Die soziale Seite der Regierung Lula
Fundamentale Veränderungen der Wirtschaftspolitik sollten erst ab dem Beginn der 2. Amtszeit Lulas erfolgen (vgl. z.B.: Schmalz und Ebenau 2011, S. 63ff.). Abseits der Wirtschaftspolitik wurden aber schon während der ersten Amtsperiode sozialpolitische Maßnahmen getroffen, die Armut (und in geringerem Ausmaß auch) Ungleichheiten reduzierten und damit auch in weiterer Folge Lulas Wiederwahl sicherten (Hunter und Power 2007): In der Sozialpolitik zeigte sich gleichzeitig eine Fortführung des auf Armutsbekämpfung fokussierenden Modells Cardosos wie auch dessen Radikalisierung. [1] Das zentrale Programm war anfänglich das Fome Zero (Null Hunger; vgl. IPEA 2007: 102ff), das besonders auf Zusammenarbeit mit privaten Akteuren setzte.
Abbildung 36: EmpfängerInnen, Bolsa Família, 2004-2012, Mio. Familien
Quellen: Eigene Darstellung, nach: MDS 2012; Soares und Sátyro 2010, S. 44
Bald verschob sich der Fokus jedoch auf den Ausbau und die bessere Koordination der Einkommenstransferprogramme der Regierung Cardoso im Rahmen von Bolsa Família (Familienbeihilfe; vgl. ebda.: 104ff). Änderungen betrafen einerseits die Anspruchsberechtigten, deren Kreis ausgeweitet wurde.
Abbildung 36 zeigt die Ausweitung der Anspruchsberechtigten sowie den schrittweisen Übergang von den Programmen der Regierung Cardoso („Andere“) zur Bolsa Família. Die obigen Statistiken beziehen sich auf Angaben aus dem Kataster und geben daher die genaue Anzahl der Auszahlungen bis zum 31.7.2012 an. Andere Statistiken (wie z.B. in Abb. 37) zählen die Vorgängerprogramme zur Bolsa Família hinzu. In dieser Manier wurde auch erhoben, wie hoch der Anteil der direkt oder indirekt (als Familienmitglieder) von den Auszahlungen profitierenden Bevölkerung ist.Tabelle 31 zeigt, dass dieser Anteil von 5,8% im Jahr 2001 auf 22,2% im Jahr 2009 stieg. Die weiteren Steigerungen der Begünstigten danach lassen vermuten, dass 2012 mehr als ein Viertel der BrasilianerInnen Bolsa Família erhielten. Zusätzlich wurde auch der ausbezahlte Betrag laufend erhöht wie die Differenz der Durchschnittseinkommen mit und ohne Bolsa Família in Tabelle 31 zeigt. Dadurch erhöhte sich der Anteil der Auszahlung von Bolsa Família bzw. der vorhergehenden Programme der Einkommenstransfers am BIP von 0,06% des BIP im Jahr 2002 auf 0,32% im Wahljahr 2006 und stieg seitdem weiter auf 0,44% im Jahr 2011 (vgl. Abb. 37).
