Vom Dependenztheoretiker zum sozial-liberalen Reformer: Die Regierungszeit von Fernando Henrique Cardoso

Mit Cardoso wurde ein Kandidat gewählt, der ursprünglich mit der Linken identifiziert wurde. Im Wahlkampf wurde er dennoch von Parteien unterstützt, die dem rechten Spektrum zugeordnet werden: Neben PFL, PTB und PPB, die klar der Rechten zugeordnet werden, wurde seine Regierung durch die Zentrumspartei PMDB gestützt (sowie Cardosos Partei PSDB), während sich die linken Parteien auf Seiten der Opposition befanden. Ideologisch ergab sich dadurch die interessante Mischung von (teilweise) ehemals radikalen Linken aus dem Lager Cardosos mit den konservativen Parteien des Landes.

Seit den 1970er Jahren vertrat Cardoso (vgl. Cardoso 1993; Cardoso und Faletto 1976, S. 163ff.) die These, dass der brasilianische Kapitalismus keine eigenständige Bourgeoisie hervorbringen konnte. Vielmehr handle es sich um eine vom Auslandskapital abhängige Bourgeoisie, die zwar einerseits den Staat als Organisator brauche, aber gleichzeitig wenig Interesse an einer aktiven Beteiligung am „Entwicklungsstaat“ hätte, da ihr Verwertungsinteresse vor allem in Verbindung mit dem Auslandskapital bedient werden könnte. [1] Im Einklang mit linker Kritik der radikalen Schule der Dependenztheorie am Populismus ging Cardoso daher davon aus, dass eine „entwicklungsstaatliche“ Allianz progressiver Kräfte mit der nationalen Bourgeoisie nicht geeignet wäre, Brasiliens Status als „unterentwickelte“ Nation zu überwinden (Cardoso 1993; vgl. Fiori 2012).

Folgerichtig kündigte Cardoso gleich zu Beginn seiner Amtszeit an, mit dem populistischen Erbe der Ära Vargas ein für allemal brechen zu wollen (vgl.: Sallum Jr. 1999). Dieser Bruch betraf insbesondere den patrimonialen Staat, dessen Einfluss zurückgedrängt werden sollte. Im Einklang mit der neoliberalen Konjunktur der 1990er sollte der Bruch mit der Ära Vargas mit Hilfe von Deregulierung und Privatisierung von statten gehen. Zusätzlich wurden Staatsbetriebe im Einklang mit Methoden des „New Public Management“ reformiert (Bresser-Pereira 1997 ; zur Kritik vgl.: Oliveira 2001 bzw. zum Konzept: Pelizzari 2001). Entlassungen von Staatsangestellten waren eine der wichtigen Folgen dieses Programmes. Besonderes Aufsehen erregte diesbezüglich ein groß angelegter Streik der Gewerkschaft der Erdöl-ArbeiterInnen des staatlichen Erdölkonzerns Petrobras Ende 1995, der mittels staatlich angeordneter Repression beendet wurde: Der Kündigung von 85 maßgeblich am Streik Beteiligten folgte ein Beschäftigungsrückgang von 64.000 auf 35.000 Beschäftigte zwischen den Jahren 1994 und 2002. In dieser Zeit war auch der Gewerkschaftsverband CUT gezwungen, die Strategie von offensiven Lohnkämpfen auf defensive Arbeitsplatzsicherung umzustellen (Becker 2008a, S. 161f.; Leubolt und Auinger 2011). Das zeigt sich in der Statistik der Streiks, die zwischen 1996 und 2002 stark zurückgingen (vgl. Tab. 20).

Tabelle 20: Streiks und Aussperrungen, Brasilien, 1995-2009

1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

1,056

1,242

633

546

507

526

420

304

340

302

299

320

316

411

516

Quellen: laborsta.ilo.org; Boito Jr. und Marcelino 2010; DIEESE 2008

Nicht zuletzt aufgrund der Kritik an der Beziehung der brasilianischen Bourgeoisie zum Staat wurde auf „Globalisierung“ gesetzt, die Cardoso als alternativloses Phänomen der Neuzeit darstellte (Novy 2001b). Als wichtigste Problemkomplexe identifizierte Cardoso (1993, S. 239) neben ungleicher Verteilung und Auslandsverschuldung eine fiskalische und organisatorische Krise des Staates, die zur Hyperinflation führe, und internationalen Wettbewerb, der technologische Entwicklung und daher vermehrte Investitionen in Bildung notwendig mache. In diesem Zusammenhang wurde besonders in die Grundbildung investiert. Diese Investitionen zeigten durchaus positive Auswirkungen: Der Analphabetismus sank von 18 Prozent 1990 auf 11,8 Prozent 2002 (ipeadata.gov.br), da sich der Zugang zu öffentlichen Schulen stark verbesserte. Dennoch erscheint es als widersprüchlich, dass die Ausgaben für den Bildungsbereich trotz ihrer deklarierten Wichtigkeit nicht gesteigert wurden, sondern stagnierten (vgl. Abb. 17).

