Krise des Apartheid-Regimes und demokratische Transition

Die Zeit zwischen dem Ende der 1970er und dem Beginn der 1990er Jahre werden in dieser Arbeit als „organische Krise“ des rassistischen Fordismus in Südafrika interpretiert: Ökonomische Krisenerscheinungen im Zuge der Transformation der Weltwirtschaft und ihrer Auswirkungen auf die südafrikanische Wirtschaft und die politischen und ideologischen Krisenprozesse verstärkten sich wechselseitig. Besonders bemerkbar wurde das in den 1980er Jahren als sich die gesellschaftlichen Kämpfe laufend zuspitzten. In diese Zeit fällt die Gründung der United Democratic Front (UDF). Während viele der ANC-Kader aus dem Exil operieren mussten, [1]handelte es sich bei der UDF um eine militante Organisation des Widerstandes, die im Land operierte. Sie positionierte sich als multiracialist Organisation in der Tradition der „neuen Linken“ (näher dazu: Seekings 2000) und damit auch gegen Tendenzen zur Vereinigung des afrikanistischen Flügels des ANC (um Winnie Mandela) mit dem PAC. Im Zuge der 1980er Jahre etablierte sich die UDF als zentrale Organisation des internen Widerstandes, die gemeinsam mit dem ANC dem Apartheid-Regime entgegentrat (Louw 2004, S. 140ff.): „Essentially, the UDF and ANC were part of the same Charterist camp[2], sought each other out, and coordinated their activities. Effectively, the ANC functioned as an armed wing, while the UDF operated as an internal political wing“ (Louw 2004, S. 155).

Im Vergleich zur brasilianischen Situation war in Südafrika Gewalt viel präsenter: Einerseits handelte es sich um bewaffnete Auseinandersetzungen von Apartheid-Polizei und –Militär mit BefreiungskämpferInnen; [3] andererseits aber auch um Kämpfe zwischen Befreiungsbewegungen und afrikanischen TraditionalistInnen, die mit dem Apartheid-Regime kollaborierten (insbesondere der IFP nahestehende Gruppen). [4] Die Zunahme der Gewalt betraf in erster Linie AfrikanerInnen und resultierte während der 1980er Jahre in der höchsten Anzahl an Toten und Verletzten aufgrund politischer Auseinandersetzungen in der südafrikanischen Geschichte. Das schwächte die Befreiungsbewegungen, deren strategische Position auch unter der Krise der realsozialistischen Staaten um die Sowjetunion litt (von wo aus lange Zeit ihre Aktivitäten unterstützt wurden). Gleichzeitig war auch die Apartheid-Regierung geschwächt, da im Zuge der 1980er Jahre die internationalen wirtschaftlichen Sanktionen verschärft wurden und auch der interne Widerstand wichtiger Kapitalfraktionen zunahm (Marais 2001, S. 37ff.). Als Folge dieser Entwicklungen sowie dem Einbruch des Goldpreises fielen die Raten des Wirtschaftswachstums (vgl. Abb. 51) und ökonomische Krisenerscheinungen kamen deutlicher hervor.

Abbildung 51: BIP-Wachstum, Südafrika, 1961-1994

Quelle: World Bank 2013

Marais (2001: 63ff.) bezeichnet diese Situation daher als „Pattstellung“, in der keine der beiden zentralen Konfliktparteien einen klaren Vorteil erringen konnte. In dieser Situation begannen Verhandlungen über Reformen. Nachdem schon ab 1987 geheime Verhandlungen stattfanden, wurden laufend wichtige ANC-Persönlichkeiten aus der politischen Haft entlassen. Die Machtübernahme durch den neuen südafrikanischen Präsidenten de Klerk 1989 zog die Intensivierung der Verhandlungen und Anfang 1990 auch die Legalisierung des ANC, der SACP und des PAC nach sich. Die UDF engagierte sich für den Wiederaufbau der ANC-Strukturen, und verhalf damit dem ANC, zur wichtigsten Organisation des Freiheitskampfes zu werden, die an den Verhandlungen teilnahm.