Tabelle 31: EmpfängerInnen und Realeinkommen, Bolsa Família, Brasilien, 2001-2009
2001 |
2003 |
2005 |
2007 |
2009 |
|
Gesamtbevölkerung (Mio.) |
166,4 |
171,6 |
180,1 |
182,4 |
185,1 |
EmpfängerInnen Bolsa Família (Mio.) |
9,7 |
27,4 |
31,0 |
33,1 |
41,2 |
Anteil an Bevölkerung |
5,8% |
16,0% |
17,2% |
18,1% |
22,2% |
Durchschnittseinkommen incl. BF (in R$) |
336,- |
222,- |
225,- |
219,- |
233,- |
Durchschnittseinkommen excl. BF (in R$) |
328,- |
212,- |
211,- |
202,- |
212,- |
Quelle: Soares et al. 2010, S. 34
Bolsa Família wurde neben bestehenden Sozialtransfers (Benefício de Prestação Continuada – BPC) etabliert, die direkt auf die Verfassung von 1988 zurückgehen und für bedürftige ältere und/oder körperbehinderte Menschen vorgesehen sind. Sie richten sich daher nicht an alle Armen, sondern an besonders bedürftige Gruppen. Im Gegensatz zu Bolsa Família, deren Auszahlungsbetrag frei von der Regierung festgesetzt wird, ist der Auszahlungsbetrag des BPC direkt an die Höhe des Mindestlohns gekoppelt. [2]
Abbildung 37: Bolsa Família und BPC, 2002-2011, in % des BIP
Quelle: IPEA 2012b, S. 3
Die Auszahlung von Bolsa Família wird an die Durchführung von Impfungen sowie regelmäßigen Arzt- und Schulbesuch der Kinder gekoppelt. [3] Anspruchsberechtigt sind einkommensschwache Personen oder Familien, die unter eine von der Regierung festgelegte Einkommensgrenze[4] fallen. Bezugsberechtigt sind in erster Linie Frauen, die aufgrund gesetzlicher Regelungen automatisch als Familienoberhäupter anerkannt werden. Dadurch wird einerseits die finanzielle Unabhängigkeit von Frauen gestärkt, andererseits aber die genderspezifische Rollenverteilung in der Familie bekräftigt: Frauen sind weiterhin für die Care-Arbeit zuständig, werden aber nun vom Staat geringfügig entlohnt. In Bezug auf Geschlechterverhältnisse wird demnach der konservative Charakter der Sozialpolitik beibehalten (Mariano 2008; Santos et al. 2008). Gleichzeitig betonen qualitative Studien der Empfängerinnen der Bolsa Família die befreiende Wirkung, die das Einkommen auf die Frauen hat, die Investitionsentscheidungen treffen können und dadurch weniger von ihrem Partner abhängig sind (Mariano 2008; Suárez et al. 2006). Außerdem müssen sie nicht mehr gleichermaßen schlecht bezahlte Beschäftigungsverhältnisse eingehen wie zuvor (Tavares 2010; vgl. das Lohnniveau von Haushaltsangestellten in Tab. 23 und 24).
Einkommenstransfers können leicht als klientelistische Vehikel dienen. Daher kommt dieser Frage im Hinblick auf die brasilianische Vergangenheit große Bedeutung zu. Für Bolsa Família wurden seitens der Zentralregierung Wege der Zusammenarbeit mit Gemeinden gesucht, die lokalen Klientelismus verhindern sollten. Einerseits werden die in der Verfassung vorgesehenen sozialpolitischen Gemeindebeiräte für die Planung der Verteilung und als Kontrollinstanzen eingebunden. Andererseits existiert ein zentraler Kataster (Cadastro Único), der jederzeit online abrufbar und somit transparent ist. Ausbezahlt wird mit Hilfe einer der Staatsbanken an alle Familien, die im Kataster eingetragen sind. Durch diese Etablierung eines bürokratischen Verfahrens konnte der in Brasilien übliche Klientelismus erfolgreich zurückgedrängt werden. Der Anspruch auf Bolsa Família kann aber nicht eingeklagt werden – daher etablierte das Programm keine neuen sozialen Rechte (Jaccoud et al. 2009a, S. 221f.), obwohl klassisch klientelistische Arrangements vermieden wurden.