Abbildung 17: Staatl. Bildungsausgaben, Brasilien, 1995-2009, in % des BIP

Quelle: IPEA 2011e, S. 11

Die Schwerpunktsetzung in Cardosos Amtszeit orientierte sich also nicht vordergründig an der Bildung, sondern an den übrigen eben beschriebenen Eckpunkten: Die Inflationsrate wurde mittels des Plano Real von 2.708,2% p.a. im Jahr 1993 auf 14% p.a. im Jahr 1995 gesenkt und stabilisierte sich danach um die 10%Marke. Die wichtigsten Instrumente der Inflationsbekämpfung waren Hochzinspolitik sowie die Koppelung der brasilianischen Währung Real an den US-Dollar bei gleichzeitiger Überbewertung des Real. Diese Strategie wurde mit der Liberalisierung des Außenhandels gekoppelt, insbesondere der Senkung der Importzölle. Dadurch erlebten breite Teile der brasilianischen Bevölkerung eine unmittelbare Verbesserung des Lebensstandards: Der Wegfall der Inflationsverluste ging einher mit der Erhöhung der Kaufkraft. Importierte Waren wurden billiger. Das ermöglichte ärmeren BrasilianerInnen den Kauf von Elektrogeräten wie z.B. Fernsehern. Breitere Teile der Mittelschicht konnten sich nun Auslandsreisen leisten. Insgesamt wuchs die Mittelschicht in der direkten Folge des Einsetzens des Plano Real (Lahóz 2002). Kritische ÖkonomInnen (z.B.: Rocha 2002, S. 10) bezeichneten diese positiven Einkommenseffekte der überbewerteten Währung als „Wechselkurspopulismus“, der gravierende Auswirkungen auf die brasilianische Ökonomie hatte: Die brasilianische Industrie wurde in ihrer Wettbewerbsposition geschwächt, da im Ausland hergestellte Produkte schlagartig billiger wurden, während die Exporte teurer verkauft werden mussten (Fritz 2002). Argumentiert wurde diese Strategie vor dem Hintergrund einer notwendigen Reform des patrimonialen Staates, der die brasilianische Bourgeoisie mittels protektionistischer Maßnahmen von der internationalen Konkurrenz abschottete (Bresser-Pereira 1997, S. 13f.; Cardoso 1993). Negative Auswirkungen der Reformen auf die brasilianische Industrie wurden bewusst in Kauf genommen, da auf positive Wirkungen der „Konkurrenzpeitsche“ durch die erhöhte internationale Konkurrenz gebaut wurde.

Abbildung 18: Leistungsbilanz, Brasilien, 1990-2011, in % des BIP

Quelle: ipeadata.gov.br

Die Entwicklung der Leistungsbilanz in Abbildung 18 verdeutlicht die außenwirtschaftlichen Auswirkungen des makro-ökonomischen Kurses: Von 1995 bis 2001 war der negative Saldo stets über 2% des BIP. Zum Ausgleich der Leistungsbilanz (mittels positiver Kapitalbilanz) musste ausländisches Kapital angezogen werden. Dazu diente einerseits ein ambitioniertes Privatisierungsprogramm, um ausländische Direktinvestitionen anzulocken und andererseits die Hochzinspolitik. Die von der Weltbank ab 1997 erhobenen Daten des realen Zinssatzes (vgl. Abb. 19) zeigen, dass der Zinssatz im Jahr 1997 bei 65,5% p.a. lag.

Abbildung 19: Realzinssatz, Brasilien, in % p.a., 1997-2010

Quelle: World Bank 2011[2]

Diese hohen Zinssätze spiegelten sich auch in der Verzinsung von Staatsanleihen wieder, die in Brasilien mittels der SELIC-Rate gemessen wird, die gleichzeitig auch als Eckzinsrate für die Berechnungen der Zentralbank gilt (vgl. Abb. 20). Im Rahmen dieser Geldpolitik wurden finanzielle Investitionen gegenüber produktiven Investitionen lukrativer – Finanzialisierung war daher in Brasilien ein staatlich angetriebener Prozess (Bruno et al. 2011). Abbildung 20 zeigt die Entwicklung des staatlichen Basiszinssatzes (SELIC) zwischen 1995 und 2011. [3] Die hohen Zinsen sollten einerseits dafür sorgen, dass Inflation nicht über gesteigerte Nachfrage entstehen konnte. Zusätzlich wurden durch die hohen Zinssätze Finanz-Investments gegenüber Investitionen in die Modernisierung von Maschinen u.ä. attraktiver.

