Dependenz, strukturelle Heterogenität und Artikulation
Nur wenige regulationstheoretische Arbeiten beziehen sich explizit auf (semi-) periphere Gesellschaften. Ausnahmen (z.B.: Alnasseri 2004; Becker 2002) beziehen andere Theorien mit ein. Zurückgreifend auf die Dependenztheorie definiert Becker (2008b, S. 12ff.) die Außenabhängigkeit (Extraversion) als wichtiges Kriterium der Analyse peripherer Gesellschaften. Er unterscheidet zwischen aktiver und passiver Extraversion, wobei aktive Extraversion auf die Generierung von Exportüberschüssen hinausläuft, während bei passiver Extraversion die Abhängigkeit von importierten Gütern hinzukommt. Die daraus resultierenden Handelsbilanzdefizite machen Devisenimporte notwendig, um die Auslandsforderungen decken zu können und in letzter Folge keine negative Leistungsbilanz saldieren zu müssen. Oft wurde versucht, mittels Aufnahme von Auslandskrediten die ungünstige Entwicklung der Leistungsbilanz auszugleichen. Als die USA 1979 im Zuge ihrer außenpolitischen Neuausrichtung die Leitzinsen erhöhten (Scherrer 1999) verursachte das in den 1980er Jahren Schuldenkrisen in der (Semi-)Peripherie, die zu neuen Abhängigkeiten von den internationalen Finanzinstitutionen führten (Küblböck und Staritz 2007). In diesem Zusammenhang stellen sich also Fragen nach der strukturellen Form der monetären Beschränkung besonders deutlich.
Außerdem ist die Mehrzahl der peripheren Gesellschaften durch „strukturelle Heterogenität“ (Córdova 1973; Pinto 1970) charakterisiert. Es herrscht ein Prozess der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Schlichte 2005, S. 45ff.; vgl. auch: Bloch 1977, S. 104, 116ff.) vor. Der Prozess der Modernisierung ist demnach nicht so weit fortgeschritten wie in der OECD-Welt und die Mehrzahl der sozialen Beziehungen ist von traditionellen Formen bestimmt. Diese Form ungleicher Entwicklung hat zur Folge, dass ein Teil der Gesellschaft an den Weltmarkt und damit die einsetzende kapitalistische Entwicklung gekoppelt ist, während ein anderer Teil der Gesellschaft in nicht-kapitalistischen Verhältnissen lebt. Gleichzeitig wird die Arbeitskraft dieses zweiten Sektors aber auch in verschiedenen Formen zu Gunsten des dominanten Sektors ausgebeutet, sodass jeweils spezifische Formen der hierarchischen Artikulation von kapitalistischen und nicht-kapitalistischen Arbeitsformen entstehen (vgl. auch: Oliveira 1972). Wie schon im Rahmen des Abschnitts zur Exklusion diskutiert, stellt sich also die Frage nach der Bedeutung kapitalistischer Vergesellschaftung. Ähnlich wie im Hinblick auf Geschlechterverhältnisse und Reproduktionsarbeit, wird auch in dependenztheoretischen Arbeiten und der Weltsystemtheorie von der Dominanz der kapitalistischen Sektoren ausgegangen.
Alnasseri (2004, S. 27ff.) argumentiert diesbezüglich im Anschluss an Marx und Althusser, dass der Begriff der „Artikulation“ (vgl. auch: Alexander 2006; Wolpe 1980b) dazu dienen kann, das Verhältnis von kapitalistischen und nichtkapitalistischen Vergesellschaftungsformen zu fassen und schließt in diesem Zusammenhang die Koexistenz von zwei parallel laufenden Gesellschaften (Tradition vs. Moderne) aus:
„Erstens weil die nichtkapitalistischen Produktionsweisen sich während des Kapitalismus entwickeln, d.h. deren Bestimmung nur im Kontext der globalen kapitalistischen Produktionsweise verstanden werden kann; und zweitens weil sie von den historisch-konkreten Formen der kapitalistischen Produktionsweise dominiert werden.“ (Alnasseri 2003, S. 148)
Als entsprechenden Prozess, der der Artikulation kapitalistischer und nicht-kapitalistischer Verhältnisse zu Grunde liegt, identifiziert Alnasseri (2003, S. 149) die „ursprüngliche Akkumulation“ (MEW 23: 741ff.). Damit sind Prozesse der Kommodifizierung benannt, die schon seit der Entstehungsgeschichte des Kapitalismus (Kromphardt 1991) nicht friedlich stattfinden. Vielmehr handle es sich um gewaltsame Prozesse von Enteignung und Raub, insbesondere initiiert durch Kapital(fraktionen) aus den kapitalistischen Zentren, in Zusammenarbeit mit Staaten und Kapitalfraktionen in Zentren und Peripherien. In diesem Zusammenhang schließt Alnasseri an Theorien des Imperialismus (z.B.: Harvey 2005b; vgl. Deppe et al. 2004) an. Die entsprechenden Analysen des internationalen Staatensystems würden den Rahmen dieser Arbeit sprengen, die „inneren“ Auswirkungen auf nationalstaatliche Politik sind jedoch interessant. Diesbezüglich bietet sich Dörres Konzept der „kapitalistischen Landnahmen“ an, mit dem er Prozesse der Kommodifizierung und De-Kommodifizierung beschreibt. Dem zu Folge findet aufgrund von Tendenzen der Überakkumulation (vgl.: Harvey 2005a) ein Übergang von dominant intensiver zu dominant extensiver Akkumulation statt, der von neuen Strategien kapitalistischer Landnahme begleitet wird: Im Fordismus fußte die Gewinnung relativen Mehrwerts zumindest teilweise auf der zuvor beschriebenen De-Kommodifizierung (Esping-Andersen 1990). Staatliche soziale Dienstleistungen entkoppelten zwar einerseits gesellschaftliche Bereiche vom Marktmechanismus, andererseits ermöglichten die damit einhergehende Überführung von Bereichen unbezahlter in bezahlte Arbeit und die staatlich garantierte Übernahme von Reproduktionsarbeit neue kapitalistische Landnahmen. Die neuen Landnahmen hingegen fußen auf Reoder Ent-Kommodifizierung – der Herstellung von Warenform oder auch den Ausschluss vom Markt (Dörre 2009b, S. 48ff., 2009a, S. 127).
Im anschließenden Abschnitt wird nun noch gezielt versucht, die Erkenntnisse aus den hier dargestellten polit-ökonomischen Theorien in die Staatstheorie einzuflechten.