Relative Autonomie und Selektivitäten

Poulantzas (2002, S. 47f.) zu Folge ist die institutionelle Trennung von Staat und Ökonomie Grundmerkmal bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung. Gleichzeitig bestehen jedoch auch wechselseitige Abhängigkeiten. Im Anschluss an die Regulationstheorie wurde schon aufgezeigt, dass staatliche (und private) Regulation nötig ist, um Akkumulation zu gewährleisten. Gleichzeitig ist auch der Fortbestand des Staats im Kapitalismus vom „guten Gang der Geschäfte“ abhängig. Ökonomische Krisen wirken sich auf den Lebensstandard der BürgerInnen aus und führen oft (aber nicht zwangsläufig) zu politischen Krisen – daher besteht eine Abhängigkeit von Unternehmen und die Ökonomie wird dahin gehend reguliert, dass die Akkumulationsdynamik aufrechterhalten wird. Aus diesem Umstand resultiert für Poulantzas die Notwendigkeit zur „relativen Autonomie“ des Staates[1], weil (1) nur dadurch auf Dauer sichergestellt werden kann, dass das Profitstreben einzelner Klassenfraktionen nicht das Gesamtsystem gefährdet und (2) Interessen der Subalternen so weit nachgekommen werden kann, dass sie nicht gegen das System revoltieren.

Jessop hingegen verwirft den Begriff der relativen Autonomie und favorisiert stattdessen den Begriff der „Selektivitäten“, den Offe (1972, S. 65ff.) in die Debatte einbrachte. [2]Dabei ging es Offe um die Abgrenzung von der eingangs dargestellten Sichtweise des Staats als reinem „Instrument der herrschenden Klassen“, da „staatliche Herrschaft dann und nur dann Klassencharakter hat, wenn sie so konstruiert ist, dass es ihr gelingt, das Kapital sowohl vor seinem eigenen falschen wie vor einem antikapitalistischen Bewusstsein der Massen in Schutz zu nehmen“ (Offe 1972, S. 77). Somit führt Offe in Bezug auf den Sachverhalt hinter Poulantzas' „relativer Autonomie“ einen flexibleren Analysebegriff ein. Offe (1972, S. 79) thematisiert in diesem Zusammenhang „institutionell verankerte Auswahlmechanismen […] auf mindestens vier Ebenen – Struktur, Ideologie, Prozeß und Repression“.

(1) Auf Struktur-Ebene benennt Offe (1972: 79) den „definitiven – rechtlich und faktisch festgelegten – Aktionsradius, der bestimmt, welche Materien und Sachverhalte überhaupt zum Gegenstand staatlicher Politik werden können“. Er nennt in diesem Zusammenhang liberale Freiheitsrechte, insbesondere die Garantie des privaten Eigentums, sowie eingeschränkte Beschaffbarkeit von materiellen Ressourcen und Informationen oder auch der Wirksamkeit bürokratischer Institutionen. (2) Unter Ideologie nennt Offe (1972: 80) die Restriktionen die das geltende ideologisch-kulturelle Normensystem strukturell möglicher Politik auferlegt. (3) Auf Prozess-Ebene geht Offe (1972: 80) auf die „institutionalisierten Verfahren der Politik-Formulierung und ihrer Implementierung“ ein, denn „formale Regelstrukturen, die Prozesse der parlamentarischen Beratung, des ‚collective bargaining', der bürokratischen Planung und Verwaltung, der wissenschaftlichen Politikberatung, der Wahlkämpfe und der politischen Massenkommunikation bestimmen, sind niemals bloße prozedurale Formalismen, sondern sie präjudizieren als solche den möglichen Inhalt bzw. das mögliche Resultat des jeweiligen Prozesses“ (ebd.). Die institutionalisierten Verfahren schaffen Begünstigungs- und Ausschlussverhältnisse, indem bestimmte Interessen durch zeitliche Priorität, Koalitionschancen oder die Möglichkeit zum Einsatz spezifischer Machtmittel Vorteile gegenüber anderen haben. (4) Repression bezeichnet Offe (1972: 81) als „letzte Stufe der Einschränkungen“ durch „Anwendung oder Androhung repressiver Akte des Staatsapparates durch die Organe von Polizei, Militär und Justiz“.