Abbildung 20: Zinssatz SELIC, in % p.a. (nicht inflationsbereinigt), 1995-2011

Quelle: ipeadata.gov.br

Bruno u.a. (2011) argumentieren, dass dadurch Tendenzen zur Finanzialisierung der brasilianischen Ökonomie, die schon in der Zeit der Hyperinflation begonnen hatten, durch das Hochzinsregime beschleunigt wurden. [4] Das hatte negative Auswirkungen auf die Industrie. In weiterer Folge stieg die Arbeitslosigkeit, während der informelle Sektor auf hohem Niveau stagnierte (vgl. Abb. 21 u. 22). Wie schon zuvor angedeutet, kann der informelle Sektor als Fortsetzung der historischen Exklusion großer Teile der Bevölkerung begriffen werden. Während der 1990er Jahre arbeiteten zwischen 56,7% (1996 und 1997) und 57,6% (1999) der Erwerbstätigen im informellen Sektor (vgl. Abb. 22).

Abbildung 21: Arbeitslosigkeit, Brasilien, 1981-2009, % der Erwerbstätigen

Quelle: World Bank 2011 [5]

Abbildung 22: Informeller Sektor, Bras., 1992-2009, % der Beschäftigten

Quelle: ipeadata.gov.br [6]

Dennoch führte die Einführung des Plano Real zu unmittelbaren Verbesserungen für arme Menschen: Der Wegfall der Inflationsverluste führte zu gesteigerter Kaufkraft (vgl. die Entwicklung des Durchschnittslohns in Abb. 16), insbesondere bei denen, die sich zuvor nicht mittels Bankkonten absichern konnten. Zusätzlich führte die überbewertete Währung in Verbindung mit der Handelsliberalisierung zur Verbilligung importierter Güter, wodurch der Konsum von Unterhaltungselektronik (insbesondere TV-Geräte) zunahm (Lahóz 2002). Daher brachte die Einführung des Plano Real gerade für die ärmeren BrasilianerInnen materielle Besserstellung gepaart mit Stabilität und sicherte der Regierung damit die Unterstützung dieser Gruppe (Singer 2009). Auch für reichere BrasilianerInnen brachte der Plano Real materielle Verbesserungen. Die überbewertete Währung verbilligte nicht nur den Konsum importierter Waren, sondern auch Auslandsreisen (Becker und Jäger 2005). Aufgrund der zuvor dargestellten negativen Auswirkungen der Überbewertung diagnostizieren KritikerInnen (z.B. Rocha 2002) „Wechselkurspopulismus“.

Die wohl dauerhaftesten Verbesserungen kamen aber schließlich den reichsten BrasilianerInnen und ausländischen InvestorInnen zu Gute: Die hohen Zinssätze auf Staatsanleihen garantierten sichere Ertragschancen, die zusätzlich durch Indexierung an den US-Dollar abgesichert wurden. Die Kosten der Abwertung im Zuge der Finanzkrisen 1998/99[7]und 2002 wurden aufgrund dieser Indexierung vordergründig vom Staat getragen, der auch (besonders mit Hilfe von Operationen der Staatsbanken) private Verluste beglich. Abbildung 23 zeigt die monatliche Entwicklung der Zahlungen für den Schuldendienst, [8] bemessen am (monatlichen) Bruttoinlandsprodukt. Sowohl zu Beginn des Plano Real 1994 als auch im Zuge der Krise von 1998/99 sind deutliche Anstiege zu bemerken.

Abbildung 23: Monatl. Schuldendienstzahlungen, Brasilien, 1991-2001, in % des BIP [9]

Quelle: BNP, zit. nach: ipeadata.gov.br

Abbildung 24 zeigt die Entwicklung der Staatsschulden, bemessen am BIP. Im Zuge der Finanzkrise 1998/99 stieg die Staatsverschuldung innerhalb eines einzigen Monats (Dez. 1998) von 38,9% des BIB auf 47,1% des BIP (Jan. 1999) an. Der Staat steuerte auf eine Fiskalkrise zu, die sich im Jahr 2002 zuspitzte, als der Schuldenstand (Sep. 2002) bei 56% des BIP seinen Höchststand erreichte. Durch Hochzinspolitik in Verbindung mit Verstaatlichung von Krisenverlusten wurden vordergründig die Interessen des Finanzkapitals bedient (Vernengo 2007).