Gleichzeitig zeigt sich, dass die EmpfängerInnen der Bolsa Família bei der Wahl 2006 wichtige WählerInnen Lulas waren, während signifikante Teile der traditionellen WählerInnenbasis der PT den Kandidaten der Opposition wählten (Zucco 2008). Daher diagnostizieren KritikerInnen (z.B. Hall 2008) das Aufkommen eines neuen Klientelismus. Gleichzeitig ging die Zuwendung der Armen zu Lula und der PT mit einer Abwendung von Parteien einher, die vordergründig mit klientelistischer Politik in Verbindung gebracht werden (Zucco 2008 bzw. Lenardão 2008). Im Gegensatz zu den traditionellen Mustern des Klientelismus, die persönliche Abhängigkeiten der Armen gegenüber den Mächtigen beinhalteten, handelt es sich aber nun um eine gesetzlich klar verankerte materielle Besserstellung „von oben“ – durch den Staat. Damit wird ein Muster bedient, das in Brasilien eine lange Tradition hat und auch Anfang der 2000er Jahre noch präsent in den Ansichten der Bevölkerung war, die den Staat als hauptverantwortlich für die Reduktion von Ungleichheiten betrachtete (vgl. Tab. 28). Ähnlich argumentiert auch Singer (2009), der den Armen – bzw. dem „Subproletariat“ – den Glauben an einen starken Staat zuschreibt, der ihnen aus ihrer misslichen Situation helfen und gleichzeitig die bestehende Ordnung nicht gefährden solle.
Eine umfassende Studie der Einkommenseffekte von Bolsa Família (Soares et al. 2010) zeigt, dass die ausbezahlten Beträge 0,8% des Gesamteinkommens aller BrasilianerInnen ausmachen und geht trotz dieses geringen Wertes davon aus, dass 16% der Senkung der Einkommensungleichheit seit 1999 auf das Programm zurückzuführen ist. Dieser paradoxe Effekt wird auf die Fokalisierung zurückgeführt. Die weiterhin hohe Einkommensungleichheit führt dazu, dass die relativ niedrigen Auszahlungsbeträge der Bolsa Família die niedrigsten Einkommen deutlich erhöht.
Dennoch weist die Mehrzahl der Studien zur brasilianischen Einkommensungleichheit (z.B.: Baltar et al. 2010; IPEA 2011g) darauf hin, dass die Ungleichheitsreduktion nicht vordergründig durch Bolsa Família, sondern durch Änderungen des Lohnverhältnisses zu erklären ist. Eine aktuelle Studie des IPEA (2011g) zeigt, dass ein seit 1970 anhaltender Trend umgekehrt wurde: Zwischen 1970 und 2000 nahm der Anteil der Beschäftigungsverhältnisse mit einem Einkommen, das mehr als das Dreifache des Mindestlohns[5]betrug von 9,0% auf 28,7% der Beschäftigungsverhältnisse zu, während der Anteil der Verhältnisse, die mit weniger als dem Eineinhalbfachen des Mindestlohns remuneriert wurden, im gleichen Zeitraum von 77,1% auf 45,8% abnahm (vgl. Abb. 38).
Abbildung 38: Beschäftigungsverhältnisse, Brasilien, 1970-2009
Quelle: IPEA 2011g, S. 10
In den 2000er Jahren wurden hingegen mehr neue Arbeitsplätze geschaffen als in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren. Im Gegensatz zu den vorhergehenden Epochen handelte es sich dabei mehrheitlich um Beschäftigungsverhältnisse, die mit bis zu 1,5 Mindestlöhnen entlohnt wurden. Während auch Beschäftigungsverhältnisse mit Entlohnung zwischen 1,5 und 3 Mindestlöhnen stärker zunahmen als in den Perioden zwischen 1970 und 2000, kam es in den 2000er Jahren erstmals zu einer Abnahme von Arbeitsplätzen, die entweder unbezahlt waren oder mit mehr als drei Mindestlöhnen entlohnt wurden (IPEA 2011g, S. 9). Diese Neuaufteilung der brasilianischen Arbeitsplätze bestätigt Analysen, die das Anwachsen der „unteren Mittelschichten“ bzw. die Entstehung „neuer Mittelschichten“ diagnostizieren (z.B. Bomeny 2011). Die Neuaufteilung ist aber auch durch die Methode der Messung teilweise erklärbar: Seit 2003 wird der Mindestlohn beständig und signifikant erhöht, wie seine Entwicklung (in Reallohn-Termini) in Abbildung 38 zeigt. Die Entwicklung der Beschäftigungsverhältnisse zeigt aber jedenfalls auf, dass die Gruppe der „oberen Mittelschicht“ kleiner wurde bzw., dass ihr Vorteil in der Entlohnung gegenüber den „neuen Mittelschichten“ geringer ausfiel. Das stellt einen relativen Statusverlust dar, der teilweise auch reale Verluste des verfügbaren Realeinkommens beinhaltete, da viele Dienstleistungen (u.a. bezahlte Haushaltsarbeit) nun höher entlohnt werden müssen.