In Bezug auf die Anwendung in konkreter Forschung diagnostiziert Offe (1972: 81) ein „empirisch-methodisches Dilemma: Um eine Vorstellung von den Ausschließungsmechanismen und ihrer Affinität zu Klasseninteressen zu gewinnen, muß ein Begriff von dem zur Verfügung stehen, was an Möglichkeiten von ihnen negiert wird“. Diese Feststellung schließt an die in der Einleitung formulierte Kritik an positivistischen bzw. empirizistischen Zugängen an, die es kaum möglich machen, „systematisch ausgeblendete ‚Nicht-Realität'“ (Offe 1972, S.81) aufzuzeigen. Das soll in dieser Arbeit unter Rückgriff auf die im vorhergehenden und in diesem Kapitel dargestellten Theorien ermöglicht werden. Zusätzlich soll das Konzept der Selektivitäten dann konkret darauf abgestimmt werden. Jessop entwickelte das Konzept der Selektivitäten im Hinblick auf seinen Strategic Relational Approach weiter und verwendet als Überbegriff „strategische Selektivität“:

“By strategic selectivity I understand the ways in which the state considered as a social ensemble has a specific, differential impact on the ability of various political forces to pursue particular interests and strategies in specific spatio-temporal contexts through their access to and/or control over given state capacities – capacities that always depend for their effectiveness on links to forces and powers that exist and operate beyond the state's formal boundaries.” (Jessop 2002, S. 40)

In seinen jüngsten Veröffentlichungen zur Cultural Political Economy differenziert Jessop (2009a, S. 339) den breiten Begriff der „strategischen Selektivität“ in vier Teilbereiche: (1) Strukturierung, (2) Semiosis (bzw. Diskurs), (3) Handlung und (4) Technologien (vgl. auch: Sum und Jessop 2013, S. 214ff.).

(1) Strukturelle Selektivitäten beziehen sich auf die von Offe thematisierte strukturelle Ebene und in diesem Zusammenhang auf Prozesse, die sich „hinter dem Rücken“ der handelnden Akteure abspielen, die sich somit stärker als Träger der Struktur denn als aktiv handelnde Subjekte wahrnehmen. Deren unterschiedliche Beschränkungen und Möglichkeiten aufgrund ihrer strukturellen Einbettung bezeichnen Jessop und Sum als strukturelle Selektivitäten (Jessop und Sum 2012, S. 5). (2) Unter der Rubrik „diskursive Selektivitäten“ nennt Jessop – in impliziter Anlehnung an Offes ideologische Ebene – die Organisation und Funktionsweise der Massenmedien, die Rolle von Intellektuellen im öffentlichen Leben, sowie die öffentlichen und privaten Apparate ökonomischer, politischer und ideologischer Herrschaft (Jessop 2009b, S. 4). (3) Handlungsbzw. akteursspezifische Selektivitäten (agential selectivities) beziehen sich auf Prozesse von Subjektivieren, Identitätsbildung, Lernen und Reflexivität, während sich (4) technologische Selektivitäten an einen von Foucault geprägten breiten Technologiebegriff anlehnen. Somit sind soziale Praktiken angesprochen, die durch Instrumente der Klassifizierung, Registrierung, Berechnung, usw. vermittelt werden. Technologien können somit als Referenzpunkte der Sinngebung und der Koordination von Aktionen in persönlichen Beziehungen, Organisationen, Netzwerken oder Institutionen wirken (Jessop 2009a, S. 339).

