Die Rolle von Polizei und Justiz

Neben dem Verfassungsschutz offenbarten auch die Polizeiund Justizbehörden sowohl bei der Suche nach der NSU-Terrorgruppe als auch bei den Ermittlungen zu den Mordfällen und den Anschlägen schwere Fehler. Von Beginn der Ermittlungen in der Česká-Mordserie und auch bei den Sprengstoffanschlägen in Köln konzentrierte sich die Polizei stets auf das enge Umfeld der Opfer, ihre Familien und Freunde. Überwiegend vermuteten die Kriminalbeamtinnen und Kriminalbeamten eine Verbindung zur organisierten Kriminalität: Nichts lag für die Ermittler näher als Drogenkriminalität in den Niederlanden, Verbindungen zur kurdischen Arbeiterpartei PKK und Racheakte im Rotlichtmilieu. Das private Umfeld der Opfer wurde intensiv untersucht, Bankverbindungen ausgewertet, über Familienstreitigkeiten und Eifersucht spekuliert. Über Jahre ermittelten die Behörden in die falsche Richtung, obwohl es keine wirklichen Anhaltspunkte für organisierte Kriminalität oder Beziehungstaten gab. Mit aller Kraft wollte man den kriminellen Hintergrund der Taten im meist türkischen Opferumfeld finden. Doch die Ermittlungen führten durchweg in die Sackgasse. Ein rassistisches Tatmotiv wurde indes nie ernsthaft in Betracht gezogen. Ein großer Fehler, wie sich im Nachhinein herausstellte.

Ein weiterer Punkt bei der Ermittlungsarbeit macht sprachlos. Die Polizistinnen und Polizisten haben in nicht wenigen Fällen den ohnehin trauernden und teils traumatisierten Familienangehörigen weiteres Leid zugefügt. Falsche Anschuldigungen, erfundene Geschichten und unverhältnismäßige Überwachungsmaßnahmen mussten die Familien und Freunde der Getöteten über sich ergehen lassen. Angehörige der Opfer haben berichtet, dass sie von der Polizei jahrelang üblen Verdächtigungen ausgesetzt wurden. Treffend bezeichnete es Semiya Şimşek auf der zentralen Gedenkveranstaltung für die Opfer der rechtsextremen Gewalt in Berlin: "Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein" (Konzerthaus am Gendarmenmarkt, 23. Februar 2012). [1]

Kaum verwertbare Tatortspuren und unzureichende Ermittlungsergebnisse hätten eine umfassende Überprüfung und Neujustierung der Ermittlungsarbeit notwendig gemacht. Diese Chance wurde vertan. Widerstände in Polizei und Justiz verhinderten jedoch die erforderlichen Neubewertungen der Gesamtlage, obwohl die Spuren zur organisierten Kriminalität und in das private Umfeld ergebnislos ausermittelt waren.

Nun wirft der Untersuchungsausschuss weder den Polizeinoch den Justizbehörden in Deutschland vor, auf dem rechten Auge blind zu sein oder gar offen mit rechtsextremem Gedankengut zu sympathisieren. Alle Beteiligten und Verantwortlichen haben ihre Arbeit gemacht – allerdings ohne die Motive ihres Handelns ernsthaft zu hinterfragen. Somit hat sich deutlich gezeigt, dass es routinisierte, teilweise auch rassistische Verdachtsund Vorurteilsstrukturen in den Sicherheitsbehörden gibt. Die falsche Schwerpunktsetzung der Ermittlungen, Namensgebungen wie "BAO Bosporus" oder "Soko Halbmond" oder auch Klischees und falsche Verdächtigungen bestätigen dies in erschreckender Weise.

Diese institutionellen Prozesse von Diskriminierung haben unter anderem zu einer schematischen Zuordnung von bestimmten ethnischen Personengruppen und Milieus zu Straffälligkeit geführt oder zumindest wurden sie mit Delinquenz in Verbindung gebracht. Diese Vorurteilsstrukturen, die sich in Routinen der Ungleichbehandlung von Minderheiten niederschlugen, zeigen, dass es sich nicht um das Fehlverhalten einzelner Beamter gehandelt hat. Vielmehr war dieses Fehlverhalten strukturell bedingt. Rassismus darf nicht verleugnet werden, es muss als strukturelles Problem im institutionellen Kontext anerkannt werden.