Abbildung 24: Staatsverschuldung, Brasilien, in % des BIP

Quelle: ipeadata.gov.br

Während der Finanzkrise 1998/99 musste die Regierung alles tun, um Kapitalabzug zu verhindern. Daher wurden die Zinssätze auf kurzfristige Staatsanleihen nahezu verdoppelt (vgl. Abb. 23). Gleichzeitig wurde der Real innerhalb kurzer Zeit stark abgewertet (zwischen 1998 und 1999 auf nahezu die Hälfte des Wertes in US Dollar) und Währungsreserven der Zentralbank wurden verkauft. Durch die Indexierung der Staatsanleihen an den Dollar und das Einspringen des Staates (durch die Staatsbanken und den Verkauf von Währungsreserven) wurden die Abwertungsverluste weitgehend verstaatlicht (Becker und Jäger 2005; vgl. auch Abb. 24). Nationale und internationale Rentiers profitierten hingegen vom hohen Zinsniveau (Bruno et al. 2011) und können daher als GewinnerInnen der Krise betrachtet werden. Die Einkommenskonzentration nahm weiter zu, da sich die funktionale Verteilung zu Gunsten des Kapitals veränderte (Vernengo 2007).

Die weitgehende Verstaatlichung der Krisenverluste erhöhte den Druck auf die Fiskalpolitik. Nach der Krise 1998/99 wurden sogar Gesetze verabschiedet, die eine Re-Zentralisierung und Umwidmung der Staatsausgaben ermöglichten, um den Schuldendienst bedienen zu können. Dadurch verringerte sich der finanzielle Spielraum, insbesondere im Hinblick auf die Sozialpolitik. [10] Damit war die größte Errungenschaft gleichheitsorientierter Politik, die im Zuge der Demokratisierung errungen wurde, in Gefahr: Die unmittelbare Auswirkung der intendierten Universalisierung der Sozialpolitik im Zusammenspiel mit der ausbleibenden Ausweitung ihrer Finanzierung war das Absinken der Qualität der öffentlichen Dienstleistungen. In der Bildungspolitik macht sich das in der schlechten Qualität der Grundausbildung bemerkbar (IPEA 2005: 70f). Außerdem zeigt sich sowohl in der Bildungswie auch in der Gesundheitsversorgung der Exodus der Ober- und Mittelschichten aus dem öffentlichen System in private Schulen und Krankenhäuser. 1990 gingen noch 86,9 Prozent der Kinder des reichsten Zehntels der Bevölkerung in öffentliche Schulen, 1998 waren es nur noch 18,49 Prozent. In der Gesundheitsversorgung sank die Frequentierung seitens des reichsten Zehntels von 15,95 Prozent auf 3,46 Prozent (Ramos 2000).

Solche Entwicklungen wurden unter dem Schlagwort „sozialer Treffsicherheit“ argumentiert. Dabei geht es darum, dass nur die „Bedürftigen“ staatliche Unterstützung erhalten sollen, während die als „nicht bedürftig“ eingestufte Bevölkerung nicht mehr privilegiert wird, sondern stattdessen für die in Anspruch genommenen Dienstleistungen zahlen soll. In Anbetracht des vorher sehr ungleichen Zugangs zu öffentlichen Dienstleistungen ist die Legitimationsbasis des „Treffsicherheits-Paradigmas“ groß. Es diente (neben Hinweisen auf Probleme der Finanzierbarkeit) z.B. als Legitimation für Cardoso, um 1998 das Rentensystem des Privatsektors zu reformieren – wobei der Durchrechnungszeitraum und das Rentenantrittsalter erhöht sowie ein Höchstbezug von R$ 1.200 (der seither an die Inflation angepasst wird) eingeführt wurden. Im Zuge des „Treffsicherheits-Paradigmas“ wurden auch staatliche Leistungen umgestellt. So stellte z.B. die Regierung Cardoso die Gas-Subventierung ein und stellte auf monatlich R$ 15 Gas-Beihilfe zum Kochen für bedürftige Personen um. 2001 führte Cardoso zusätzlich die Programme Bolsa Escola und Bolsa-Alimentação ein, die mit der Familienbeihilfe vergleichbar sind und einen maximalen Betrag von R$ 45 monatlich für arme Familien bedeuteten. In Verbindung mit dem in der Verfassung 1988 festgehaltenen und 1996 durch das Sozialhilfegesetz LOAS (Lei Orgânica da Assistência Social; vgl.: Sposati 2007) reglementierten Einkommenstransfer an besonders Bedürftige (BPC – Benefício de Prestação Continuada) waren diese Umstellungen hauptverantwortlich für die starke Erhöhung der Ausgaben für Sozialhilfe ab 1995 (vgl. Tab. 21).

Tabelle 21: Sozialleistungen Brasiliens, 1980-2005

1980

1985

1990

1995

2005

Kanalisation

5,0%

5,0%

4,2%

1,3%

1,2%

Arbeitsmarktpolitik

0,3%

0,3%

5,1%

2,2%

2,9%

Sozialhilfe

1,6%

1,7%

2,3%

2,1%

4,8%

Wohnbau

13,4%

8,8%

7,2%

7,3%

3,8%

Gesundheit

16,9%

16,4%

16,5%

16,1%

15,2%

Bildung

19,6%

22,0%

22,2%

20,7%

18,5%

Leistungen an BeamtInnen (Renten)

42,9%

44,5%

41,1%

22,5%

19,7%

Sonstige Renten

26,0%

32,0%

andere

0,4%

1,2%

1,4%

1,9

1,9%

Quelle: Castro et al. 2009: 98

Entgegen dem in der Verfassung eingeschlagenen Fokus auf soziale Rechte, wurde unter Cardoso auch die philanthropische Tradition des brasilianischen Sozialsystems mittels politischer Programme gestärkt. Neben zahlreichen PrivatePublic Partnerships im Gesundheitsbereich kann insbesondere das Programm „Comunidade Solidária“ als paradigmatisch dafür benannt werden. Unter der Schirmherrinnenschaft der Präsidentengattin Ruth Cardoso wurde versucht, zivilgesellschaftliche Hilfsbereitschaft staatlich zu organisieren, sodass z.B. im Rahmen von Universitätskursen für eine Woche freiwillig Sozialarbeit in Armenvierteln geleistet wurde (vgl.: Mauriel 2006, S. 65ff.). Zusätzlich wurde auch auf Corporate-Social-Responsibility (CSR) gesetzt – also die soziale Verantwortung von Unternehmen, die gleichzeitig auch als Instrument im Marketing-Mix eingesetzt wird. Speziell im Bereich der Sozialhilfe im engeren Sinn nehmen seit den 1990ern (insbesondere kirchliche) NGOs eine wichtige Stellung ein (IPEA 2007: 88f).

Die Veränderungen der Sozialpolitik führten dazu, dass das bis in die 1980er Jahre konservativ-korporatistisch geprägte Sozialsystem Brasiliens (Fischer und Leubolt 2012, S. 48f.; vgl. auch: Soares 2001, S. 25ff.) stärker universalistische Züge annahm, da die vormals ausgeschlossene marginalisierte Bevölkerung nunmehr mit eingebunden wurde. Gleichzeitig handelte es sich nicht um einen Universalismus nach dem Vorbild sozialdemokratischer Wohlfahrtsstaaten (vgl. dazu: Esping-Andersen 1998): Durch den Exodus der Ober- und Mittelschichten, die in einem sozialdemokratischen System verstärkt Druck zur Verbesserung bzw. Aufrechterhaltung der Qualität der Dienstleistungen üben würden, entsteht kein direktes Bündnis mit den Armen, die nunmehr auf Basisversorgung zurückgreifen müssen, während Mittel- und Oberschichten sich gezwungen sehen, auf marktbasierte Dienstleistungen zurückzugreifen (Fischer und Leubolt 2012). Diese Veränderungen entsprechen dem liberalen Modell eines Sozialregimes, das Fürsorge für „deserving poor“ und marktbasierte Lösungen für alle anderen vorsieht. Die Dynamik, die durch die Verfassung von 1988 ausgelöst wurde, sah dennoch im Prinzip eine stärker universalistische Bereitstellung sozialer Dienstleistungen vor. Die Reformen ab den 1990er Jahren konterkarierten diesen Trend (vgl.: Fagnani 2005, S. 393ff.). Die dynamischste Entwicklung ab Mitte der 1990er Jahre zeichnete sich bei sozialen Einkommenstransfers ab (Silva e Silva et al. 2007). Dieses zentrale Element einer „Pauperisierung“ (Seekings 2008, 2012) der Sozialpolitik führte gleichzeitig zu deren Monetarisierung (Fischer und Leubolt 2012).

Der Trend der Einführung von Sozialtransfers wurde von einem Diskurs begleitet, der das „Empowerment“ von Personen gegenüber klientelistischen Staatstätigkeiten (wie z.B. die Bereitstellung von Nahrungspaketen für Arme) favorisierte. „Es ist besser, Menschen das Fischen beizubringen als ihnen Fische zu geben“ ist wohl der am meisten gebrauchte Spruch in diesem Zusammenhang (Vianna 2008, S. 128, 137). Aufgrund verschiedener Arrangements der Auszahlung kam es mancherorts zu einer Auflösung alter patrimonialistischer und klientelistischer Strukturen. Es kam aber andererorts auch zu einer Transformation dieser Verhältnisse, da neue Abhängigkeiten zu den politischen EntscheidungsträgerInnen entstehen konnten. Die im Rahmen von Private-Public Partnerships (wie z.B. der Comunidade Solidária) entstehende Charity konnte ebenso wie willkürliche Entscheidungen bezüglich der Bedürftigkeit dazu beitragen, dass assistenzialistische und klientelistische Strukturen wiederaufleben konnten, die als Grundlage für den Patrimonialismus gelten (Fagnani 2005; Lenardão 2008; Mauriel 2006; Vianna 2008).

Die hier skizzierten Geschehnisse wirkten sich auch auf das brasilianische Ungleichheitsregime aus, das – im internationalen Vergleich verspätet und unvollständig – neoliberalen Transformationen unterworfen wurde. Die Transformationen betrafen vordergründig direkt den Staat: Im Prozess der Demokratisierung wurde erst danach getrachtet, den Staat für alle Bevölkerungsgruppen zu öffnen. Die Öffnung betraf nicht nur das Wahlrecht, sondern auch staatliche Leistungen: Die Universalisierung von Sozialpolitik und öffentlichen Einrichtungen und ihre Demokratisierung mittels partizipativer Gremien war der Weg, der sich so weit durchsetzen konnte, dass er in der Verfassung von 1988 institutionalisiert wurde. Ansätze, die den nicht-staatlichen Sektor betrafen – wie z.B. eine seit vielen Jahrzehnten eingeforderte Landreform, eine tiefgreifende Reform und Vertiefung der Arbeitsrechte (die weitgehend in der unter Vargas eingeführten Form bestehen blieben), oder auch eine bessere rechtliche Stellung für Hausangestellte, um auch ihren Status als vollwertige StaatsbürgerInnen zu untermauern – blieben hingegen weitgehend aus. Umso mehr überrascht es daher, dass in den 1990er Jahren einstige progressive KritikerInnen des Militärregimes staatliche Einflüsse aufgrund des patrimonialen Charakters des Staates generell zurückdrängen wollten. Das wirkte sich in Privatisierungen und der Liberalisierung von Außenhandel und Kapitalmarkt aus. Im Zuge des Inflationsbekämpfungsprogrammes Plano Real wurden diese Schritte weiter verstärkt. Die Gleichsetzung von staatlichem Interventionismus mit Patrimonialismus fand auch Einzug in die Sozialpolitik: Basisversorgung und staatliche Sozialtransfers für die Ärmsten sollte das „Empowerment“ von Personen gewährleisten und mit Klientelismus und Assistenzialismus brechen. Dadurch wurden aber teilweise alte klientelistische Arrangements wiederbelebt, da neue Abhängigkeiten zu politischen EntscheidungsträgerInnen und/oder privaten WohltäterInnen entstanden. Zusätzlich führte die ökonomische Dynamik zur Ausweitung der Gruppe der Marginalisierten. Patrimoniale Charakteristika von Reproduktionsweise und Haushaltsform wurden insgesamt zwar erneuert, blieben aber weitgehend bestehen.

Wie Abbildung 25 verdeutlicht, wirkten sich die eben beschriebenen Reformen auf das brasilianische Ungleichheitsregime aus: Das Zusammenspiel sozialer und demokratischer mit neoliberalen Reformen wird hier in Anlehnung an den „dritten Weg“ der Sozialdemokratie (Giddens 1998) als „peripherer dritter Weg“ bezeichnet. Die Reproduktionsweise veränderte sich sozial selektiv: Während den Marginalisierten Ansprüche auf soziale Basisversorgung zugestanden wurde, zog sich der Staat von der Bereitstellung sozialer Infrastruktur für Mittel- und Oberschicht zurück. Steigende Kosten sozialer Dienstleistungen und sinkende Durchschnittslöhne machten eine weitere Proletarisierung weiblicher Arbeitskraft notwendig.

Abbildung 25: Ungleichheitsregime Brasiliens, 1990er bis Mitte 2000er Jahre

Quelle: Eigene Darstellung

Die Strukturen „struktureller Heterogenität“ bzw. „Herrenhaus und Sklavenhütte“ hatten dennoch weiter in Gestalt der sehr niedrig entlohnten Haushälterinnen Bestand (näher zu den Veränderungen im Lohnverhältnis v.a. im folgenden Abschnitt zur Sozialstruktur). Die weitgehend ausgebliebene Landreform verhinderte weiterhin Subsistenzproduktion als Ausweg privater Reproduktion, sodass die Urbanisierung in den bestehenden Zentren zwar stagnierte, sich aber auf neue Räume ausdehnte. Daher kam es zu einer weiteren Proletarisierung der Reproduktion, die einen weiteren Schub der Kommodifizierung bewirkte.

