Kräfteverhältnisse und (un-)gleichheitsorientierte Politik
Während der 1950er Jahre nahm die staatliche Repression gegen AfrikanerInnen und ihre Widerstandsbewegungen zu: „Rassentrennung“ wurde intensiviert, z.B. durch Räumung urbaner afrikanisch dominierter Armenviertel und den Transfer der vorherigen BewohnerInnen in Townships an der Peripherie, Einschränkung von Niederlassungs- und Bewegungsfreiheiten, Verbot von „Rassenmischung“ bei Heirat, usw. Der anfangs tolerierte ANC wurde ebenso wie zuvor die SACP und danach der PAC illegalisiert. In Reaktion darauf wurden auch die Formen des Widerstandes verschärft. Das zuvor erwähnte Sharpeville-Massaker verstärkte diesen Trend: Unter der Führung des damaligen ANC Youth Leage Präsidenten Mandela wurde 1961 ein bewaffneter Arm des ANC (Umkhonto we Sizwe – MK) gegründet und somit die Politik des gewaltfreien Widerstandes beendet (O'Brien 2003). Politische Streiks und andere Protestaktionen nahmen zu. Anfang der 1960er Jahre wurden breite Teile der Führungskader von ANC, PAC und SACP inhaftiert. Die Organisationen mussten in den Untergrund – ein Unterfangen, das dem ANC und der SACP besser gelang als der jungen Organisation PAC. Einige der ANC- und SACP-Kader suchten im Ausland Asyl. Der ANC war danach stark im Ausland präsent, während die Tätigkeit innerhalb Südafrikas abnahm (Suttner 2003, 2008). Viele der politischen Kader gelangten in diesem Zusammenhang in die Sowjetunion, die systematisch Befreiungsbewegungen unterstützte und auch deren Politikverständnis beeinflusste. Die geheimen Organisationsstrukturen erschwerten interne demokratische Entscheidungsprozesse zusätzlich (Butler 2005; Prevost 2006).
Seit dem Anfang der 1970er Jahre radikalisierten sich die afrikanischen Widerstandsbewegungen – „gefördert“ durch die Apartheid-Politik der Ausbildung in den afrikanischen Sprachen und die „Rassentrennung“ – in Richtung Black Consciousness. Der Widerstand von SchülerInnen gegen die Einführung von Bildung in Afrikaans führte schließlich 1976 zum Aufstand in Soweto, dem größten Township des Landes in Johannesburg (Soweto Uprising). Der Tod vieler unbewaffneter SchülerInnen durch Schüsse schwer bewaffneter Polizisten und Militärs während dieses Aufstands mobilisierte viele AfrikanerInnen zum Protest, der dadurch intensiviert wurde.
Außerdem waren ab Ende der 1970er bzw. Anfang der 1980er Jahre wichtige neue Kräfte in der Gewerkschaftsbewegung und in der United Democratic Front (UDF; vgl. Seekings 2000) zu finden, die aktiv Widerstand formierten. In diesem Zusammenhang standen die Wiederbelebung der sozialistischen Ideologie in der Befreiungsbewegung und die Intensivierung der Taktik des bewaffneten Widerstandes (näher dazu: O'Brien 2003). Die Radikalisierung des Widerstandes hing unter anderem auch mit den Folgen der Apartheid-Politik zusammen: Die rigorose Umsiedlungspolitik ging mit steigender Überbevölkerung der Townships und Homelands einher – einerseits, weil in den 1960er und 1970er Jahren neue afrikanische Arbeitskräfte für die Bergbauwirtschaft aus den Nachbarländern rekrutiert wurden; andererseits, weil das zugewiesene Land aufgrund der Expansion von Bergbau und Landwirtschaft dezimiert wurde. Die Lebensumstände der „schwarzen“ Bevölkerungsgruppen erleichterten die Solidarisierung von Proletariat und Mittelschicht, die durch die rassistische Organisation der Bildungseinrichtungen zusätzlich verstärkt wurde (Louw 2004, S. 75ff.).