Abbildung 39: Mindestlohn, Brasilien, 1990-2010, in R$/Monat
Quelle: Eigene Darstellung, nach: ipeadata.gov.br
Um das Jahr 2000 verdienten, Lemos (2007, S. 700f.) zu Folge, 12,5% aller Privatangestellten und 7% aller Staatsbediensteten (15% der Beschäftigten waren im Staatssektor tätig) den Mindestlohn. [6] Dennoch ist die Bedeutung des Mindestlohns weitaus höher einzustufen, da er als Auszahlungsbetrag für einige Sozialleistungen wie z.B. BPC (vgl. Abb. 37) und insbesondere für Renten (z.B. die durch die Verfassung gewährten Sozialrenten) vorgesehen ist.
Tabelle 32 zeigt die Aufteilung der Renten aus dem staatlichen System für Privatangestellte (RGPS) nach ihrer Höhe. Daraus geht klar hervor, dass Renten in der Höhe eines Mindestlohns zwischen 2002 und 2011 stets nahezu 60% aller Renten ausmachten.
Tabelle 32: Renten des Privatsektors, Brasilien, 2002-2011
2002 |
2003 |
2004 |
2005 |
2006 |
2007 |
2008 |
2009 |
2010 |
2011 |
|
Bis 1 ML |
2,52% |
2,44% |
2,38% |
2,43% |
2,54% |
2,57% |
2,59% |
2,64% |
2,62% |
2,62% |
1 ML |
59,41% |
58,49% |
57,89% |
58,81% |
60,12% |
60,93% |
61,17% |
61,84% |
61,36% |
60,84% |
1-2 ML |
13,34% |
13,92% |
14,20% |
14,54% |
14,99% |
14,91% |
15,19% |
15,42% |
16,05% |
16,41% |
2-3 ML |
7,69% |
7,89% |
8,25% |
8,27% |
8,26% |
8,27% |
8,32% |
8,35% |
8,45% |
8,55% |
3-4 ML |
5,30% |
5,40% |
5,57% |
5,63% |
6,14% |
6,30% |
6,35% |
6,42% |
6,42% |
6,47% |
Mehr als 4 ML |
11,74% |
11,84% |
11,70% |
10,32% |
7,95% |
7,03% |
6,39% |
5,34% |
5,10% |
5,12% |
Quelle: IPEA 2012b, S. 6
Der hohe Anteil an Renten in Höhe des Mindesteinkommens fällt besonders ins Gewicht, da Rentenzahlungen den größten Anteil der Sozialausgaben des brasilianischen Staates ausmachen (vgl. Tab. 34).
