Staat, politische Ökonomie und Kräfteverhältnisse
Wie im vorhergehenden Kapitel aufgezeigt wurde, weisen die gängigen Ungleichheitstheorien Schwächen im Umgang mit Herrschaftsstrukturen auf, da die gesellschaftliche Einbettung sozialer Ungleichheit in Unterdrückungsstrukturen oft de-thematisiert wird. Das wirkt sich in weiterer Folge besonders auf die hier verfolgte Fragestellung nach gleichheitsorientierter Politik aus. Analog zum technizistischen Verständnis der Interventionsmöglichkeiten des Wohlfahrtsstaates während der keynesianisch geprägten 1970er, das von Altvater, Müller, Neusüß u.a. (vgl.: Müller und Neusüss 1971) als „Sozialstaatsillusion“ kritisiert wurde, beziehen sich auch aktuelle Debatten um Policies und Governance kaum auf gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen. Stattdessen wird in der Debatte von der Steuerungsfähigkeit politischer Interventionen ausgegangen, die zum Wohle aller „soziale Kohäsion“, „Wirtschaftswachstum“, u.ä. fördern sollen. Anders als in den 1970ern wird dabei jedoch nicht mehr von staatlicher Allmacht ausgegangen und der Staat stattdessen als primus inter pares, als ein Akteur neben Zivilgesellschaft und Wirtschaft, dargestellt (Leubolt 2007a). Die Sichtweise des Staates als „neutralen Schiedsrichters“ bzw. einer „gegenüber den Widersprüchen in der Gesellschaft mehr oder weniger selbständigen Institution“ (Müller und Neusüss 1971, S. 7) änderte sich also seit damals kaum. Hinzu kommt jedoch heute trotz des Diktums der Möglichkeit von „Steuerung“ (Mayntz 2005) eine Debatte um den Bedeutungsverlust des Nationalstaates.
Im Zuge der Debatte um „Globalisierung“ wurde vielfach thematisiert, dass politische Handlungsspielräume durch den in den 1980er Jahren einsetzenden Globalisierungsprozess eingeschränkt würden: Dadurch entstehende „Sachzwänge“ (Altvater und Mahnkopf 2002) verunmöglichten keynesianische bzw. sozialdemokratische Politik und führten in weiterer Folge zu einer globalen Konvergenz von neoliberaler Politik. Diese Darstellung wird von verschiedenen Seiten kritisiert. In der Debatte um „Varieties of Capitalism“ wird aufgezeigt, dass national eingeschlagene Pfade wirkungsmächtig bleiben und die Konvergenz zum Neoliberalismus daher kein globales Phänomen ist (Hall und Soskice 2001). [1] Außerdem kritisieren VertreterInnen materialistischer Staatstheorie (z.B.: Brand 2006; Hirsch et al. 2001), dass der Bedeutungsverlust des Nationalstaats nicht so groß war, wie im Rahmen der Globalisierungsdebatte vielfach postuliert wurde. Es könne eher eine Umstrukturierung denn der Bedeutungsverlust von Nationalstaaten festgestellt werden, wobei manche politische Entscheidungen auf supraoder internationale Ebene gehoben wurden. [2] In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass nationale Souveränität bzw. Autonomie auch in den „goldenen Jahren des Fordismus“ für die viele Staaten nur eingeschränkt Realität war. Vielmehr tendiert kapitalistische Entwicklung zur globalen Ausbreitung von Märkten zum Weltmarkt und in weiterer Folge zum „kapitalistischen Weltsystem“, wie z.B. Wallerstein (1979) anmerkt. Aufgrund dieses vereinheitlichenden Modus der Vergesellschaftung diagnostizieren Peck und Theodore (2007; in kritischer Abgrenzung zum „Varieties of Capitalism Approach“) einen globalen „Variegated Capitalism“. Damit werden sowohl globale Trends als auch regionale, nationale und lokale Unterschiede erfasst.
Trotz der Kritik am „methodologischen Nationalismus“, wie sie im Zuge der dargestellten Debatten um „Globalisierung“ aufkam, wird in dieser Arbeit also davon ausgegangen, dass Staaten ihre Macht nicht vollständig eingebüßt haben. Die vorher beschriebenen verschiedenartigen Einflüsse führten vielmehr zu einer verstärkten Internationalisierung der Staaten (Brand 2007). In dieser Perspektive wird davon ausgegangen, dass die Betrachtung staatlicher Prozesse durch die Auswirkungen der Globalisierung nicht obsolet wurde, internationale (aber auch regionale und lokale) Einflüsse jedoch an Bedeutung gewonnen haben. Die Bedeutung des Staates als zentrale regulierende Instanz besteht jedoch trotz dieser Einflüsse weiter und wird teilweise dadurch auch gestärkt. Die Überführung internationaler Standards in verbindliche Regelungen führt z.B. meistens über nationales Recht, ebenso wie die Implementierung von spezifischen Policies, um internationale Forderungen erfüllen zu können. [3] Der Staat wird in diesem Zusammenhang sowohl von internen wie auch von externen Interessen als Vehikel zur Durchsetzung ihrer Interessen betrachtet.