Neben den Befreiungsbewegungen eröffneten sich während der 1970er Jahre auch neue Widerstandsfronten: Auf internationaler Ebene nahm die Kritik an der Apartheid-Politik zu und begann, mit wirtschaftlichen Sanktionen verknüpft zu werden. Zusätzlich fielen die Weltmarktpreise für Gold und andere Edelmetalle, die aus Südafrika exportiert wurden. Auch national kam zusehends Kritik auf: Während die Unternehmen bis Anfang der 1970er Jahre mehrheitlich relativ wenig ausgebildete und billige Arbeitskräfte nachfragten, stieg ab Mitte der 1970er Jahren (im Zuge technologischer Weiterentwicklung) der Bedarf an höher ausgebildeten Arbeitskräften. Aufgrund der relativ geringen Qualität der Bildung der AfrikanerInnen („Bantu Education“) entstand ein Mangel an Fachkräften (Marais 2001, S. 37ff.; Seekings und Nattrass 2005, S. 147ff.). Daher setzten sich ab dem Ende der 1970er Jahre wichtige Kapitalfraktionen für eine Lockerung der rassistischen Arbeitsgesetzgebung ein. [1] Aus Sorge um die Unterstüt zung der Unternehmerschaft beendete die Regierung schließlich 1978 gewaltsam einen Streik burischer Minenarbeiter. Damit verlor die NP die Unterstützung des burischen Proletariats und wandelte sich zu einer Partei der britischen und burischen Mittelschichten (Louw 2004, S. 69).
In Reaktion auf diese Entwicklungen setzte die Apartheid-Regierung ab Ende der 1970er Jahre auf einen Reformkurs (der mit dem 1978 angetretenen Premierminister Botha verbunden wird): Petty Apartheid (und damit viele der Praktiken des institutionalisierten Alltagsrassismus) wurde schrittweise aufgegeben. Die Niederlassungsbestimmungen und Arbeitsrechte wurden gelockert, um den wirtschaftlichen Erfordernissen besser gerecht werden zu können. Damit wurde die Herausbildung einer afrikanischen Mittelschicht ermöglicht. Die Lockerung der Arbeitsrechte erleichterte die gewerkschaftliche Organisierung – dieser Handlungsspielraum wurde genutzt und gipfelte in der Gründung von COSATU (Congress of South African Trade Unions) im Jahr 1985 (Hirschsohn 1998). Auch politische Rechte wurden ein wenig erweitert: 1977 wurde lokale Mitbestimmung auch für AfrikanerInnen, InderInnen und Coloureds gewährt. 1984 wurden (angelehnt an die Vision Lijpharts einer „consociational democracy“[2]) nationale Parlamente für InderInnen und Coloureds mit Repräsentationsrecht in bundespolitischen Angelegenheiten eingeführt. Die Reformstrategie setzte jedoch nicht nur auf diese „weichen“ Maßnahmen. Angeleitet von Ideen Samuel Huntingtons, ging die Apartheid-Regierung davon aus, dass ein kontrollierter Reformprozess aus einer Position relativer Stärke zu erfolgen habe, die durch den Ausbau des staatlichen Sicherheitsapparates gewährleistet werden könnte (Louw 2004, S. 85ff.). Diese Reformen führten zur Militarisierung des Landes – politische Spannungen, Konflikte und Gewalt nahmen in der Folge nicht ab, sondern zu (Marais 2001, S. 37ff.).
Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse, kann die Zeit zwischen dem Ende der 1970er und dem Beginn der 1990er Jahre (insbesondere die 1980er) als „organische Krise“ des rassistischen Kapitalismus in Südafrika verstanden werden (Saul und Gelb 1981). [3]Die aufkommenden politischen und ideologischen Krisen äußerten sich ab den 1970er Jahren auch ökonomisch (Heintz 2002). In Reaktion darauf kam es zu einem Bruch der wirtschafts- und sozialpolitischen Strategien: Der Staatsintervenismus wich einem stärker neoliberal orientierten Kurs. Nachdem die Affirmative Action Politik zugunsten der BurInnen Erfolge gezeigt hatte, konnten sie sich am Markt besser behaupten. Zusätzlich stellte der Abbau staatlicher Privilegien der BurInnen auch eine Vorbereitung für die Reformen des Regimes dar, die von vielen Beteiligten als unvermeidbar interpretiert wurden. [4] In der Wirtschaftspolitik betraf das Privatisierungen: Die während des Apartheid-Regimes gegründeten Staatsbetriebe im und um den Minerals-Energy Complex wurden teilweise privatisiert (der Anteil an staatlichen Unternehmen am gesamten Anlagekapital war von 44% im Jahr 1955 auf 57% 1985 gestiegen und sank bis 1990 wieder auf 53%; vgl. Fine und Rustomjee 1996, S. 109).