Abbildung 40: Staatliche Rentenzahlungen, Brasilien, % des BIP, 2002-2011
Quelle: IPEA 2012b, S. 3
Abbildung 40 zeigt die Entwicklung der staatlichen Rentenzahlungen in Prozent des BIP. Der Anteil bleibt relativ stabil, wobei der Anteil der Renten der öffentlich Bediensteten leicht absinkt. Das kann in Zusammenhang mit der Rentenreform gebracht werden, die 2003 erlassen wurde. Das Antrittsalter wurde bei Frauen von 48 auf 55 und bei Männern von 53 auf 60 Jahre angehoben. Zusätzlich wurde der Höchstbetrag auf das Niveau der Privatwirtschaft nivelliert. Für höhere Renten muss von nun an eine Kapitalmarkt-basierte private Zusatzversicherung abgeschlossen werden. Daher kommt Paulani (2005; Paulani und Pato 2005) zu dem Schluss, dass durch diese Reform die Finanzialisierung der brasilianischen Ökonomie unter Lula weiter fortgeschritten ist. Dem steht jedoch gegenüber, dass es bei der Pensionsreform darum ging, die höchsten BeamtInnenpensionen zu kürzen und somit Privilegien gegenüber den Angestellten der Privatwirtschaft und schlecht bezahlten Staatsbediensteten abzubauen. Der Widerstand dagegen ging in erster Linie von BeamtInnengewerkschaften aus und wurde anfänglich in erster Linie von der konservativen „Partei der Liberalen Front“ (PFL) getragen (Filho und Winckler 2005). Einzelne Abgeordnete der PT übten massiven Widerstand gegen die Reform aus, die sie als „neoliberal“ bezeichneten. Dieser Widerstand führte Ende des Jahres 2003 zu ihrem Ausschluss aus der PT. In weiterer Folge gründeten die Ausgeschlossenen die Partei „Sozialismus und Freiheit“ (Partido Socialismo e Liberdade – P-SOL), die sich seither als linke Opposition zur PT versteht.
Die Rentenreform betraf mit den öffentlich Bediensteten eine Kerngruppe der PT-WählerInnen bis 2002. Die Konflikte sind auch vor dem Hintergrund nachvollziehbar, dass Renten einen signifikanten Anteil des Einkommens der BrasilianerInnen ausmachen.
Tabelle 33: Anteil der Renten am Monatseinkommen, Brasilien, 2002/03 und 2008/09
Einkommensdezile |
Prozentueller Anteil am Einkommen |
Verhältnis Beiträge zu Zahlungen |
Monatliches Pro-KopfFamilieneinkommen (in R$) |
|||||
Rentenzahlungen |
Rentenbeiträge |
|||||||
2002/03 |
2008/09 |
2002/03 |
2008/09 |
2002/03 |
2008/09 |
2002/03 |
2008/09 |
|
1 |
6,8 |
6,9 |
1,0 |
0,7 |
14,71% |
10,14% |
33,06 |
54,81 |
2 |
15,1 |
13,6 |
1,4 |
1,5 |
9,27% |
11,03% |
79,38 |
122,23 |
3 |
14,8 |
14,9 |
1,9 |
2,1 |
12,84% |
14,09% |
125,38 |
182,38 |
4 |
17,7 |
18,0 |
2,3 |
2,4 |
12,99% |
13,33% |
178,84 |
248,88 |
5 |
13,1 |
18,1 |
2,6 |
2,6 |
19,85% |
14,36% |
239,93 |
331,53 |
6 |
18,6 |
24,2 |
2,7 |
2,7 |
14,52% |
11,16% |
319,13 |
431,11 |
7 |
12,0 |
17,1 |
3,3 |
3,1 |
27,50% |
18,13% |
430,03 |
563,17 |
8 |
11,9 |
17,7 |
3,3 |
3,4 |
27,73% |
19,21% |
611,28 |
775,03 |
9 |
11,2 |
17,7 |
3,6 |
3,6 |
32,14% |
20,34% |
981,15 |
1.176,71 |
10 |
12,6 |
16,1 |
2,9 |
3,5 |
23,02% |
21,74% |
2.971,71 |
3.443,84 |
Durchschnitt |
12,8 |
17,1 |
3,0 |
3,3 |
23,44% |
19,30% |
597,24 |
733,04 |
Quelle: IPEA 2011c, S. 7; eigene Darstellung und Berechnung des Verh. Beiträge/Zahlungen
