Transformation des brasilianischen Ungleichheitsregimes
In die nun folgende Betrachtung der Entwicklung des brasilianischen Ungleichheitsregimes können umfangreiche Vorarbeiten mit einfließen (Becker et al. 2010; Fischer und Leubolt 2012; Leubolt 2004, 2007b, 2008, 2009b, 2009a,
2009c, 2011; Leubolt und Auinger 2011; Leubolt und Tittor 2008, 2009), die nun im Hinblick auf die vorliegende Fragestellung adaptiert werden. Um strukturelle Grenzen und Möglichkeiten berücksichtigen zu können, wird eine historische Analyse durchgeführt. Orientiert am ASID-approach sowie am Ungleichheitsregime wird eingangs die Frage nach der Auswirkung von gesellschaftlicher Herrschaft auf die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit bearbeitet. In diesem Zusammenhang dient die Konjunkturanalyse als wichtige Analysegrundlage für diese Arbeit, die der Frage nach Periodisierung großes Augenmerkt schenkt. Inhaltlich soll offen gelegt werden, wie die politische Bühne Brasiliens durch gesellschaftliche Auseinandersetzungen auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene beeinflusst wird und wie sich dieses Spiel auf die institutionelle Architektur des Staates auswirkt. Besonderes Augenmerk gilt dem Ungleichheitsregime und den wichtigsten kollektiven Akteuren Brasiliens.
Die Wandlung des Ungleichheitsregimes von der Sklavenhaltergesellschaft zur Dominanz des Finanzkapitals
In Brasilien existiert eine Tradition der historischen Periodisierung, die insbesondere auf dependenztheoretisch inspirierte Phasenmodelle zurückgeht (Cardoso und Faletto 1976; Fernandes 2006; Furtado 1975; vgl. auch: Boris 2009). Novy (2001a) bezieht in seinem "Standardwerk" zur Entwicklung Brasiliens diese Werke mit ein und verbindet sie mit regulationstheoretisch inspirierten Überlegungen (vgl. auch: Conceição 1989a, 1989b; Faria 1996). Diese Zugänge beziehen sich in erster Linie auf polit-ökonomische Umbrüche, die länger dauernde Epochen voneinander trennen und gestatten daher eine relativ grobe Periodisierung. Da ideologische und politische Krisenmomente weniger stark berücksichtigt werden, können Critical Junctures somit nicht voll erfasst werden. Dennoch vermittelt die Periodisierung eine Basis für die historische Analyse, die wenn nötig ergänzt werden kann.
Tabelle 6: Periodisierung des brasilianischen Ungleichheitsregimes
Periode |
Charakteristika |
|
1500-1850 |
Sklaverei-basierte Gesellschaft |
Dezentraler Patrimonialismus |
1850-1929 |
„Ständischer Kapitalismus“ im (un)abhängigen Brasilien |
Dezentralisierter Nationalstaat: Nationalisierung des lokalen Patrimonialismus; „Ständischer Liberalismus“ |
1930-1982 |
Importsubstituierende Industrialisierung (ISI); „peripherer Fordismus“ |
Konsolidierung des Nationalstaates als „Entwicklungsstaat“; Autoritärer Korporatismus |
1982 bis Mitte 2000er |
Krisenhafte Entwicklungsdekaden, Tendenzen zu Neobzw. „Sozialliberalismus“ |
Demokratisierung und Internationalisierung des Nationalstaates; Fokus auf Inflations- und Armutsbekämpfung |
Ab Mitte 2000er |
Rückkehr des „Entwicklungsstaates“ |
„Inklusiver Entwicklungsstaat“: Fokus auf Sozial- und Industriepolitik |
Quellen: Boris 2009; Conceição 1989b; Novy 2001a; eigene Adaptierung
Für die brasilianische Entwicklung seit der Kolonialisierung werden von Regulations- und DependenztheoretikerInnen vier bis fünf Perioden unterschieden (vgl. Boris 2009; Novy 2001a, S. 75): (1) von 1500 bis Mitte des 19. Jahrhunderts[1] wird koloniale Entwicklungsweise unter europäischer Vorherrschaft, fußend auf sklavereibasierter Akkumulation, diagnostiziert, worauf (2) bis ca. 1929 eine Phase eines extravertierten und dominant extensiven Akkumulationsregimes unter britischer Vorherrschaft folgte. (3) Ein großer Umbruch erfolgte 1930, als im Zuge der Weltwirtschaftskrise nach einem Putsch eine Art "peripherer Fordismus"[2] etabliert wurde. Zwischen 1930 und den 1980ern wurde im Rahmen der "Importsubstituierenden Industrialisierung" (ISI) auf intensive Muster der Akkumulation und nationale entwicklungsstaatliche Regulation gesetzt. (4) Analog zur Periodisierung der französischen Regulationstheorie wird auch für Brasilien in den 1980er Jahren eine Krise des Fordismus diagnostiziert, die in eine neoliberale Entwicklungsweise mündete. Akkumulation stagnierte tendenziell und wurde extensiviert, internationalisiert und finanzialisiert. Die Regulationsweise veränderte sich sehr vielfältig, da mit der ökonomischen Krise auch eine Staatskrise einherging und das Militärregime gestürzt wurde. Dieser "organischen Krise" in den 1980ern und ihren institutionellen Auswirkungen wird daher besondere Aufmerksamkeit zukommen. (5) Aktuelle Diskussionen drehen sich besonders um die Frage, ob es zu Beginn des 21. Jahrhunderts zur Etablierung eines neuen "post-neoliberalen" Regimes kommt, oder ob es sich um eine veränderte Fortsetzung des neoliberalen Regimes handelt.