Da diese Debatten gewissermaßen einen „Rahmen“ für die hier verfolgte Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen reformistischer Politik darstellen, werden im folgenden Kapitel staatstheoretische Grundlagen erarbeitet. Dabei kann auf zahlreiche eigene und fremde Vorarbeiten zurückgegriffen werden. Im deutschsprachigen Raum erlebte Staatstheorie ein revival, insbesondere um die Theorien von Gramsci (1991ff.), Poulantzas (2002) und den Debatten um Staatsableitung und Regulationstheorie (für einen Überblick, vgl.: Brand und Raza 2003; Bretthauer et al. 2006; Buckel und Fischer-Lescano 2007; Demirovic et al. 1992; Hirsch et al. 2008; Wissel und Wöhl 2008). Diese Ansätze dienen gewissermaßen als Grundlage für den strategisch-relationalen Zugang Jessops (Jessop 2007a). Der hier angestrebte Zugang beruft sich zentral auf diese Debatten, die jedoch nicht in ihrer vollen Breite erfasst werden können. Nicht zuletzt unter Rückgriff auf eigene alleine oder auch kollektiv verfasste Vorarbeiten[4] soll hier ein staatstheoretisch unterfütterter Zugang als methodologische Grundlage zur Untersuchung dienen.
Eine zentrale Referenz ist Max Weber, dessen Konzeption des Staates gut für die Analyse der Durchsetzung von Rechtstaatlichkeit geeignet ist. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Frage nach dem staatlichen Gewaltmonopol und inwiefern es tatsächlich in einer Gesellschaft durchgesetzt werden kann. Das betrifft Fragen nach polizeilicher Gewalt ebenso sehr wie die Frage des Klientelismus bzw. Patrimonialismus oder die Frage nach realer staatlicher Steuerhoheit. Die Theorie Webers wurde schon vielfach auf die Peripherie angewandt. Das gilt insbesondere für den Patrimonialismus, der in der Literatur manchmal auch als prebendalism bezeichnet wird (Joseph 1987) und für Brasilien als hochgradig relevant gilt (vgl. v.a.: Faoro 2001). In diesem Zusammenhang wird argumentiert, dass staatliches Handeln nicht oder kaum verrechtlicht, sondern eher personalistisch bzw. klientelistisch abläuft. Somit kann weberianische Theorie für die vorliegende Arbeit wichtige Felder abdecken und dafür auch angewandt werden. Gleichzeitig herrscht bei Weber und weberianisch argumentierenden AutorInnen oftmals eine Tendenz zur Idealisierung des Staates als „neutralen Schiedsrichters“ gesellschaftlicher Auseinandersetzungen vor. Die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit sowie der Herstellung eines gesellschaftlichen Konsenses sind für WeberianerInnen unhinterfragte Grundwerte. In wie fern diese Prinzipien auch Ungleichheitsstrukturen perpetuieren kann mit diesen Zugängen jedoch nur schwer bis gar nicht hinterfragt werden. Diese Fragen werden daher in weiterer Folge mit Hilfe polit-ökonomischer Zugänge noch näher behandelt. Dabei wird einerseits der Staat eingebettet in die politische Ökonomie verstanden, was mit Hilfe der Regulationstheorie bearbeitet wird. Andererseits wird auch anderen
– in erster Linie kulturellen – Einflussfaktoren mit Hilfe der Hegemonietheorie in der Nachfolge von Antonio Gramsci nachgegangen. Zum Abschluss werden die in erster Linie in Bezug auf Europa entwickelten Theorien – unter Rückgriff auf die Dependenztheorie – im Hinblick auf ihre Eignung zur Analyse (semi-)peripherer Gesellschaften überarbeitet.
- [1] Für eine diskursanalytische Arbeit zum institutionellen Zusammenspiel von pfadabhängiger nationaler Entwicklung und globaler Konvergenz vgl.: Scherrer 2001.
- [2] Brand prägte in diesem Zusammenhang in Anlehnung an Poulantzas Konzept des Staates als „materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen“ den Begriff der „Verdichtung zweiter Ordnung“ (Brand et al. 2007).
- [3] Besonders deutlich wurde das im Fall Jugoslawiens, wo die Weltbank die Re-Zentralisierung der Fiskalpolitik von der regionalen auf die nationalstaatliche Ebene zur Bedingung der Kreditvergabe machte (Weißenbacher 2005). Nicht zuletzt der ideologische Wandel von Washington Consensus zum Post-Washington Consensus und die damit einhergehende Betonung der Wichtigkeit „guter“ staatlicher Institutionen (World Bank 1997, 2002; vgl.: Jomo und Fine 2006) ist ein deutliches Indiz für die Wahrnehmung der Bedeutung des Staates seitens internationaler Organisationen, die ihm scheinbar den Rang abgelaufen hatten.
- [4] Diese Arbeiten suchten schon danach, die erwähnten staatstheoretischen Zugänge empirisch anzuwenden; vgl.: Leubolt 2004, 2006, 2007b, 2007c, 2007a, 2009a, 2009c. Auch einige kollektiv mit KollegInnen verfasste Beiträge verfolgten ein ähnliches Ziel; vgl.: Auinger et al. 2005; Faschingeder et al. 2005; Leubolt und Auinger 2006; Leubolt et al. 2005; Leubolt et al. 2008; Leubolt et al. 2009; Leubolt und Tittor 2008, 2009; Novy et al. 2009, 2010; Novy und Leubolt 2005, 2009.