Tabelle 33 zeigt den Anteil am Einkommen von Rentenzahlungen und -beiträgen, deren Anteil am brasilianischen Durchschnittseinkommen zwischen 2002/03 und 2008/09 von 12,8% auf 17,1% stieg. Im selben Zeitraum stiegen nicht nur die (auf den Wert von Januar 2009 inflationsbereinigten) durchschnittlichen Pro-Kopf-Familieneinkommen, sondern auch die Progression nahm tendenziell zu, wie insbesondere die Veränderung des Verhältnisses zwischen dem Anteil der Beiträge und der Auszahlungen am Einkommen beim ärmsten Einkommensdezil zeigt. Die größte Bedeutung als Einkommen hatten Renten bei den mittleren Einkommensdezilen, während sie beim ärmsten Dezil am wenigsten ins Gewicht fielen. Das hängt vor allem damit zusammen, dass informell Beschäftigte im urbanen Bereich keinen Rentenanspruch haben, der mit den LandarbeiterInnen vergleichbar wäre, sondern sich freiwillig versichern können. Diese Möglichkeit wird jedoch nur von einer Minderheit der informell Beschäftigten in Anspruch genommen (IPEA 2007, S. 46ff.). Dennoch wird seitens des IPEA (2011c) argumentiert, dass Brasiliens Sozialausgaben progressiv zur Umverteilung beitragen. Tabelle 34 gibt einen Überblick zu den Sozialausgaben des brasilianischen Zentralstaates, [7] bemessen am BIP.
Tabelle 34: Sozialausgaben nach Bereichen, Brasilien, 1995-2009, % d. BIP
Sozialausgaben |
1995 |
2000 |
2005 |
2006 |
2007 |
2008 |
2009 |
Renten |
4,98 |
5,77 |
7,00 |
7,20 |
7,04 |
6,78 |
7,28 |
Sozialleistungen für BeamtInnen (Renten) |
2,46 |
2,47 |
2,29 |
2,25 |
2,23 |
2,18 |
2,37 |
Sozialhilfe |
0,08 |
0,40 |
0,83 |
0,91 |
0,93 |
0,97 |
1,08 |
Ernährung |
0,11 |
0,11 |
0,08 |
0,09 |
0,08 |
0,07 |
0,09 |
Bildung |
0,95 |
0,87 |
0,77 |
0,81 |
0,88 |
0,88 |
1,03 |
Gesundheit |
1,79 |
1,70 |
1,59 |
1,68 |
1,66 |
1,63 |
1,85 |
Wohnbau |
0,11 |
0,43 |
0,39 |
0,40 |
0,41 |
0,56 |
0,77 |
Kanalisation |
0,03 |
0,11 |
0,08 |
0,09 |
0,18 |
0,16 |
0,21 |
Beschäftigungspolitik |
0,53 |
0,52 |
0,59 |
0,69 |
0,74 |
0,74 |
0,91 |
Landwirtschaftl. Entwicklung |
0,16 |
0,15 |
0,17 |
0,20 |
0,20 |
0,17 |
0,17 |
Kultur |
0,03 |
0,02 |
0,03 |
0,03 |
0,03 |
0,03 |
0,04 |
Gesamt |
11,24 |
12,56 |
13,82 |
14,35 |
14,38 |
14,19 |
15,80 |
Quelle: IPEA 2011d, S. 12
Die Daten in Tabelle 34 weisen darauf hin, dass der dynamischen Entwicklung der Einkommenstransfers (die unter „Sozialhilfe“ erfasst sind) während der Regierungszeit Cardosos und der ersten Periode Lulas (bis 2006) anteilsmäßig sinkende Ausgaben in soziale Dienstleistungen und Infrastruktur gegenüber standen (kritisch dazu: Fischer und Leubolt 2012; Hall 2008). Staatliche Investitionen in Bildung und Gesundheit sanken oder stagnierten, ebenso wie Ausgaben für Wohnbau und Kanalisation (letztere v.a. zwischen 2000 und 2006). Ab 2007 und verstärkt ab 2009 kam es zu einer Trendumkehr mit vermehrten Investitionen in Dienstleistungen und Infrastruktur. Diese neuen Investitionen kommen vordergründig den fünf ärmsten Einkommensdezilen der Bevölkerung zu Gute wie eine Studie des IPEA (IPEA 2011c, S. 10ff.) für die Bereiche Bildung und Gesundheit zeigt. [8]In diesen Bereichen offenbarte sich eine Tendenz, die anderweitig noch stärker sichtbar werden sollte: Die Stärkung des Staates und seiner Strukturen.