Die Interpretationen dieser Debatten und ihrer Ergebnisse sind äußerst unterschiedlich: Einerseits wird thematisiert, dass die Apartheid-Regierung ihre zentralen Forderungen nicht durchsetzen konnte (Louw 2004, S. 159ff.): Die von ihnen geforderten „Minderheitenrechte“ wurden mit dem zuvor beschriebenen Konzept einer „consociational democracy“ verknüpft, in der es umfassende Vetorechte geben solle, um Mehrheitsentscheide zugunsten der AfrikanerInnen zu verhindern. Dem gegenüber vertraten die afrikanischen Delegierten die Position des Mehrheitswahlrechts als einzig demokratische Alternative (entsprechend dem internen Konsens der Befreiungsbewegungen; während die TraditionalistInnen das Apartheid-Modell mit weitgehenden regionalen Autonomie-Rechten vertraten – überwiegend, um monarchische Strukturen absichern zu können). In dieser wichtigen Diskussion setzte sich der ANC durch – um die Forderungen der NP-Delegation nach Minderheiten zu berücksichtigen, wurde eine „sunset clause“ festgesetzt, die eine gemeinsame Übergangsregierung mit der NP für fünf Jahre vorsah und in dieser Phase auch die Weiterbeschäftigung der BeamtInnen und weitgehende Amnestieregelungen für Polizei und Militär garantierte.

Diese „sunset clause“ Regelungen blieben das wichtigste Zugeständnis an die politischen Forderungen der NP, während sich der ANC das uneingeschränkte Mehrheitswahlrecht durchsetzen konnte (vgl. Marais 2001, S. 90ff.).

Die aus diesen Verhandlungen hervorgehende Verfassung[5] räumt weitreichende politische und kulturelle Freiheiten ein (z.B. weitreichende Diskriminierungsverbote im Hinblick auf „Rasse“, ethnische und soziale Herkunft, Geschlecht, Familienstand, sexuelle Orientierung, Religion, Glauben, Behinderung, Kultur und Sprache) und garantierte somit den Schutz von kultureller Diversität. Dezentralisierung sollte die Regierungen auf Provinz-Ebene stärken. Als Zugeständnis an afrikanische TraditionalistInnen wurden auch spezielle Regelungen der Praxis von „traditional leadership“ getroffen, die im Widerspruch zu den liberalen Prinzipien der Verfassung standen (Marais 2001, S. 90ff.). Für Menschenrechtsvergehen während der Apartheid-Periode wurde eine weitgehende Amnestie verhandelt und eine „Truth and Reconciliation Commission“ eingesetzt, die sich mit gröberen Vergehen auseinandersetzen sollte (vgl. Gibson 2005; Hamber 2002; Herwitz 2005; Jenkins 2007). Im Gegensatz zur brasilianischen Verfassung gehorcht das südafrikanische Pendant den Grundsätzen abstrakter Rechtsnormen und enthält folglich auch keine vergleichbar konkreten Regelungen in der Sozialgesetzgebung. Sie gilt dennoch im internationalen Vergleich als besonders gleichheitsorientiert und progressiv (vgl. Hyden und Venter 2001). [6]

Trotz dieser Erfolge werden die VerhandlungsführerInnen des ANC aber auch kritisiert (vgl. z.B. Bond 2005), weil sie zwar politische Transformationen einleiteten, aber die ökonomischen Strukturen weitgehend unangetastet ließen: [7]Entgegen der historischen Programmatik der Befreiungsbewegungen nahm der ANC Abstand von Forderungen nach Sozialisierung oder Verstaatlichung von Produktionsmitteln. [8] Stattdessen wurde in der Verfassung festgehalten, dass Eigentumsrechte respektiert würden (Bond 2005). Das galt auch für Landbesitz: Die Ungleichverteilung von Land, die mit der rassistischen Zuteilung einherging, sollte zwar reformiert werden, aber mittels eines Modells, das staatlich vermittelten Verkauf zu Marktpreisen vorsah (Greenberg 2003; Hall 2004; Hamilton 2006). Wirtschaftspolitisch wurde mit der Unabhängigkeit der Zentralbank auch eine zentrale neoliberale Programmatik in die Verfassung aufgenommen (Marais 2001, S. 91).

Diese Zugeständnisse wurden einerseits vor dem Hintergrund der ökonomischen Krise und Tendenzen der Kapitalflucht gemacht. Mohamed und Finnoff (2005, S. 85) berechnen, dass in den Jahren 1980-1993 jährlich rund 5,4% des BIP durch Kapitalflucht verloren gingen. Südafrikanische Kapitalfraktionen um den Minerals-Energy Complex nutzten teilweise diese Fluchtbewegungen aus, um expandieren zu können. Das hatte zur Folge, dass die Konzentrationstendenzen in der südafrikanischen Ökonomie und damit die Macht der ökonomischen Konglomerate noch weiter zunahmen. Bemüht, eine weitere Verschärfung der Situation zu verhindern, versuchten die VerhandlerInnen des ANC klar zu machen, dass die Angst vor „Kapital-feindlichen“ Maßnahmen unter einer von ihnen geführten Regierung nicht gerechtfertigt wäre. [9]

