Multiple Ungleichheiten und ihre Artikulation

Im Anschluss werden Ungleichheitstheorien diskutiert, um die soziale Konstruktion gesellschaftlicher Ungleichheit besser nachvollziehen zu können. In Abgrenzung von der meritokratischen Ideologie[1] wird davon ausgegangen, dass Strukturen existieren, die die Reproduktion von Ungleichheiten erleichtern. Diese Strukturen zeigen differenzierte Auswirkungen auf unterschiedliche Personengruppen, die eingangs kurz skizziert werden. Auf dieser Grundlage wird dann auf unterschiedliche Mechanismen der (Re-)Produktion von Ungleichheiten eingegangen, um daran anschließend mögliche Gegenmittel zu skizzieren.

Traditionelle Ungleichheitsforschung: Klasse/Schicht/Milieu

Die Frage der relevanten Kategorie zur Erfassung sozialer Ungleichheit bzw. auch der zugrunde gelegten Klassifizierungsschemata ist eine der zentrale Problemstellungen in der Debatte, die lange um den Klassenbegriff kreiste. Dieser wurde im Rahmen des bürgerlich-liberalen Kampfs gegen Adel und Klerus in Stellung gebracht, wie insbesondere Adam Smith's Hauptwerk zum „Wohlstand der Nationen“ (Smith 2003) zeigt, das gegen die Klasse der Grundeigentümer gerichtet, Partei für die Bourgeoisie ergreift. Später übernahm Marx diesen Klassenbegriff und trat für das von Smith eher bemitleidete Proletariat als Klasse ein, die nur ihre Ketten zu sprengen habe, um die Macht zu erlangen (Marx und Engels 1986). Oft wird Marx' Klassenbegriff darauf reduziert, die ausbeutende kapitalistische Klasse der lohnabhängigen und ausgebeuteten Klasse des Proletariats entgegenzustellen (vgl. z.B. Burzan 2007, S. 17). Diese Lesart schließt an die Darstellung im “Kapital” (Marx 1986) an, wo dieses Verhältnis und die damit in Verbindung stehende Ausbeutung auf theoretisch-abstraktem Niveau (im Rahmen einer Analyse der kapitalistischen Produktionsweise „in ihrem idealen Durchschnitt“, vgl.:MEW 25: 839) erarbeitet wird. Demnach kann der „doppelt freie Lohnarbeiter“ seine Arbeitskraft zwar frei auf dem Markt verkaufen und also frei von den vormals existierenden feudalen Abhängigkeitsverhältnissen sein. Jedoch ist er auch gleichzeitig „frei“ vom Besitz von Produktionsmitteln und muss somit seine Arbeitskraft dem Besitzer dieser Produktionsmittel verkaufen. Dieses Klassenmodell hat Vorzüge, da hier der Ungleichheits-generierende Mechanismus der Ausbeutung herausgearbeitet wurde, der der Gewinnung von Mehrwert zugrunde liegt (Marx 1986, S. 192ff.). Dabei zeigt Marx mit Hilfe der Werttheorie, dass der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft höher als ihr (in Form von Lohn ausbezahlter) Tauschwert ist. Die Differenz bezeichnet er als Mehrwert und den zugrunde liegenden Mechanismus als Ausbeutung (vgl. Heinrich 2004, S. 78ff.; Sweezy 1959, S. 42ff.).

Diese Lesart wurde aber oftmals aufgrund der zu simplen Dichotomie zwischen Kapitalisten und Proletariern kritisiert, da die reale Ausdifferenzierung der Gesellschaft diesen einfachen Rahmen sprenge. Diesbezüglich interessant ist, dass die handlungsorientierte Klassentheorie, die Marx vor allem im „18. Brumaire“ (Marx 1965) entwickelte, von den erwähnten KritikerInnen nicht rezipiert wurde. Die Darstellung geht hier weit über die dichotome Gegenüberstellung zweier Klassen hinaus und definiert eine Vielzahl handelnder Klassen (vgl.: Bischoff et al. 2002, S. 21ff.). Das berühmteste Beispiel ist diesbezüglich wohl die Darstellung der Parzellenbauern (vgl. dazu z.B. Kreckel 2004, S. 147; Spivak 2008, S. 31). Hier definiert Marx Klasse im Hinblick auf ökonomische Existenzbedingungen, „die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung, von denen der andern Klassen trennen“ (MEW 8: 198), was dazu führt, dass die individualisiert lebenden Parzellenbauern unfähig sind, „ihr Klasseninteresse im eigenen Namen, sei es durch ein Parlament, sei es durch einen Konvent geltend zu machen. Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden“ (ebd.).

Im deutschsprachigen Raum herrscht eine stark ablehnende Haltung gegenüber der Kategorie „Klasse“, da diese als zu reduktionistisch (ausschließlich auf das Zwei-Klassen-Modell bezogen) kritisiert wird. Die wichtigste alternative Konzeption stellt das Schichtmodell Theodor Geigers dar, der Gruppen von Personen als Schicht definiert, „die irgendein erkennbares Merkmal gemein haben und als Träger dieses Merkmals einen gewissen Status in der Gesellschaft und im Verhältnis zu anderen Schichten einnehmen. Der Begriff des Status umfasst Lebensstandard, Chancen und Risiken, Glücksmöglichkeiten, aber auch Privilegien und Diskriminationen, Rang und öffentliches Ansehen“ (Geiger, zitiert nach: Burzan 2007, S. 26). Klassen werden hier nur als eine mögliche Ausprägung von Schichten verstanden, die als analytische Oberkategorie gelten könnten und sich insbesondere aufgrund verschiedener Einstellungen darstellen lassen. In diese Richtung argumentieren auch andere Theoretiker wie z.B. Stefan Hradil (1987) oder Michael Vester (Vester et al. 1993), die davon ausgehen, dass die Sozialstruktur durch soziale Milieus und nicht mehr durch Klassen oder Schichten gekennzeichnet sei. In Bezug auf das Zugehörigkeitsgefühl von Menschen zu sozialen Gruppen und damit in weiterer Folge zur Analyse von politischen Mobilisierungsmöglichkeiten sind diese Zugänge von großer Bedeutung. Sie vernachlässigen jedoch Prozesse der Ausbeutung, wie sie in der marxistischen Klassenanalyse prominent sind.

  • [1] Die Meritokratie benennt eine Ideologie, nach der das Lebensschicksal der Menschen nicht mehr bloß durch Geburt, sondern aufgrund von individuellen Arbeitsleistungen bestimmt wird. Meritokratie ist eine der wichtigsten legitimatorischen Ideologien sozialer Ungleichheit, die besonders in den Ländern des kapitalistischen Zentrums, aber auch in der (Semi-)Peripherie wirkt. Die „meritokratische Triade“ besteht aus Bildung, Beruf und Einkommen (Kreckel 2004, S. 97). Leistung drückt sich also durch Bildung/Qualifikation, die dadurch und durch Fleiß ermöglichte berufliche Stellung und in weiterer Folge das dadurch verdiente Einkommen aus.
 
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