Tabelle 41: Arbeitsmarkt-Struktur, Südafrika, 1965 und 1992
1965 |
1992 |
|
Top- und Middle-Management |
2,5% |
4,4% |
Professionals |
1,2% |
3,1% |
Semiprofessionals |
6,4% |
12,1% |
Angestellte (Routinearbeit) |
17,8% |
16,5% |
Sicherheitspersonal |
2,4% |
4,6% |
Supervisors |
0,9% |
3,5% |
HandwerkerInnen und Lehrlinge |
6,2% |
5,1% |
Semi-skilled Arbeitskräfte |
29,7% |
27,1% |
Ungelernte manuelle ArbeiterInnen |
28,5% |
18,1% |
Ungelernte DienstbotInnen |
4,5% |
5,6% |
Quelle: Crankshaw, zit. nach: Seekings und Nattrass 2005, S. 100
Als weitaus bedeutsamer gilt aber die Reform des Arbeitsmarktes: Die rassistischen Einschränkungen wurden ab den 1970er Jahren schrittweise aufgehoben. Die burische Bevölkerung hatte aufgrund des gesteigerten Bildungsniveaus nicht mehr mit den gleichen Problemen zu kämpfen wie vor der Einführung von Apartheid. Der Arbeitsmarkt wurde so restrukturiert, dass der Fokus v.a. auf technologieintensive Bereiche gelegt wurde (vgl. Tab. 41), in denen Löhne und Gehälter anstiegen – „white workers bargained wage increases for concessions concerning the racial division of labour“ (Seekings und Nattrass 2005: 146). Aufgrund der niedrigen Beschäftigungsintensität der technologieintensiven Bereiche stieg parallel die Arbeitslosigkeit an (Seekings und Nattrass 2005, S. 143ff.). [5] Wegen ihres niedrigeren Ausbildungsniveaus stellten die von der Arbeitsmarktliberalisierung profitierenden indischen, coloured und afrikanischen Mittelschichten keine direkte Bedrohung für ihre „weißen“ Konterparts mehr dar. In der Sozialstruktur zeigt sich seit dieser Zeit die Angleichung von „zwischen-rassischen“ (inter-racial) Einkommensungleichheiten, während „innerrassische“ (intra-racial) Ungleichheiten zuzunehmen begannen (Seekings und Nattrass 2005).
Die Arbeitsmarktreformen spiegelten sich auch in der Sozialpolitik wieder: Die staatlichen Sozialleistungen wurden schrittweise angeglichen. Dadurch wurde einerseits dem Faktum Rechnung getragen, dass nun weniger „Weiße“ auf diese Leistungen angewiesen waren und andererseits sollte dadurch der Widerstand der „Schwarzen“ geschwächt werden. Gleichzeitig wurden auch Teile des Sozialsystems privatisiert, um späteren politischen Einfluss zu verhindern. Ein wichtiges Beispiel stellt die Rentenreform im öffentlichen Sektor dar: In den 1980er Jahren wurde das staatliche Umlageverfahren durch ein Kapitaldeckungsverfahren ersetzt (d.h., die Rentenvorsorge wurde privatisiert). Dadurch wurden die Rentenansprüche der überwiegend „weißen“ früheren Staatsbediensteten abgesichert und weitgehend von späteren politischen Einflüssen geschützt (Hendricks 2009). [6] Besonders stark waren die Privatisierungstendenzen laut Seekings und Nattrass (2005: 155f.) im Gesundheitswesen, in dem der Anteil staatlicher Investitionen von 50%-60% zwischen den 1970er und Anfang der 1980er Jahren auf 30% 1992/93 fiel. Aufgrund der verstärkten Ausrichtung der Sozialpolitik auf Armutsbekämpfung im Rahmen der Reformen wurde die Fiskalpolitik ausgabenseitig progressiver, aber durch die Privatisierungen gleichzeitig auch weniger effektiv. Wegen der Veränderungen am Arbeitsmarkt stagnierten die Einkommensungleichheiten trotzdem auf hohem Niveau (Seekings und Nattrass 2005, S. 147ff.).