Im Hinblick auf Ungleichheitstheorie konkretisierte Jessop sein zentrales Analysekonzept im Rahmen eines Beitrags zu „Gender Selectivities“ (Jessop 2001; 2007a, S. 157ff.), der auf staatliche Reproduktion, Transformation und Aufrechterhaltung von institutionell oder diskursiv materialisierten asymmetrischen Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen fokussiert. Unter Einbeziehung feministischer Debatten thematisiert er (1) formelle Aspekte wie Gewaltmonopol, Rechtsstaatlichkeit und Steuerstaat. Hierbei behandelt er die Frage der Repräsentation und die diesbezüglich relevante Grenzziehung zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre sowie Debatte um Staatsbürgerschaft, die auf männliche Staatsbürger zugeschnitten wurde. Konflikte zwischen dem abstrakten männlich geprägten Staatsbürgerstatus und geschlechtlichen Spezifika wurden historisch mittels Vorenthaltung politischer Partizipationsrechte bearbeitet. Bezüglich (2) der Architektur des Staates merkt Jessop an, dass „the closer a department is to the core of the repressive state apparatus (military, police, security, foreign policy, and treasury), the fewer women are present. Likewise, the higher the tier of government, the fewer women are involved” (Jessop 2007a, S. 170). (3) Staatliche Intervention erfasst er anhand von Gewalt, Gesetz, Geld und Wissen. Die relative Abwesenheit von Frauen in repressiven Apparaten könnte in Anlehnung an Walby (2009) noch durch die Frage nach der generellen Gültigkeit staatlicher Gesetzgebung in privaten Haushalten ergänzt werden. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach den abstrakt formulierten Gesetzen und möglichen androzentrischen Standards. In Bezug auf Geld spielt das durchschnittlich geringere Erwerbseinkommen von Frauen in Bezug auf staatliche Kosten-Nutzen-Analysen und Reformen des Wohlfahrtsstaates eine wichtige Rolle, was mit männlich geprägtem formal-rationalem Wissen einhergeht (vgl.: Sauer 2001). Dahinter liegende patriarchale, maternalistische und nationalistische Diskurse mystifizieren oft die dahinterliegenden Geschlechterverhältnisse. Schließlich gelte es auch, in Bezug auf Akkumulationsstrategien und hegemoniale Projekte, die de-thematisierte Seite des „Außer-Ökonomischen“ (Jessop 2007a, S. 174) zu beleuchten.

Zusammengefasst gilt es für Jessop (2007a, S. 175), die Ausbeutung von Geschlechterdifferenzen seitens der handelnden Akteure im erweiterten Staat offenzulegen und damit der Naturalisierung entsprechender Ungleichheiten zu begegnen. Dieser Prozess der „Naturalisierung sozialer Ungleichheiten“ wurde im vorhergehenden Kapitel erfasst und soll in weiterer Folge nicht nur auf eben dargestellte Gender Selektivitäten, sondern auch auf Klassenselektivitäten und rassistische Selektivitäten bezogen werden. Eine entsprechende Ausarbeitung wird im Rahmen der später erfolgenden Operationalisierung der Theorien folgen. Vorher werden jedoch noch Grenzen eines auf Selektivitäten abzielenden Zugangs offen gelegt und auf den Kontext (semi-)peripherer Staatlichkeit bezogen.

  • [1] Zur formanalytischen Kritik des Konzepts der „relativen Autonomie“ vgl.: Hirsch und Kannnankulam 2006. Ihnen zu Folge wird die relative Autonomie des Staates bei Poulantzas „theoretisch nicht begründet“ (Hirsch und Kannankulam 2006, S. 67). Diese theoretische Begründung liefert Hirsch durchgehend mit der Formanalyse, wobei er – ausgehend von einer „Ableitung“ aus dem Marx'schen Kapital die politische Form von der ökonomischen (Wert-)Form unterscheidet, die beide als soziale Formen auftreten. „Im Kapitalismus können die Menschen ihre wechselseitigen Beziehungen weder frei wählen, noch ihre gesellschaftliche Existenz durch unmittelbares Handeln beherrschen. Ihr sozialer Zusammenhang äußert sich vielmehr in verdinglichten, ihnen äußerlich entgegentretenden sozialen Formen“ (Hirsch 2005b, S. 22; Herv.i.O.).
  • [2] Jessop kritisiert den Begriff der „relativen Autonomie“ als zu vage für konkrete Analysen (näher dazu: Bieling 2006, S. 383ff.). Ähnlich wird auch aus formanalytischer Sicht argumentiert (vgl. Hirsch und Kannankulam 2006).
 
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