- [1] Die folgenden Absätze beziehen teilweise schon früher publizierte Arbeiten mit ein: Fischer und Leubolt 2012; Leubolt 2007b, 2012; Leubolt und Tittor 2008
- [2] Daher steigt der Wert der Auszahlungen des BPC in Abb. 37 weniger sprunghaft an als Bolsa Família. In der Regel sind auch die ausbezahlten Beträge des BPC gegenüber Bolsa Família (bei der sie variabel und abhängig von Anzahl und Alter von Kindern sind) weitaus höher. Die Steigerung der Auszahlungen des BPC liegt an der beständigen Erhöhung des Mindeslohns seit 2003.
- [3] Diese Bedingungen verweisen gewissermaßen auf eine paternalistische Logik des Programmes. Es existiert eine akademische Debatte um die Sinnhaftigkeit dieser Bedingungen bzw. Konditionalitäten, die aber den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde (vgl. z.B. Barrientos 2009; Bastagli 2009; Veit-Wilson 2009).
- [4] Die Einkommensgrenze wird von der Regierung festgelegt. Aktuell (2012) gilt ein familiäres ProKopf-Einkommen von 70 R$ für eine monatliche Beihilfe von 70R$. Diesen Sockelbetrag erhalten alle (als „extrem arm“ eingestuften) Personen, die unter der Grenze verdienen. Familien, die als „arm“ eingestuft werden (Pro-Kopf-Einkommen zwischen 70R$ und 140R$) bekommen – ebenso wie „extrem arme“ – variable Beihilfen pro Kind (pro Kind 32 R$, für max. 5 Kinder unter 16; pro 16-17-jährigen Jugendlichen 38 R$, für max. 2 Jugendliche). Seit 2011 werden zusätzlich auch Beihilfen für schwangere Frauen und Ernährungsbeihilfen für Säuglinge bis zu 6 Monaten in der Höhe von je 32 R$ ausbezahlt (mds.gov.br/bolsafamilia; 31-07-2012).
- [5] In Brasilien ist es üblich, Einkommensgruppierungen in Vielfachem des Mindestlohns anzugeben.
- [6] Diese Werte stellen einen großen Unterschied zur Zeit vor der Militärdiktatur dar, als der Mindestlohn für die Mehrheit der brasilianischen Arbeitskräfte der tatsächlich ausbezahlte Lohn war und verdeutlicht die damit verbundene „Entpolitisierung des Lohnverhältnisses“ während der Militärdiktatur.
- [7] Die Zahlen beziehen sich nur auf die Ausgaben des Zentralstaates (despesas federais) und weichen daher von den Zahlen in Tabelle 21 und Abbildung 14 ab, die auch die Ausgaben auf bundesstaatlicher und Gemeindeebene mit einbeziehen.
- [8] Eine nähere Betrachtung der Bereiche Bildung und Gesundheit würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Besonders komplex sind hier die Auswirkungen der Dezentralisierung und der Privatisierungen. Generell zielte die Regierung Lula darauf ab, auch in diesen Bereichen – v.a. ab 2007 – die staatliche Infrastruktur zu stärken. Die Fokussierung auf Grundversorgung wurde dahingehend aufgeweicht, dass nun auch versucht wird, Investitionen in höherwertige Versorgung (wie z.B. in staatliche Universitäten) zu tätigen (näher dazu: Abrahão de Castro und Duarte 2008; Corbucci et al. 2009; IPEA 2011e, 2011f, S. 87ff.; Mesa-Lago 2007; Soares 2007).