Finanzsoziologie
Der österreichische Sozialdemokrat Rudolph Goldscheid gilt als einer der Gründer der Finanzsoziologie[1], die sich mit Staatsfinanzen beschäftigt. Ihm zu Folge ist das Staatsbudget „das aller täuschenden Ideologien rücksichtslos entkleidete Gerippe des Staates. Der Staat kann nicht wesentlich anders sein wie sein Haushalt“ (Goldscheid 1976a, S. 188). [2]
Goldscheid behandelte die Steuern aus einem anderen Blickwinkel als Schumpeter (1976). Schumpeter sowie spätere implizit und explizit auf Schumpeter rekurrierende Zugänge (wie z.B.: Moore 2004; Schlichte 2005) stellen in erster Linie auf die Notwendigkeit eines Fundaments von Steuern ab, um zivilgesellschaftlichen Druck auf die Erfüllung öffentlicher Aufgaben herzustellen. Schumpeter (1976, S. 333ff.) zeigt in seinen historischen Ausführungen, dass der „Steuerstaat“ aus der Notwendigkeit höherer Einnahmen der Fürsten für die Kriegsführung entstand. Die Steuereintreibung führte in weiterer Folge dazu, dass die wohlhabenden Bürger, die Steuern zahlten, auch Rechenschaft verlangten. Die Losung „no taxation without representation“ war die Folge und ermöglichte die Entstehung des öffentlichen Charakters des Staates.
Neo-schumpeterianisch argumentierende AutorInnen wie z.B. Moore (2004, S. 299) gehen in weiterer Folge davon aus, dass es starke Synergien zwischen (1) dem Grad der Abhängigkeit der Herrschenden von Steuereinkünften, (2) dem Aufkommen repräsentativer Demokratie und (3) der Stärke des Staats in der internationalen Staatenkonkurrenz gibt. Staaten in der Peripherie zeichnen sich hingegen oft durch geringe Steuerbasis und überwiegend Renteneinkünfte aus, was ihre Notwendigkeit, Rechenschaft abzulegen entscheidend einschränke (vgl. auch: Schlichte 2005). [3] Außerdem wird betont, dass es eine gewisse Form von Zustimmung bei der Steuereintreibung geben muss, da die Anwendung von Gewalt mit hohen Kosten verbunden ist (Moore 2004, S. 300). Das gilt insbesondere für Einkommenssteuern, wobei hier ein Konsens mit den reichsten BürgerInnen hergestellt werden muss, da diese den größten Teil der „Steuerlast“ zu tragen haben (Levi 1989). Insgesamt gilt in dieser Lesart die Entstehung eines Steuerstaats und in weiterer Folge eines Fiskalstaats als idealtypisch für gelingende Entwicklung.
Goldscheid kritisierte dem gegenüber die Abhängigkeit von Steuereinnahmen, da somit gleichzeitig eine Abhängigkeit von der ökonomischen Konjunktur bestehe. Noch schärfer kritisierte Goldscheid die Staatsverschuldung, da sich die staatliche Abhängigkeit von Kapitalinteressen in dem Maße vergrößert, in dem die Interessen der GläubigerInnen bedient werden müssten. Zusätzlich finde durch Zahlung von Zins und Zinseszins eine gesellschaftliche Umverteilung zugunsten der KapitalbesitzerInnen statt. In diesem Sinne führt die Abhängigkeit von Steuereinnahmen[4] auch zur Abhängigkeit von der Aufrechterhaltung der Profitrate und in weiterer Folge des gesellschaftlichen Reichtums. „Den Armen kann nur geholfen werden, wenn es möglichst viele Reiche gibt, das war bisher das Grundgesetz der geltenden Wirtschaftslehre“ (Goldscheid 1976b, S. 295). Dieser Grundsatz wird, Goldscheid folgend, durch die Abhängigkeit von den reichen SteuerzahlerInnen gestärkt und durch die Verschuldung bei diesen Gruppen noch weiter potenziert.
Goldscheid thematisiert dabei in erster Linie die Frage der staatlichen Einnahmen. Eine in der Budgetanalyse häufiger behandelte Thematik betrifft dem gegenüber die Staatsausgaben (z.B.: Martinez-Vazquez 2007; Smeeding 2005). In diesem Zusammenhang werden Relationen zwischen verschiedenen Gruppen von Staatsausgaben dargestellt, um in weiterer Folge die finanziellen staatlichen Prioritäten festzustellen. Als wichtigste Mittel gegen soziale Ungleichheit werden dabei entweder Ausgaben für Sozialpolitik – in mehr oder weniger umfassender Form, was die Zusammensetzung betrifft oder manchmal auch anhand spezifischer Politikfelder – oder neuerdings vor allem gezielte Maßnahmen zur Armutsbekämpfung begriffen. Diese Ausgaben werden in weiterer Folge den Gesamtausgaben und/ oder weiteren Ausgabebereichen wie z.B. dem Militärbudget gegenüber gestellt und/oder mit den Ausgaben anderer Staaten verglichen.
- [1] In den 1970er Jahren waren es vor allem die Arbeiten von James O'Connor (O'Connor 1974), die der Finanzsoziologie Goldscheids wieder zu Bedeutung verhalfen. Krätke entwickelte das Konzept weiter zu einer „politischen Ökonomie des Steuerstaats“ (Krätke 1984) – ein Feld das heute mit Ausnahme von Gender Budgeting (vgl. Beigewum 2002; Judd 2002) wenig beachtet wird (aktuelle Ausnahmen: Bräutigam et al. 2008; Campbell 1993; Peukert 2010; Stützle 2008).
- [2] Schumpeter kritisierte, honorierte aber auch explizit die Arbeit Goldscheids: „Goldscheids Verdienst wird es immer bleiben, dass er als Erster den gebührenden Nachdruck auf diese Betrachtungen der Finanzgeschichte lenkte, dass er weiten Kreisen die Wahrheit verkündete, dass das Budget das ‚aller täuschenden Ideologien entkleidete Gerippe' des Staates ist – ein Gemenge harter, nackter Tatsachen, die erst noch in den Bereich der Soziologie gezogen werden müssen“ (Schumpeter 1976, S. 331).
- [3] Schlichte beruft sich auf den politischen Druck, den SteuerzahlerInnen auf PolitikerInnen ausüben können. Frei nach dem Motto der bürgerlich-liberalen Bewegung Großbritanniens „no taxation without representation“ wird argumentiert, dass es bei fehlender Steuerabhängigkeit Probleme mit Accountability gibt (vgl. auch: Moore 2004).
- [4] Goldscheids Gegenkonzept (Goldscheid 1976b, S. 309ff.) zum „Steuerstaat“ ist eine „Vermögensabgabe in natura“, womit er einen einmaligen Akt der staatlichen Aneignung großer Privatvermögen bezeichnet. Eine weitreichendere Diskussion dieses Konzepts würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen.