Verfassungsgebende Versammlung 1988

Aufgrund der Stärke der sozialen Bewegungen verlief die Demokratisierung in Brasilien anders als in anderen lateinamerikanischen Ländern. Der Übergang fand zwar auch dahin gehend paktiert statt, dass den Militärs eine relativ großzügige Amnestieregelung für Vergehen gegen Menschenrechte gewährt wurde. Gleichzeitig wurde aber mit den Institutionen der Militärdikatur so weit gebrochen, dass im Rahmen eines demokratischen Prozesses eine neue Verfassung erstellt wurde. Für die Verfassungserstellung (näher dazu: Cardoso Jr. 2009) wurden 1986 RepräsentantInnen gewählt, die mehrheitlich der PMDB angehörten. „Aus der Bevölkerung wurden insgesamt 61142 Änderungsanträge eingebracht und in den 24 Subkommissionen diskutiert“ (Paul 1994, zit. nach: Bernecker et al. 2000: 301). Dadurch wurde weitreichende Partizipation sichergestellt, die vor allem zu progressiver Sozialgesetzgebung führten. In anderen ungleichheitsrelevanten Politikfeldern wie z.B. der Agrarpolitik (und somit der Landfrage) wurden hingegen weitreichende Konzessionen an die Interessen der Besitzenden gemacht. Im Arbeitsrecht kam es zu punktuellen Verbesserungen, etwa durch die Einführung eines Fonds zur Arbeitslosenunterstützung; die 1943 unter Vargas eingeführten Arbeitsrechte (CLT) blieben aber weitgehend intakt und somit auch die Basis für die neuen Arbeitsrechte (Leubolt und Auinger 2011).

Die stärkste gleichheitsorientierte Dynamik ging daher von der Sozialpolitik aus. Eine der zentralen Errungenschaften der Verfassung von 1988 ist die Festlegung von Mindeststandards „sozialer Sicherheit“ (vgl. Delgado et al. 2009). [1]Hier wurde festgelegt, dass Bildungs-, Pensions- und Gesundheitssysteme sowie die staatlichen Sozialtransfers universell allen BürgerInnen im städtischen und ländlichen Bereich zur Verfügung stehen müssen. Damit wurde einerseits an die brasilianische Tradition der wichtigen Bedeutung von Sozialpolitik für den staatlichen Zusammenhalt angeknüpft, aber gleichzeitig versucht, mit dem damit verbundenen patrimonialen und autoritären Erbe zu brechen: Die universalisierte Sozialpolitik sollte nicht nur möglichst allen zu Gute kommen, sondern auch möglichst demokratisch durchgeführt werden. Daher wurden dezentral lokalisierte sektorale Beiräte (conselhos setoriais) als entsprechende Entscheidungsgremien in der Verfassung festgelegt. Dadurch wurde dem patrimonial und autoritär geprägten Staat ein umfassendes Rezept der Demokratisierung verschrieben. Gleichzeitig wurden über Quoten Mindest-Investitionen in Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen auf lokaler Ebene festgelegt. Diese umfassenden Sozialreformen sind umso bemerkenswerter, als der internationale Trend in Richtung neoliberaler Programme eines Abbzw. konservativen Umbaus der Sozialpolitik ging. Dem gegenüber ging der Trend in Brasilien in der Folge der Verabschiedung der Verfassung von 1988 klar in Richtung der Einbindung der bis dahin ausgeschlossenen Gruppen. Ein klares Indiz dafür ist die Einführung einer staatlichen, nicht an Beiträge gebundene, Mindestrente für die in der Landwirtschaft tätige Bevölkerung in der Höhe des gesetzlichen Mindestlohns. Die neue Sozialgesetzgebung für die Landbevölkerung stand im Gegensatz zur Handhabung der Landreform: Inklusion fand über verbesserte Bedingungen der Reproduktion und nicht über die direkte Einbindung in die Produktion (für Subsistenz und/oder lokalen Markt) statt. Damit wurde der Kurs des Militärregimes zwar demokratisiert und radikalisiert, aber nicht transformiert.

Die Universalisierung der Sozialpolitik folgte dem Vorbild sozialdemokratischer europäischer Wohlfahrtsstaaten. Insbesondere im Gesundheitssystem wurden universalistische Lösungen nach sozialdemokratischem Vorbild umgesetzt. In diesem Bereich war die Bewegung besonders stark. Das hing nicht zuletzt damit zusammen, dass sich auch solche ÄrztInnen mit einbrachten, die ihre Praxis schon während der Militärdiktatur nach diesen Grundsätzen ausrichteten, und somit subversiv gegen das System gearbeitet hatten. Diese subversive Praxis, in Verbindung mit der klaren Vorstellung der institutionellen Lösung nach europäischem Vorbild, stärkte die VertreterInnen eines universalistischen Gesundheitssystems gegenüber ihren KritikerInnen, denen eine klare alternative Lösungsstrategie fehlte. Die wichtigste institutionelle Auswirkungen dieser „Infiltrierung des Staates“ (Falleti 2010) war die Ablösung des auf dem beruflichen Status basierenden Kassen-Gesundheitssystems durch das universalistische „Einheitliche Gesundheitssystem“ (SUS – Sistema Único de Saúde). Seit der Einführung des SUS haben alle das Recht auf staatliche Gesundheitsversorgung, unabhängig von Herkunft oder beruflichem Status. Ein aus der Dynamik der verfassungsgebenden Versammlung resultierendes Problem war die Festlegung „europäischer Standards“ in der Leistungserbringung in Einklang mit der staatlichen Kapazität zu bringen, insbesondere in Bezug auf die Finanzierung. [2] Die Diskussionen um eine Steuerreform führten zu weniger progressiven Ergebnissen als die um staatliche Leistungserbringung. Wie die Entwicklung der Abgabenquote in Abbildung 13 zeigt, wurden die Steuern zwar erhöht, aber ihre Zusammensetzung blieb regressiv. [3]

Abbildung 13: Abgabenquote, Brasilien, 1986-2010

Quelle: Amaral et al. 2011, S. 4

Dennoch wurden in der Verfassung wichtige Regelungen in Bezug auf Finanzierung von Sozialpolitik getroffen. Eine der zentralen sozialen Errungenschaften stellt die Regelung der Dezentralisierung dar: Um zu verhindern, dass die intendierte Demokratisierung aufgrund tradierter klientelistischer Praktiken vor Ort ausbleibt, wurden rigide Bestimmungen in Bezug auf Sozialausgaben getroffen: Für Bildung und Gesundheit muss seither ein (für die föderalen Ebenen unterschiedlich) festgelegter Mindestprozentsatz des Gesamtbudgets (von Bund, Bundesstaat oder Gemeinde) ausgegeben werden. Die zur Finanzierung des in der Verfassung angedeuteten Wohlfahrtsstaates notwendige Steuerbasis wurde trotzdem nicht ausreichend gesichert. Dennoch war Brasilien in den 1990er Jahren eines der wenigen Länder Lateinamerikas, in denen die staatlichen Sozialausgaben nicht zurückgingen, sondern sogar gestiegen sind (Filgueira/Filgueira 2002; vgl. Abb. 14).

Abbildung 14: Sozialausgaben Brasiliens, in % des BIP

Quelle: Castro et al. 2009: 97

Die Universalisierung des Sozialsystems stellt einen deutlichen Bruch mit der Tradition „struktureller Heterogenität“ im Sozialsystem dar. Dennoch blieb eine spezifische subalterne Gruppe weitgehend aus den neuen Sozialbestimmungen ausgeschlossen: Die Haushaltsangestellten (als am schlechtesten entlohnte Gruppe, die 1996 7,8% aller Beschäftigten ausmachte; vgl. Tab. 21), die als Lohnarbeiterinnen weiterhin für Dienste im Haushalt verantwortlich sind, die früher von Haussklavinnen verrichtet wurden. Diese Berufsgruppe, auf die große Teile von Mittel- und Oberschicht zurückgreifen, wurde aus wichtigen Regelungen ausgenommen (IPEA 2011h; Lima et al. 2010). Der neue Diskurs der Cidadania schloss also eine Gruppe nicht mit ein, die historisch zu den am stärksten benachteiligten Gruppen gehörte und akzeptierte somit ihren subalternen Status. Ähnlich verhält es sich mit den informell Beschäftigten im urbanen Bereich (vgl. Abb. 22), denen im Gegensatz zu den LandarbeiterInnen kein Anrecht auf eine staatliche Mindestrente gewährt wurde.

Bonetti, Fontoura und Marins (2009) argumentieren, dass Frauen insgesamt der Status als gleichberechtigte Staatsbürgerinnen vorenthalten wurde, da die Verfassung (im Einklang mit der brasilianischen paternalistischen Tradition) Frauenrechte bloß in Bezug auf die Rolle der Frau innerhalb der Familie definierte. Das wichtigste Thema, das die Frauenbewegung einbringen konnte, war häusliche Gewalt, die dank der Verfassung besser gesetzlich verfolgt werden konnte. Dies gelang jedoch nur über die Anrufung des „höheren Ideals“: Das Wohl der Familie wurde verhandelt und nicht die individuellen Rechte der Frau. Daraus folgern Bonetti, Fontoura und Marins (Bonetti et al. 2009, S. 202; 208ff.), dass Frauen bloß als subalterne Staatsbürgerinnen anerkannt wurden (cidadania feminina subalterna).

