Zwischenfazit

Die hier zur Anwendung kommende Methodologie betrachtet im Sinne des kritischen Realismus Theorie als „Lupe“ zur Wahrnehmung von Details und Zusammenhängen, die sonst „unsichtbar“ bleiben. Forschung folgt einer zirkulären Logik des Wechselspiels zwischen Konkretem (empirischen Ereignissen) und Abstraktem (theoretischen Reflexionen der Einbettung von Ereignissen in Strukturen).

In kritischer Aufarbeitung der Literatur zu Südafrika und Brasilien wurde angemerkt, dass eine Konjunkturanalyse hilfreich wäre. In diesem Zusammenhang gilt es vor allem, sowohl reale wie auch potenzielle gesellschaftliche Umbrüche – Krisen und Critical Junctures – zu erfassen. Außerdem wurde unter Einbeziehung der Ungleichheitstheorien aus Kapitel 2 das Analysekonzept des „Ungleichheitsregimes“ entwickelt. Mit Hilfe dieses Konzeptes wird die historische Entwicklung der beiden Fälle skizziert. Ausgehend davon werden dann die aktuellen Konjunkturen sozial-reformistischer Politik näher untersucht. Als zentraler Bruchpunkt bzw. „organische Krise“ wurden die Prozesse der Demokratisierung ab den 1980ern identifiziert, im Rahmen derer auch neue Verfassungen (als wichtige institutionelle Rahmenbedingungen) erstellt wurden. Ab dieser Periode wird die Rolle der sozial-reformistischen Regierungsparteien (PT in Brasilien, ANC in Südafrika) im Hinblick auf (un-)gleichheitsorientierte Politik untersucht. Besonderes Augenmerk gilt den Beziehungen zu anderen politischen Akteuren: ihrer Basis (insbesondere Gewerkschaften und Koalitionspartnern) und ihren KritikerInnen und GegnerInnen (und deren Hegemonieprojekten) und den von ihnen angewandten Ressourcen. Im Hinblick auf diskursive Einflüsse werden die Identitätsfindung unterschiedlicher Gruppen und der Einfluss von Staatsprojekten nachgezeichnet. In dieser Hinsicht wird die Heuristik von „two“ bzw. „one nation projects“ und deren implizite oder explizite Natur eine entscheidende Rolle spielen. Außerdem wird der Frage nachgegangen, ob und inwiefern sich soziale Akteure entlang der Achsen Klasse, „Rasse“ oder Gender kollektiv identifizieren und welche politischen Folgen dominante Identitäten haben.

Diese Fragen dienen der Annäherung an eine heftig geführte Debatte in beiden Ländern nach der ideologischen Natur der Regierungen: Sind sie „sozialdemokratisch“ orientiert, oder handelt es sich um „neoliberale Verräter“ der Bewegungen, die sie an die Macht gebracht haben? Diese oftmals sehr hitzig und emotional geführte Debatte soll mit Hilfe des strategisch-relationalen ASID-approach bearbeitet werden, der strukturellen Möglichkeiten und Grenzen besondere Beachtung schenkt. Die in diesem Ansatz zentrale Heuristik der „Selektivität“ wird unter Einbeziehung der theoretischen Literatur verfeinert und einerseits in strukturelle, technische, diskursive und akteurs-spezifische Selektivitäten sowie andererseits in Gender-, „Rassen“- und klassenspezifische Selektivitäten untergliedert. Dieses verfeinerte Konzept soll im Rahmen der empirischen Analyse auf seine Eignung zur Erfassung der strukturellen Möglichkeiten und Grenzen sozial-reformistischer Politik in der Semi-Peripherie geprüft werden. [1]

Konkret analysiert werden daher die jeweiligen historisch gewachsenen „Ungleichheitsregimes“ mit Fokus auf die Konjunktur ab den Demokratisierungsprozessen in den 1980ern. Besonderes Augenmerk gilt dabei den als hegemonietheoretisch wichtig betrachteten Politikfeldern regulativer bzw. distributiver Politik: Affirmative Action und sozialen Einkommenstransfers. Während das erstere Politikfeld in die Analyse des „Ungleichheitsregimes“ integriert wird, werden soziale Einkommenstransfers gesondert analysiert. Aufgrund ihrer materiellen, institutionellen, aber auch ideologischen Bedeutung sind Einkommenstransfers sowohl als Gegenstand internationaler Diskussionen um den Abbau von Armut und Ungleichheit als auch von nationalen Debatten in beiden Ländern hoch relevant. Hier werden sie in ihrer Einbindung in die jeweiligen Sozial- und Ungleichheitsregimes untersucht.

Methodisch wird in erster Linie Fachliteratur ausgewertet. Dabei wird versucht, Diskussionen auch für den deutschen Sprachraum zugängig zu machen, die aufgrund von geografischen und/oder sprachlichen Barrieren kaum rezipiert werden. Ergänzend kann auf explorative semi-strukturierte Interviews mit ExpertInnen zurückgegriffen werden, die in jeweils zweimonatigen Forschungsaufenthalten durchgeführt werden konnten. Fachliche Gespräche an Universitäten, mit RegierungsbeamtInnen und AktivistInnen vor Ort sowie Konferenzbesuche werden zusätzlich mit einbezogen.

  • [1] Überprüfung wird nicht wie die Popper'sche Falsifizierung betrieben. Vielmehr soll die Eignung des theoretischen Konzepts zur „Offenlegung verborgener Tatsachen“ dahin gehend getestet werden, das Konzept gegebenenfalls zu ergänzen oder auch passendere Konzepte zu finden.
 
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