Institutionalisierung von Kräfteverhältnissen während der Demokratisierung
Eine der zentralen Neuerungen der Demokratisierung stellte die Zulassung von Parteigründungen dar. Da politische Parteien einen – oft zu Unrecht vernachlässigten – wichtigen Faktor im Hinblick auf die Institutionalisierung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse darstellen, wird erst auf die Entwicklung der brasilianischen Parteien seit ihrer Legalisierung 1979 eingegangen. Danach wird die Verfassungsgebende Versammlung als zentraler Moment der institutionellen Verfestigung der neuen Kräftekonstellation beschrieben und ihre Auswirkungen auf das Ungleichheitsregime skizziert. Daran anschließend wird die gleichheitsorientierte Politik der ersten demokratisch gewählten Regierungen zwischen 1989 und 2002 beschrieben, um dann ihre Auswirkungen auf die Sozialstruktur thematisieren zu können.
Politische Parteien in Brasilien nach 1979
Wichtige Schritte zur Einleitung der Demokratisierung wurden schon 1979 seitens des Militärregimes gesetzt, da politische Amnestie gewährt und gleichzeitig die Gründung politischer Parteien wieder zugelassen wurde. Ab den 1980ern konnten daher die politischen Parteien gegründet werden, die das Land bis heute beeinflussen. [1]
ARENA, die Partei der Militärs, nahm den Namen der alten Zentrumspartei PSD an und sprach den Namen PTB einer Rechtspolitikerin zu, um die Neugründung durch frühere Anhänger Vargas (insbesondere Leonel Brizola) zu verhindern. Nachdem die angestrebten Erfolge dieser Strategie weitgehend ausblieben, benannte sich die PSD seit 1993 noch drei Mal um: Partido Progressista Reformador (PPR), Partido Progressista Brasileiro (PPB) und Partido Progressista (PP). 1985 spaltete sich die PFL (Partido da Frente Liberal – Partei der liberalen Front) von der PSD ab. Inhaltlich lehnten sie die populistische Politik ab, die vom PSD-Spitzenkandidat Maluf in São Paulo vertreten wurde. Die PFL vertrat stattdessen die Interessen der traditionellen Oligarchen des Nordostens. 2007 wurde die PFL unbenannt in Democratas (DEM). Im Gegensatz zur PSD stellte die PFL keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten auf, sondern unterstützte seit der ersten Wahl Kandidaten der früheren Opposition bzw. des daraus entstehenden politischen Zentrums (vgl. Tab. 16). Daher war die PFL bis 2002 an den Bundesregierungen beteiligt und verfügte regional über eine Basis im Nordosten. Dort stellte sie auch lange Zeit wichtige Gouverneure. [2] Eine ideologisch ähnliche Partei war auch die PRN, die sich Ende der 1980er als modernere populistische Rechtpartei etablierte, aber nach der Absetzung ihres Präsidenten Collor wegen Korruption rapide an Bedeutung verlor. Die Liberale Partei (Partido Liberal – PL) ist eine weitere ähnlich orientierte Partei im rechten Spektrum. Sie vertritt Interessen des Unternehmertums. Schließlich wird auch die PSC (Partido Social Cristão – PSC) als christlich-soziale Partei zur gemäßigten Rechten gezählt.
Die vorher einzige Oppositionspartei MDB benannte sich 1979 in PMDB (Partido do Movimento Democrático Brasileiro – Partei der brasilianischen demokratischen Bewegung) um. Sie etablierte sich in weiterer Folge als wichtigste Zentrumspartei, die aufgrund ihrer inhaltlichen Breite als „Omnibuspartei“ bezeichnet wurde. Die PMDB stellte den ersten gewählten Präsidenten nach der Militärdiktatur und fungierte danach stets als Partnerin der jeweiligen Regierungskoalition. Daher kann sie als wichtigste „Staatspartei“ nach dem Ende der Militärdiktatur betrachtet werden.
Die PSDB (Partido da Social Democracia Brasileira – Partei der brasilianischen Sozialdemokratie) wurde erst 1988 von ParlamentarierInnen und SenatorInnen der PMDB gegründet. Dieser Schritt wird manchmal als programmatisch motivierte Abspaltung des linken Flügels der PMDB dargestellt, dessen Hauptkritikpunkt die „populistische“ Orientierung der PMDB war [3] (Kinzo 1993). In dieser Hinsicht handelte es sich um VertreterInnen eines moderneren, stärker kosmopolitisch orientierten Kurses, der sich ideologisch an der Post-Moderne orientierte (Novy 1993). Auch pragmatische Motive werden als wichtiger Grund für die Parteigründung identifiziert: Die DissidentInnen sahen sich innerhalb der regierenden PMDB im Hintertreffen, da sie keine ministerialen Positionen bekleideten und auch sonst weniger Ressourcen zur Verfügung hatten (Roma 2006). Es entstand also eine zweite Partei neben der PMDB, die mit der „politischen Mitte“ assoziiert wird [4].
Als Linksparteien wurden die PPS (Partido Popular Socialista – Sozialistische Volkspartei; Nachfolgepartei der alten KP), PSB (Partido Socialista Brasileiro) PCdoB (Partido Communista do Brasil – Kommunistische Partei Brasiliens; maoistische KP) und die PT gegründet, die als einzige Programmpartei galt (vgl. die näheren Ausführungen im letzten Kapitel). Brizola gründete die alte PTB nun als PDT (Partido Democrático Trabalhista – Demokratische Arbeitspartei) neu (Bernecker et al. 2000: 294, 312). Während die PDT versuchte, direkt an das Erbe von Vargas' PTB anzuschließen und in diesem Zuge einen eigenständigen links-populistischen Kurs verfolgte, orientierte sich die PPS stärker in Richtung der jeweiligen Regierungen. Sie fungierte oft als „kleine Koalitionspartnerin“ – ebenso für die Mitte-Rechts Regierungen Cardosos (1995-2002) wie für die von der PT geführte Mitte-Links Regierung (seit 2003). Aufgrund dieses wankelmütigen Kurses kann die PPS nicht eindeutig der politischen Linken zugeordnet werden. Bis 2003 war die PT ebenso wie die PCdoB stets Oppositionspartei. Diese Parteien bildeten – meist gemeinsam mit der PSB – Koalitionen für den Präsidentschaftswahlkampf und wurden als radikalere Linksparteien wahrgenommen.
Tabelle 16 zeigt die Präsidentschaften Brasiliens seit 1985. Bei Sarney, Collor und Cardoso waren Parteien der politischen Rechten dominant, während bei Franco durch die Beteiligung der PSB stärkere Ausgewogenheit herrschte. Seit der Präsidentschaft Lulas wurde Brasilien von Mitte-Links Regierungen verwaltet. Lulas Vizepräsident – José Alencar – kam von der PL und repräsentierte die Interessen der brasilianischen Industrie. An der Seite von Dilma Rousseff steht seit ihrem Amtsantritt 2011 mit Michel Temer ein Vizepräsident der Zentrumspartei PMDB. Wie schon zuvor angedeutet, ist das politische Spektrum Brasiliens nicht leicht einzuordnen. Das personalistische Wahlrecht – gewählt werden Personen für politische Führungspositionen und nicht deren Parteien – in Verbindung mit den daraus hervorgehenden Koalitionen und den vergleichsweise jungen Strukturen führen zu stärkeren personellen und ideologischen Wanderbewegungen als es in Europa der Fall ist. Im Lauf der Jahre kristallisierte sich auch eine klare Trennung zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien heraus, die sich auch auf die politische Orientierung der Parteien auswirkt. Das zeigt z.B. die auf Befragungen von PolitikerInnen beruhende Studie von Power und Zucco Jr. (2009). Sie zeigt das politische Spektrum brasilianischer Parteien zwischen 1990 und 2005 in einem links-rechts Kontinuum. Dabei zeigt sich, dass sich die PT zwischen 1993 und 2005 stärker ins politische Zentrum bewegte, während die PSDB sich im selben Zeitraum stärker nach rechts orientierte. Das wird mit der spezifischen Rolle der PSDB erklärt. Wie später noch gezeigt wird, forcierte Cardoso neoliberale Reformen und vollzog damit einen ideologischen Schwenk von der Dependenztheorie zum Neoliberalismus. Nach Cardosos Abwahl 2002 etablierte sich die PSDB als wichtigste Oppositionspartei, die sich rechts von der Regierung positionierte. Mit dem Wandel der PSDB ging auch eine Veränderung der politischen Landschaft Brasiliens einher: Während in der Zeit unmittelbar nach der Militärdiktatur rechte Politik noch stark mit dem autoritären Populismus des Regimes assoziiert wurde, fand während der 1990er Jahre ein Schwenk Richtung Neoliberalismus statt, den auch die wichtigste Nachfolgepartei des Militärregimes, die PFL (später DEM), ansatzweise mit vollzog (vgl. Fiori 2001a).
Tabelle 16: Präsidentschaften und Koalitionen, Brasilien, seit 1985
Amtszeit |
PräsidentIn |
Partei |
Koalitionspartner |
1985-1989 |
José Sarney |
PMDB |
PFL |
1990-1992 |
Fernando Collor de Mello |
PRN (heute PTB) |
PFL, PDS, PTB, PL |
1992-1994 |
Itamar Franco |
PSDB (später PPS) |
PFL, PTB, PMDB, PSB |
1995-1998 |
Fernando Henrique Cardoso |
PSDB |
PFL, PMDB, PTB, PPB |
1999-2002 |
Fernando Henrique Cardoso |
PSDB |
PFL, PMDB, PTB, PPB |
2003-2006 |
Luiz Inácio Lula da Silva |
PT |
PL, PCdoB, PSB, PTB, PDT, PPS, PV [5] |
2007-2010 |
Luiz Inácio Lula da Silva |
PT |
PL, PMDB, PCdoB, PSB, PTB |
Ab 2011 |
Dilma Rousseff |
PT |
PMDB, PL, PCdoB, PSB, PDT, PSC |
Quellen: Figueiredo 2007, S. 190; Pereira 2010; eigene Bearbeitung
Im Gegensatz zur PSDB fungierte die PMDB stets als „Staatspartei“ des politischen Zentrums – ungeachet ob tendenziell rechte (z.B. Collor) oder linke Präsidenten (z.B. Lula) an der Macht waren. Seit dem Regierungswechsel 2003 und der darauf folgenden Beteiligung an der Regierung Lula wird sie eher als MitteLinks-Partei identifiziert. Auf die damit in Verbindung stehenden Ereignisse wird später noch rekurriert, während nun auf die Phase der Demokratisierung näher eingegangen wird.
- [1] Der Einfluss der Parteien wurde lange Zeit als relativ schwach eingeschätzt, da die wenigsten (mit Ausnahme der PT) ausgeprägte programmatische Ausrichtungen hatten, was sich u.a. auch darin ausdrückte, dass viele PolitikerInnen während ihrer Amtszeit (teilweise mehrmals) ihre Partei wechselten (Kinzo 2004). Die damit verbundene geringe Parteidisziplin kann als Reaktion auf das autoritäre Zweiparteiensystem interpretiert werden, die im Lauf der 1990er Jahre auch wieder zuzunehmen begann (Power 1997). Das brasilianische Wahlrecht sieht Persönlichkeitswahl auf allen drei föderalen Ebenen (Gemeinden, Bundesstaaten und national) vor. Die gewählte Person darf dann die Exekutive stellen. Auch für die Legislative (Parlament und Kongress) werden Personen direkt gewählt. Das brasilianische System ist insgesamt exekutiv- und persönlichkeitslastig. Zusätzlich gilt auch der Regionalismus weiterhin als wichtiges Element, der jedoch zusehend schwächer wird. In Summe wurden diese Faktoren immer wieder als Fortsetzung des Patrimonialismus interpretiert (Roett 1999). Staatliche Wahlkampffinanzierung funktioniert jedoch über Parteien, die für die nationale Mobilisierung eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Außerdem können nur von Parteien aufgestellte Personen kandidieren. Im Anschluss wird daher auf ausgewählte Parteien eingegangen, die auf Bundesebene Bedeutung erlangen konnten.
- [2] Das brasilianische politische System ist ein Präsidentialismus in Kombination mit einem Mehrparteiensystem. Der/die direkt gewählte PräsidentIn ist berechtigt, die Regierung zu nominieren, ist jedoch für viele Beschlüsse auf parlamentarische Unterstützung angewiesen. Daher griffen alle bisherigen Regierungen auf nationaler Ebene auf mehr oder weniger institutionalisierte Koalitionen zurück (näher dazu: Fontaine und Stehnken 2012).
- [3] Diese Kritik am „Populismus“ war eine wichtige Grundlage für die spätere Orientierung hin zum Neoliberalismus.
- [4] Seit ihrer Regierungsbeteiligung unter Präsident Fernando Henrique Cardoso, die von einer Allianz rechter Parteien gestützt wurde, wird die PSDB als rechts von der PMDB positioniert dargestellt (Power und Zucco Jr. 2009).
- [5] Während der ersten Regierung Lula kam es zu einigen Umstrukturierungen. In der Anfangszeit herrschte ein relativ loses Koalitionsbündnis der PT mit zahlreichen Kleinparteien. Dieses Bündnis wurde einerseits durch MinisterInnenposten, aber andererseits auch durch Zahlungen an Kongressabgeordnete aufrecht gehalten. Letztere Strategie bezog Gelder aus Staatsbetrieben mit ein, um Gesetzesentwürfe zu bezahlen und wurde Ende 2004 als „Mensalão“-Skandal bekannt (Flynn 2005). Die wichtigste Reaktion der PT nach der Enthüllung des Skandals bestand darin, die stimmenstarke Zentrumspartei PMDB „ins Boot zu holen“ und im Zuge dessen eine formellere Koalition zu bilden, die dann auch die Basis für den nächsten Wahlkampf und die darauf folgende Regierungsbildung stellten: PL, PMDB, PCdoB, PSB, PTB.