Im Gegensatz dazu wurde in der Verfassung von 1988 erstmals offiziell festgestellt, dass es in Brasilien Rassismus und rassistische Vorurteile gibt. Das in der Verfassung festgehaltene Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit schloss auch die Notwendigkeit antirassistischer Maßnahmen mit ein. Dennoch war der Stand der afro-brasilianischer Bewegung vergleichbar mit dem subalternen Status der Frauenbewegung (Jaccoud et al. 2009b). Die starke Gewerkschaftsbewegung sowie die linken Parteien, denen Oliveira (2006a, S. 36) in dieser Phase „moralische Vorherrschaft“ attestiert, sahen die Zentralität des Klassenkampfes durch den Fokus auf rassistische Diskriminierung gefährdet. Daher konnte das positive Momentum, das den afro-brasilianischen Bewegungen im Zuge des 100jährigen Jubiläums der Abschaffung der Sklaverei zukam, nicht in vergleichbare institutionelle Lösungen wie in der Sozialpolitik umgemünzt werden. Der Umgang mit Rassimus wurde institutionell weiterhin als Teil der „sozialen Frage“ begriffen (Jaccoud et al. 2009b; vgl. auch: Jaccoud 2009; Marx 2006). Lösungen orientierten sich bis 2003 ausschließlich am Einkommensniveau der Betroffenen, während deren Hautfarbe nicht berücksichtigt wurde.

Die brasilianische „one nation strategy“ zielte also auf gleiche staatsbürgerliche Rechte für alle ab. Gemäß den Kategorien Frasers (2003) waren Repräsentation (im Rahmen der umfassenden neuen Gesetze, die demokratische Beteiligung am Staat regelten) und Umverteilung (die zwar verrechtlicht über staatliche Sozialpolitik erfolgen, aber sich nicht stark auf das regressive Steuersystem und das Arbeitsregime auswirken sollte) dominante gleichheitsorientierte Strategien. Anerkennung nahm zwar rhetorisch teilweise (bei der Anerkennung rassistischer Diskriminierung, aber nicht in Bezug auf besondere Rechte von Frauen) einen größeren Stellenwert ein, wurde aber nicht durch ähnliche institutionelle Regelungen abgesichert wie es bei Angelegenheiten von Repräsentation und Umverteilung geschah. Sozialpolitik wurde zum dominanten Modus gleichheitsorientierter Politik, die (in Anbetracht der Kritik am Patrimonialismus) stark verrechtlicht wurde.

Trotz der eben beschriebenen sozialen Fortschritte werden auch wichtige Kontinuitäten des Kurses der „konservativen Modernisierung“ und auch des Klientelismus thematisiert. Das Ausbleiben einer umfassenden Landreform (die auch danach noch von vielen BrasilianerInnen als eines der wichtigsten Mittel zur Reduktion von Ungleichheiten betrachtet wurde; vgl. Tab. 26) gilt diesbezüglich als augenscheinlicher Faktor. Ausbleibende Reformen des Steuersystems, das weiterhin regressiv wirkt, zeigen die Kontinuität der „konservativen Modernisierung“ an. Schließlich wurden auch Impulse der Demokratisierung – im Rahmen des umfangreichen Prozesses der Dezentralisierung – genutzt, um patrimoniale Merkmale der brasilianischen Gesellschaft zu erhalten: Abrucio (1998) zeigt in seiner Analyse, dass die Gouverneure der Bundesstaaten aufgrund des spezifischen Regelungen zu „Baronen der Föderation“ werden konnten: Die alten Strukturen von „Herrenhaus und Sklavenhütte“ wurden zwar grundsätzlich reformiert, blieben aber auch nach der Demokratisierung teilweise bestehen – politische insbesondere durch Gouverneure der Parteien PFL, PP, PTB und teilweise auch PMDB repräsentiert, die oft ökonomische und politische Macht vereinen konnten (Lenardão 2008).

  • [1] Die nun folgenden Ausführungen rekurrieren stark auf anderweitig publizierte Texte, insbesondere: Leubolt 2012; aber auch: Fischer und Leubolt 2012; Leubolt und Tittor 2008.
  • [2] Dank geht an die Professorin für Sozialpolitik an der Universidade de Brasília, Potyara Amazoneida Pereira Pereira, die diesen Hinweis in einem Interview am 12.11.2008 in Brasília gab.
  • [3] Steuern auf Konsum machten 1991 48,7% des gesamten Steuerauskommens aus, während einkommensbezogene Besteuerung – bei relativ schwacher Progression – im selben Jahr 38,1% des Steueraufkommens umfasste (Khair 2008: 2, Tab. 1).
 
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