Abbildung 49: Ungleichheitsregime, Südafrika unter Apartheid
Quelle: Eigene Darstellung
Abbildung 49 skizziert das Ungleichheitsregime unter Apartheid. Abbildung 50 hebt die Beziehungen von Staat, Markt und Zivilgesellschaft im Hinblick auf gleichheitsorientierte Politik hervor. Der rassistisch konnotierte Bezug des Apartheid-Regimes im Hinblick auf die Gleichstellung „weißer“ SüdafrikanerInnen manifestierte sich als erfolgreiches Projekt des Catching-up von BurInnen auf Kosten von „Schwarzen“, insbesondere von AfrikanerInnen.
Abbildung 50: Gleichheitsorientierte Politik, Apartheid-Südafrika
Quelle: Eigene Darstellung, auf Basis von: Seekings und Nattrass 2005, S. 148
- [1] 1977 wurde – vordergründig mit Kapital der Anglo American Corporation und der Rembrandt Group – mit der Urban Foundation ein neuer Think Tank geschaffen, der darauf abzielte, mehr afrikanische urbane Arbeitskräfte einstellen zu können (Marais 2011, S. 43). Damit suchten sowohl Repräsentanten von britischem als auch von burischem Kapital, die beide zu den größten und einflussreichsten Konzernen des Landes gehörten, nach Alternativen zur „Rassengesetzgebung“.
- [2] Die „consociational democracy“ diente als Leitbild, da sie kein Mehrheitswahlrecht vorsah, sondern separate Repräsentationsgremien für die verschiedenen „Rassen“ vorsah, die dann VertreterInnen in ein koalitionäres Gremium entsenden sollten. Dadurch sollte Politik von der Basis in ein Elite-Gremium gebracht und somit der Druck der Mehrheit verhindert werden. Das sahen Apartheid-Ideologen als zentral an, um „weiße Minderheitsrechte“ gewährleisten zu können (Louw 2004, S. 88ff.).
- [3] In der Literatur wird diskutiert, ob Apartheid als erfolgreiches Projekt der Stabilisierung des Kapitalismus (vgl. z.B.: Davies et al. 1976) interpretiert werden kann (etwa als „Racial Fordism“; vgl. Gelb 1991, S. 13ff.), oder ob es sich um ein dauerhaft krisenhaftes Projekt handelte, das durch Apartheid destabilisiert wurde (wie liberale KritikerInnen argumentierten; vgl. Nattrass 1992, 1994). In der vorliegenden Arbeit wird Wolpes (1990) These der Funktionalität des Rassimus für die Akkumulation bis Anfang der 1970er geteilt, die im Laufe der Änderungen des Arbeitsmarktes während der 1970er Jahre drastisch abnahm. Gleichzeitig wurde aber auch auf die ökonomische Dysfunktionalität des Affirmative Action Programmes zugunsten der BurInnen hingewiesen, die v.a. zu Beginn des Apartheid-Regimes besonders stark waren. Die „organische Krise“ wird daher auf das Projekt des rassistischen Kapitalismus bezogen, das schon vor Apartheid existierte, dessen Widersprüche ab dem Ende der 1970er Jahre deutlich wurden (vgl. auch: Saul und Gelb 1981).
- [4] In dieser Beziehung gab es wichtige Unterschiede innerhalb der „Weißen“, da viele der Angehörigen der Mittelschicht die liberale Wende stützten, während andere (v.a. aus dem Proletariat und den Farmern) damit nicht einverstanden waren. Letztere waren zwar in der Minderheit, gründeten aber radikale (oft faschistische und/oder nationalsozialistische) Vereinigungen, die bewaffnet für den Fortbestand von Apartheid kämpften.
- [5] Die historische Datenlage zu Arbeitslosigkeit und Einkommensungleichheit in Südafrika ist prekär, da in Townships und Homelands entsprechende Daten nicht oder äußerst mangelhaft erhoben wurden. Wie zuvor geschildert, wurden nicht mehr benötigte afrikanische Arbeitskräfte gezwungen, in Homelands zu migrieren, in denen angenommen wurde, dass sie die „traditionelle afrikanische Lebensweise“ (d.h. Subsistenzproduktion) wieder aufnehmen würden. Daher galten sie nicht als arbeitslos. Es existieren verschiedene Berechnungen, die nicht am Arbeitsmarkt Beschäftigten zu messen, auf die hier nicht näher eingegangen wird (vgl. Seekings und Nattrass 2005, S. 177ff.).
- [6] Diese Reform resultierte gleichzeitig auch in einem Anstieg der Staatsverschuldung, da ein staatlicher Fonds gegründet wurde, um die bestehenden Rentenansprüche aus dem Umlageverfahren abzusichern (Hendricks 2009).