Besonders relevante Reformen betrafen die Veränderung der monetären Restriktion: Die Hyperinflation der 1980er und beginnenden 1990er Jahre wirkte als Katalysator der Finanzialisierung, der dann durch die Reformen im Zuge der Inflationsbekämpfung mittels des Plano Real ab 1994 noch beschleunigt wurde. Hochzinspolitik in Verbindung mit der überbewerteten Währung führten nicht nur zur steigenden Bedeutung des Finanzkapitals gegenüber dem produktiven Kapital, sondern auch zu stark erhöhter Abhängigkeit von der Zufuhr von Auslandskapital. Um fatale Folgen der dadurch begünstigten Finanzkrise zu vermeiden, wurden staatliche Mittel benötigt. Das führte zum sprunghaften Anstieg der Staatsverschuldung und in weiterer Folge zur Notwendigkeit des Senkens von Staatsausgaben. Diskursive Leitlinie war „ökonomische Stabilität“, die mit dem Ende der Hyperinflation assoziiert wurde (Sallum Jr. 1999).

Die Reformen beeinflussten auch das Konkurrenzverhältnis: Mittels der Liberalisierungsmaßnahmen wurde der korporatistische Pakt der ISI zwischen Staat, brasilianischer und ausländischer Industrie gebrochen. Stattdessen setzte die Geldpolitik in Verbindung mit der Außenhandelsliberalisierung die brasilianische Industrie verstärktem internationalen Konkurrenzdruck aus. Die Betriebe mussten unter erschwerten Bedingungen modernisieren. Einige wurden dadurch kompetitiver während andere ihre Aktivitäten in den nun florierenden Finanzsektor verlagerten. Die Auswirkungen dieser Reformen auf das Lohnverhältnis werden im folgenden Abschnitt zur Entwicklung der Sozialstruktur näher erläutert.

Abbildung 26 geht auf die Grundformen Staat, Markt und Zivilgesellschaft im brasilianischen Ungleichheitsregime und deren Bezug zur gleichheitsorientierten Politik ein. Generell zeichnete sich die Regulationsweise des „peripheren Dritten Weges“ in Brasilien durch die Übertragung von Macht und Aufgaben des Staates an den Markt aus. Das geschah einerseits mittels der Privatisierungen – aufgrund der Kreditfinanzierung mittels der staatlichen Entwicklungsbank BNDES dennoch ein staatsgetriebener Prozess. Die Umstrukturierung in der Sozialpolitik hatte zweierlei zufolge: Die Ausweitung staatlicher Sozialpolitik auf die Ärmsten führte dazu, dass Aufgaben, die zuvor inner-familiär oder nachbarschaftlich von der Zivilgesellschaft übernommen werden mussten, nun staatlich getragen wurden. Gleichzeitig führte das „Crowding Out“ von Mittel- und Oberschichten dazu, dass für diese Gruppen die marktförmige Bereitstellung sozialer Dienstleistungen an Bedeutung gewann.

Zwischen regulativer und distributiver Politik bestanden enge Verbindungen, weil die Hochzinspolitik in Verbindung mit der Verstaatlichung privater Verluste im Zuge der Krise von 1998/99 dazu führte, dass die Spielräume in der Fiskalpolitik kleiner wurden. Da gleichzeitig das Steuersystem nicht nennenswert reformiert wurde, konnten die Sozialausgaben nicht in dem Ausmaß erhöht werden, das notwendig gewesen wäre, um qualitativ hochwertige Dienstleistungen für alle zur Verfügung zu stellen. Das fiel umso mehr ins Gewicht, weil sich die Situation am Arbeitsmarkt gegen Ende der 1990er Jahre generell verschlechterte und Arbeitslosigkeit und Informalität zunahmen.

Abbildung 26: Gleichheitsorientierte Politik, Brasilien, 1990er bis Anfang 2000er Jahre

Quelle: eigene Darstellung

Gezielte Maßnahmen einer Affirmative Action Politik können in dieser Epoche kaum beobachtet werden.