Andererseits trug die strategische Prioritätensetzung der Befreiungsbewegungen und deren Fokus auf das Politische dazu bei (Marais 2001). Bond (2003c, 2005) thematisiert auch den ideologischen Einfluss der Weltbank, die seit den 1980er Jahren wirtschaftspolitische Seminare für ANC-AktivistInnen anbot. [10] Der zeitgleich stattfindende Niedergang des Realsozialismus und der Sowjetunion bestärkte die AktivistInnen in der Sicht, dass die alten sozialistischen Ideen ausgedient hätten und neue Strategien benötigt würden. Die weiteren Auswirkungen auf die wirtschaftspolitische Positionierung der Post-Apartheid-Regierungen werden im folgenden Kapitel thematisiert. Vorher wird die Entwicklung der Sozialstruktur und sozialer Ungleichheit beschrieben.

  • [1] Auch der ANC verstärkte seine Tätigkeit während der 1980er Jahre.
  • [2] Anm.: Louw bezeichnet die Bewegung als „Charterist Camp“, da sie sich auf die Atlantic Charter berief.
  • [3] Wie zuvor beschrieben, war Repression ein zentraler Bestandteil der Strategie der National Party, um – gemäß Huntingtons Konzept – aus einer Position relativer Stärke Verhandlungen mit dem ANC führen zu können. Während der 1980er Jahre entwickelte sich der Sicherheitsapparat zu einer Art „Staat im Staat“ – die Securocrats lösten die „SozialplanerInnen“ als wichtigste Gruppe im Staat ab (Louw 2004, S. 74; vgl. auch: Marais 2001, S. 55).
  • [4] Auch die intra-afrikanischen Auseinandersetzungen wurden von der Apartheid-Regierung beeinflusst, deren Geheimdienst enge Verbindungen zu den afrikanischen traditionalistischen Bewegungen unterhielt.
  • [5] Die Prinzipien der Verfassung wurden Ende 1993 festgelegt. 1996 wurde sie ratifiziert.
  • [6] Aufgrund dieses progressiven Charakters der Verfassung berufen sich auch einige wichtige soziale Bewegungen Südafrikas (insbesondere die Treatment Action Campaign, die sich für die Behandlung von HIV/AIDS-Kranken einsetzt) zentral auf die Verfassung und konnten durch Klagen vor dem Verfassungsgerichthof schon bedeutende Erfolge verbuchen (vgl. Heywood 2011; Marais 2010).
  • [7] Dieser Kurs ging von der Prämisse aus, dass die umfassenden politischen Reformen ökonomische Transformationen nach sich ziehen würden: „the popular movement and the ANC in particular were guilty of over-privileging the political – reducing not only the oppression experienced by the majority but the entire system of exploitation to the political and ideological form of the apartheid state. In such reasoning, the ordering of economic and social relations pivoted on the state – once it changed, everything else would follow” (Marais 2001, S. 72).
  • [8] Dieses Thema ist in Südafrika Gegenstand von Kontroversen. In der Freedom Charter (COPE 1955) steht im Abschnitt „The People Shall Share in the Country`s Wealth!“: „The national wealth of our country, the heritage of South Africans, shall be restored to the people; The mineral wealth beneath the soil, the Banks and monopoly industry shall be transferred to the ownership of the people as a whole”. Das wurde vielfach als Aufforderung zur Verstaatlichung der Schlüsselindustrien Bergbau und Bankwesen verstanden (und von Mandela noch ein Monat vor Haftentlassung in einem Interview kundgetan). Im Zuge der Verhandlungen wurde es vom ANC jedoch so interpretiert, dass es auch im Management dieser Sektoren AfrikanerInnen geben sollte – umfassende Pläne von Verstaatlichung oder Sozialisierung wurden hingegen fallen gelassen (vgl. Bond 2005, S. 15f.).
  • [9] Die gesetzten Maßnahmen hatten aber nur eingeschränkt Erfolg. Mohamed und Finnoff (2005, S. 85) berechnen für die Zeit unmittelbar nach Apartheid (1994-2000) einen Anstieg der jährlichen Summe, die auf Kapitalflucht zurückgeführt werden kann, auf 9,2% des BIP.
  • [10] Die besondere Offenheit von ANC-AktivistInnen gegenüber ökonomischen Bildungsprogrammen der Weltbank hing nicht nur mit dem „ideologischen Vakuum“ im Zuge des Zusammenbruchs des Realsozialismus zusammen. Es bestand auch daher eine besondere Notwendigkeit, weil im Zuge der Überprivilegierung des Politischen sehr wenig wirtschaftspolitisches Wissen bestand. „To the extent that, until 1990, it [the ANC, Anm. BL] had no economic policy worthy of the description“ (Marais 2001, S. 97).
 
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