Programme, die trotz Veränderungen bis in die heutige Zeit bestehen und einen großen Anteil der sozialpolitischen Ausgaben ausmachen (Pelham 2007; van der Berg 1994). Andererseits sind soziale Einkommenstransfers auch in den Forderungen sozialer Bewegungen und progressiver Organisationen stark präsent, die auf die Einführung eines „Basic Income Grant“ pochen (vgl. Barchiesi 2007a; Ferguson 2007). Als einendem Element für politische Alternativen in Form eines „Grundeinkommens“ sowie als traditionellem sozialpolitischen Instrument in Form von Sozialrenten kommt Einkommenstransfers daher auch in Südafrika eine wichtige Bedeutung zu. Daher handelt es sich um ein sehr interessantes Politikfeld für eine eingehendere Betrachtung im Untersuchungsteil.

(2) Die in Brasilien geführte Debatte zum ideologischen Charakter der Regierung Lula bezieht sich zentral auf die Bedeutung des Erbes der Vorgängerregierung Cardoso (1994-2002). Letztere wird meist als neoliberal oder „sozialliberal“ bezeichnet, da sie für das wohl umfassendste Programm der brasilianischen Geschichte von Privatisierung und Handelsliberalisierung verantwortlich war. Zentraler politischer Ansatzpunkt Cardosos war jedoch die Inflationsbekämpfung, die mittels überbewerteter Landeswährung und hohen staatlichen Stützzahlungen an ausländische Investoren sichergestellt wurde (näher dazu später bzw. bei: Fritz 2002). Universelle Sozialpolitik wurde zu Gunsten „treffsicherer“ Maßnahmen der Armutsbekämpfung zurückgeschraubt (Fagnani 2005). KritikerInnen (z.B.: Filgueiras und Gonçalves 2007; Paulani 2008) attestieren der Regierung Lula die direkte Fortsetzung des neoliberalen Kurses seines Vorgängers und verweisen in erster Linie auf die Fortsetzung der Hochzinspolitik und die Priorität der Bedienung des Schuldendienstes gegenüber sozialen Ausgaben. Andere AutorInnen kritisieren diese These der Kontinuität: Einerseits ließen sich nun eigenständigere Muster in der Außenpolitik erkennen (z.B. Schmalz 2008; Vigevani und Cepaluni 2007) und andererseits wird vor allem ab der zweite Amtszeit Lulas das Wiederaufkommen eines „Entwicklungsstaates“ und „links-republikanischer“ Traditionen betont (vgl. Novy 2008; Sader 2010; Vianna 2006, 2009), die eher für eine lateinamerikanische Tradition sozialdemokratischer Politik stehen.

Die Diskussion um die paradigmatische Einschätzung der Politik („neoliberal“ vs. „sozialdemokratisch“) wird auch in Südafrika in Bezug auf die PostApartheid Regierung geführt. KritikerInnen der Regierung verweisen auf den wirtschaftspolitischen Kurs, der insbesondere seit 1996 mit der Einführung des GEAR-Programmes („Growth, Employment and Redistribution“) verfolgt wird (vgl. z.B.: Bond 2004b) und sich durch die neoliberalen Prinzipien „fiskalische Disziplin“, Währungsstabilisierung und Handelsregulierung auszeichne. Andere AutorInnen kritisieren die Klassifizierung als „neoliberal“ im Hinblick darauf, dass über korporatistische Arrangements relativ großer Einfluss ausgeübt werden könne und, dass dem Zeitgeist der „Globalisierung“ entsprechend, Politik gemacht werde, die eher als sozialdemokratisch, denn als neoliberal bezeichnet werden könne (vgl. z.B. Freund 2004; Seekings und Nattrass 2005).

  • [1] Das bedeutet nicht, dass die Datenerhebung in Brasilien unproblematisch ist. Einer der renommiertesten Experten der Sozialstruktur, Quadros (2006b, S. 6; auch in einem Interview 2008) weist ebenso wie die interviewte Leiterin der empirischen Erhebungen im Statistischen Zentralamt, Pontes Vieira (Interview 2008), darauf hin, dass die reichsten BrasilianerInnen schon aufgrund der Methodik der Datenerhebung höchst unzureichend erfasst werden. Die durchgeführten Befragungen würden sie zwar theoretisch erfassen können, jedoch deklarieren die Reichsten normalerweise nicht ihr tatsächliches Einkommen.
  • [2] Besonderer Dank gilt an dieser Stelle der Armutsexpertin und Politikberaterin Frye, die in einem Interview (2009) nähere Hinweise zu dieser Problematik gab.
  • [3] Die Zusammensetzung des HDI kann an dieser Stelle nicht ausführlich diskutiert werden. Amartya Sens starke Fixierung auf Armut gilt in besonderem Ausmaß für den von ihm maßgeblich geprägten HDI. Interessanterweise kann am GDI gegenläufige Kritik geübt werden, da sich dieser Index in erster Linie an der politischen und wirtschaftlichen Präsenz von Frauen in TopPositionen orientiert und daher gerade ärmere Frauen nicht erfasst.
  • [4] Auch für die Arbeitslosigkeit werden von verschiedenen Stellen sehr unterschiedliche Werte angegeben, die zwischen 25% und über 40% ab 2000 schwanken. Manche AutorInnen machen dafür die strengen gesetzlichen Bestimmungen (mit-)verantwortlich, die das Wachstum des informellen Sektors einschränken (z.B.: Seekings und Nattrass 2005).
  • [5] Ähnlich ambitioniert waren Maßnahmen des Affirmative Action in Malaysia, die für Südafrikas BBBEE als wichtigste Referenzfolie dienten (vgl. Gqubule 2006).
  • [6] In der akademischen und nicht-akademischen Darstellung wird das Programm meist bloß als Black Economic Empowerment (BEE) bezeichnet.
  • [7] Gramsci bezieht sich in seinen Ausführungen zu Machiavelli auf „große Politik und kleine Politik. Die große Politik umfaßt die Fragen, die mit der Gründung neuer Staaten und mit dem Kampf um die Verteidigung und die Bewahrung einer bestimmten gesellschaftlich-politischen Struktur verbunden sind. Die kleine Politik die Teil- und Alltagsfragen, die sich innerhalb einer bereits etablierten Struktur für die Kämpfe um die Vormacht zwischen den verschiedenen Fraktionen ein und derselben politischen Klasse stellen. Es ist deshalb große Politik, zu versuchen, die große Politik aus dem staatlichen Leben auszuschließen und alles auf kleine Politik zu reduzieren. Dagegen ist es dilettantisch, die Fragen so zu stellen, daß jedes Element kleiner Politik nur eine Frage großer Politik, staatlicher Umorganisierung werden kann“ (Gramsci 1991ff., S. 972f.).
  • [8] Gleichzeitig wird dem Bolsa Família Programm aber die Rolle als Haupteinflussfaktor zur Reduktion der Einkommensungleichheit abgesprochen und ein Beitrag von ca. 1/3 diagnostiziert (vgl. Hoffmann 2005b). Es wird auch das Zusammenspiel mit sozialen Programmen des Einkommenstransfers betont, die schon länger in Kraft sind (Medeiros et al. 2008).
 
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