Tabelle 6 gibt einen Überblick der anschließend dargestellten Perioden. Die oben erfasste Periodisierung bezieht sich vordergründig auf ökonomische Prozesse und wird adaptiert, um politischen und kulturellen Faktoren berücksichtigen zu können. Daher wird die Periode ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1929 in Anlehnung an Fernandes (2006) als „ständischer Kapitalismus“ erfasst, [3] der von der schrittweisen Etablierung bürgerlich-kapitalistischer gesellschaftlicher Normen geprägt und von der Unabhängigkeitserklärung 1822, der Abschaffung der Sklaverei 1888 und der Ausrufung der Republik 1889 markiert wurde. Als markanter Zeitpunkt des Beginns dieser Epoche wurde hier mit 1850 das Jahr des gesetzlichen Verbots des SklavInnenhandels gewählt, das von einem Gesetz der Bodenregulierung begleitet wurde, das SklavInnen die Subsistenzwirtschaft nahezu verunmöglichte. Das Ende dieser Periode wird durch die Weltwirtschaftskrise 1929 markiert, deren politische Auswirkungen sich ab 1930 in der Importsubstituierenden Industrialisierung manifestierten. Die folgenreiche politische Krise in den 1960ern, die zum Militärputsch und 20jähriger Militärdiktatur führte, wird als weniger markant erfasst als die Schuldenkrise der 1980er Jahre, die das Ende des Militärregimes einläutete. Diese „organische Krise“ ging mit wichtigen politischen, kulturellen und ökonomischen Brüchen einher und leitete die Periode des Neoliberalismus ein, der jedoch weniger stark ausgeprägt war als in vielen anderen Teilen des Kontinents. Aufgrund des Zusammenspiels neoliberaler wirtschaftspolitischer Reformen mit dem Ausbau der Sozialprogramme nach
der Demokratisierung wird diese Phase auch als „Sozialliberalismus“ (Fiori 2001a, S. 77ff.; Novy 2001a, S. 308ff.) bezeichnet. Die daraus folgende Periodisierung ist eher grober Natur und wird im Zuge des folgenden Abschnitts noch verfeinert.
- [1] Der erste Umbruch wird für verschiedene Zeiträume angegeben und bei manchen Zugängen (z.B. Boris 2009) überhaupt nicht gesondert registriert. Markante Zeitpunkte wären v.a. 1822 die Ausrufung der Unabhängigkeit von der portugiesischen Kolonialmacht (vgl. Novy 2001a) und 1889 die Ausrufung der Republik (Lieberman 2001). Diese Ereignisse sind gewissermaßen politische Zeichen für das "Einläuten" post-kolonialer, post-feudaler kapitalistischer Verhältnisse, die sich schon vorher zu entwickeln begannen. Soziale Praktiken kamen "in Reibung", es kann daher eine länger dauernde Critical Juncture diagnostiziert werden.
- [2] Dem brasilianischen Fordismus werden grundlegend andere Charakteristika als dem US-amerikanischen und dem europäischen Fordismus attestiert. Wie schon in Kapitel 3 angedeutet, wird vor allem die fehlende Basis für Massenkonsum als großer Unterschied thematisiert und mit Begriffen wie "tropischer" oder "hinkender Fordismus" (vgl. Faria 1996, S. 336) beschrieben.
- [3] Fernandes bezeichnet den Prozess als „bürgerliche Revolution“. Die verbleibenden Elemente der sklaverei-basierten Gesellschaft und die relativ lange Dauer dieser „Revolution“ sprechen aber gegen diese Bezeichnung, sodass hier der Begriff des „ständischen Kapitalismus“ verwendet wird. Dank gilt an dieser Stelle einem Hinweis von Andreas Novy.