Unsere moderne, heterogene und pluralistische Einwanderungsgesellschaft in Deutschland ist nicht vereinbar mit Diskriminierungsstrukturen, weder in der Gesellschaft und noch weniger in den Sicherheitsbehörden. Der NSU-Untersuchungsausschuss hat aus diesem Grund wichtige gemeinsame Empfehlungen für Maßnahmen vorgeschlagen, um Vorurteile zu bekämpfen. Eine besonders wichtige Empfehlung des Ausschusses ist Empfehlung Nr. 1:

In allen Fällen von Gewaltkriminalität, die wegen der Person des Opfers einen rassistisch oder anderweitig politisch motivierten Hintergrund haben könnten, muss dieser eingehend geprüft und diese Prüfung an geeigneter Stelle nachvollziehbar dokumentiert werden, wenn sich nicht aus Zeugenaussagen, Tatortspuren und ersten Ermittlungen ein hinreichend konkreter Tatverdacht in eine andere Richtung ergibt. Ein vom Opfer oder Zeugen angegebenes Motiv für die Tat muss von der Polizei beziehungsweise der Staatsanwaltschaft verpflichtend aufgenommen und angemessen berücksichtigt werden. Es sollte beispielsweise auch immer geprüft werden, ob es sinnvoll ist, den polizeilichen Staatsschutz zu beteiligen und Informationen bei Verfassungsschutzbehörden anzufragen. Dies sollte in die Richtlinien für das Strafund das Bußgeldverfahren (RiStBV) sowie in die einschlägigen polizeilichen Dienstvorschriften aufgenommen werden.

Der Gesetzentwurf von Bundesjustizminister Heiko Maas, der die Umsetzung einiger Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses beinhaltet, wurde in 2./3. Lesung am 19. Mai 2015 im Deutschen Bundestag beschlossen. So sollen künftig rassistische und menschenverachtende Motive der Täterinnen und Täter bei der Strafzumessung stärker berücksichtigt werden. Dies soll auch dazu beitragen, dass die Staatsanwaltschaften schon bei den Ermittlungen darauf achten, ob die Taten rassistische Hintergründe haben.

Es ist notwendig, eine neue Arbeitskultur in den Behörden zu etablieren, zu der auch Diskursund Kritikfähigkeit gehören. Ausbildungsinhalte müssen auch die Reflexion, Bewertung und das Überdenken der eigenen Arbeit sein. Denn ein konstruktiver Umgang mit Fehlern gehört ebenfalls zur Basis guter Arbeit von Polizei und Justiz.

Zudem ist es nach dem zu kritisierenden Umgang mit den Angehörigen der ermordeten und verletzten Opfer des NSU von herausgehobener Bedeutung, dass Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte künftig besser für den Umgang mit Opfern von Straftaten und ihnen nahestehenden Menschen geschult werden. Wir brauchen "Familienverbindungsbeamte", die auch und insbesondere mit Blick auf interkulturelle Aspekte eine sensible und angemessene Kommunikation gewährleisten. Außerdem wäre es sehr sinnvoll, wenn es in allen Bundesländern und auf der Bundesebene unabhängige Beschwerdestellen gäbe, an die sich Opfer wenden können. Das würde die Arbeit der Polizei stärken und unterstützen.

Wir leben in einer freien, offenen und vielfältigen Gesellschaft. Diese Vielfalt muss sich auch in der Polizei widerspiegeln. Sowohl die kulturelle Vielfalt als auch die verschiedenen Bevölkerungsgruppen sollten sich im Mitarbeiterstab der Polizeibehörden wiederfinden. Es bedarf daher einer gezielten Steigerung der Diversität bei der Polizei.

Menschenrechtsbildung muss zum Bestandteil der Ausund Fortbildung werden. Eine wichtige Rolle dabei sollten die diskriminierungsfreie Polizeiarbeit und die Auseinandersetzung mit Rassismus spielen. Interkulturelle Kompetenz ist in diesem Zusammenhang unerlässlich.

Gleichsam sollte eine bessere Ausbildung zu rassistisch motivierter Gewalt etabliert werden. Wir brauchen grundsätzlich in Polizei und Justiz mehr Wissen über Strategien des Rechtsextremismus. Dazu zählen wir auch geeignete Fortbildungen für Richter, Staatsanwälte und Justizvollzugsbeamte zum Rechtsextremismus. Die Erkenntnisse über national und international agierende rechtsextreme Netzwerke müssen verbessert werden – unter verstärkter Einbeziehung von Wissenschaft und Zivilgesellschaft.

Die amtliche Statistik bildet das Ausmaß rechtsextremer und rassistischer Gewalttaten überdies nicht vollständig ab. Die geringen amtlich erfassten Todesopferzahlen werden von den Opferberatungsstellen als deutlich zu niedrig bewertet. Das Dunkelfeld rechtsextremer und rassistischer Straftaten muss durch Forschung aufgehellt werden.

  • [1] Die Ansprache ist auf den Internetseiten des Bundespräsidenten dokumentiert: https://bundespraesident.de/SharedDocs/Downloads/DE/Reden/2012/02/120223-Ansprache-Simsek.pdf?__ blob=publicationFile , abgerufen am 25. 8. 2014.
 
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