  • [1] Frank (1974) argumentierte ähnlich und bezeichnete die Bourgeoisie Lateinamerikas aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Auslandskapital und des dadurch fehlenden Interesses, sich aktiv in ein nationales Entwicklungsprojekt einzubringen, als „Lumpenbourgeoisie“. Frank und Cardoso standen mit dieser Charakterisierung gegen die Position vieler kommunistischer Parteien Lateinamerikas (auch Brasiliens), die auf eine anti-imperialistische Allianz zwischen Proletariat und nationaler Bourgeoisie (gegen die vom Auslandskapital abhängige „Kompradorenbourgeoisie“) setzten (Aguila und Bortz 2006).
  • [2] Der Realzinssatz bezieht alle Formen von Kredit mit ein und enthält damit so unterschiedliche Kreditformen wie Überziehungskredite von Bankkonten oder geförderte Kredite der Entwicklungsbank BNDES. Letztere forcierte ab 2003 die Vergabe geförderter Kredite an Klein- und Mittelbetriebe.
  • [3] Nachdem es sich um nicht inflationsbereinigte Werte handelt, würde eine Darstellung der Zinssätze vor 1995 wenig Sinn ergeben. Zwischen 1995 und 1998 sank die Inflation von 14,8% p.a. auf 1,7% p.a. Während die Werte von 1995 daher in Realtermini etwas niedriger wären, handelt es sich bei den Spitzen im Jahr 1998 nahezu um real ausbezahlte Zinsen. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Zinsen beträchtlich angehoben, um im Zuge der Finanzkrise (mehr dazu später) dringend benötigtes Auslandskapital anzulocken.
  • [4] In Fällen wie z.B. den USA kam es zu einer gesellschaftlichen Verallgemeinerung der Finanzialisierung, die insbesondere über den Immobiliensektor und daran hängenden Hypothekarkrediten vermittelt wurde. Im Gegensatz dazu beschränkte sich die Finanzialisierung auf reichere BrasilianerInnen, deren Investitionen vom produktiven Sektor in den Finanzsektor wanderten. Für Brasilien kann daher „passive Finanzialisierung“ (Becker et al. 2010) diagnostiziert werden, die stärker als im zuvor beschriebenen Fall der „aktiven Finanzialisierung“ staatsgetrieben von statten ging.
  • [5] Die hier verwendete landesweite Statistik gilt in Brasilien als weniger umfassend als Werte, die sich bloß auf die metropolitanen Regionen um die größten Städte des Landes beziehen. Da letztere aber keine nationalen Statistiken sind, wird hier auf die Arbeitslosigkeitsstatistik zurückgegriffen, die das ganze Land erfasst. Die metropolitane Arbeitslosigkeit wird oft mit ca. dem doppelten Wert der nationalen Rate beziffert. Der informelle Sektor (vgl. Abb. 22) gibt aber vielfach ein besseres Bild der Beschäftigungssituation ab, da viele Arbeitssuchende gezwungen sind, sich auf eigene Faust durchzuschlagen.
  • [6] Die Statistik bezieht sich auf die Messmethode mit der breitesten Definition des informellen Sektors (definição II): Als informell beschäftigt gelten alle „ohne Arbeitskarte“ (sem carteira: Seit Inkrafttreten der CLT im Jahr 1942 haben alle formell Beschäftigten eine Arbeitskarte), alle selbständigen ArbeitnehmerInnen (trabalhadores por conta própria) sowie alle unbezahlten Arbeitskräfte. Letztere Gruppe würde in den engeren Definitionen (I & III) nicht berücksichtigt werden.
  • [7] Die Finanzkrise trat in weiterer Folge der Süd-Ost-Asien-Krise auf (Jessop und Sum 2006: 187ff.). Neben den externen Einflüssen der Weltwirtschaft gilt insbesondere das hohe Leistungsbilanzdefizit (als Folge des Plano Real) als wichtiger interner auslösender Faktor. Da 1998 ein Wahljahr war, wurde mittels staatlicher Investitionen danach getrachtet, die Auswirkungen abzufedern. Dadurch wurde die Krise zum Jahreswechsel 1998/99 verzögert, auf Kosten von stark steigenden staatlichen Defiziten (Fiori 2001b; Singer 1999).
  • [8] Es handelt sich dabei eigentlich nahezu ausschließlich um die Abzahlung der Zinsen für aufgenommene Kredite. Die bras. Zentralbank (BCB) bezeichnet die Zahlungen daher als „juros reais“. Das könnte wortgetreu als Zinsendienst übersetzt werden, die Bezeichnung Schuldendienst ist aber in der Literatur gebräuchlicher.
  • [9] Die in dieser und der folgenden Abbildung angegebenen Daten zur Verschuldung beziehen die Staatsbetriebe Petrobras und Electrobras mit in die Berechnung ein (setor público – com Petrobras e Eletrobras).
  • [10] Die folgenden Absätze beziehen frühere Arbeiten zur brasilianischen Sozialpolitik mit ein: Fischer und Leubolt 2012; Leubolt 2012; Leubolt und Tittor 2008, 2009.
 
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