Staatliche Einkommenstransfers und Tendenzen eines Workfare Regimes
Die Neuausrichtung der Sozialpolitik zeigte dahingehend Ähnlichkeiten zu Brasilien, da auch in Südafrika den Transferzahlungen steigende Bedeutung zukam, wie ihre Zunahme von 20% der Sozialausgaben im Jahr 2000 auf 30% im Jahr 2006 nahelegt (vgl. Tab. 55). Im Gegensatz zu Brasilien konnte dabei auf eine längere Tradition zurückgegriffen werden – insbesondere in der Altersvorsorge, da der Old-Age Grant schon seit den 1920er Jahren existierte. Neben dem OldAge Grant, der als Rente für sozial Bedürftige fungiert, sind der Disability Grant (der körperbehinderte und chronisch kranke Menschen unterstützen soll) und der Child-Support Grant (Kinderbeihilfe für sozial Bedürftige) die wichtigsten Formen staatlicher Sozialtransfers, die zum „single most effective anti-poverty tool deployed after 1994“ (Marais 2011, S. 3) wurden: Wie Statistiken des Jahres 2008/09 zeigen, generieren Beihilfen durchschnittlich 47,5% des Einkommens der Armen, während sie beim (nicht-armen) Rest der Bevölkerung lediglich 13,6% des durchschnittlichen Einkommens ausmachen (SSA 2012b, S. 46). Bei genauerer Betrachtung wird diese Wirkung noch deutlicher: Im ärmsten Dezil der EinkommensbezieherInnen betrug der Anteil der Beihilfen 1993 noch 15% und stieg bis 2008 auf 73% des Einkommens an (Leibbrandt et al. 2010, S. 26f.).
Tabelle 56: BeihilfebezieherInnen, Südafrika, 1997 und 2009
Beihilfen |
1997 |
2009 |
||
Old-Age Grant |
1.737.682 |
4,3% |
2.414.183 |
5,0% |
Disability Grant |
737.322 |
1,8% |
1.281.556 |
2,6% |
Child Support Grant |
362.631 |
0,9% |
8,825.824 |
18,2% |
Gesamt |
2.837.635 |
7,0% |
12.521.563 |
25,8% |
Quellen: Van der Berg und Siebrits 2010; statssa.gov.za; eigene Berechnungen[1]
Tabelle 56 zeigt die Anzahl der BeihilfebezieherInnen 1997 und 2009. Aus den Daten geht hervor, dass die Anzahl der BezieherInnen stärker anstieg als die ausbezahlten Beträge. Die höchste Steigerung betraf den Child Support Grant, der erst 1998 eingeführt wurde (vgl. Lund 2008). [2] Ähnlich wie Brasiliens Bolsa Família kommt der Child Support Grant bedürftigen Erziehungsberechtigten zu Gute, die pro Kind (bis max. 6 Kindern) einen Fixbetrag (ab April 2012: 280 Rand/Monat; vgl. RSA 2013) ausbezahlt bekommen. Ebenso wie für die anderen Grants ist die Ausbezahlung des Child Support Grant an eine Bedarfsprüfung (means test) geknüpft, die durch Einkommensgrenzen definiert wird (63.600 Rand Jahreseinkommen für AlleinerzieherInnen bzw. 67.000 R/Jahr Familieneinkommen, Stand 2013; vgl. RSA 2013).
Abbildung 59: Jährliche Auszahlungsbeträge der Sozialrenten, in Rand, Südafrika, 1979-2003
Quelle: van der Berg et al. 2010, S. 5
Der Child Support Grant hat eine ähnliche Geschichte wie die anderen Beihilfen, da er Beihilfen eines rassistischen Sozialsystems ablöste und seine Universalisierung aufgrund der finanziellen Einschränkungen mit der Kürzung der ausbezahlten Beträge sowie strengen Regeln der Bedarfsprüfung einherging (Lund 2008, S. 84ff.). Es handelt sich daher nicht um eine Universalisierung im engen Sinn, sondern um die Befreiung „treffsicherer“ Armutsbekämpfung von den rassistischen Prinzipien.
Abbildung 59 verdeutlicht die Auswirkungen der Abschaffung rassistischer Kriterien in der Armutsbekämpfung auf die ausbezahlten Beträge anhand der Sozialrenten. Es kommt deutlich hervor, dass „Weiße“ große Einbußen hinnehmen mussten, während der Betrag für AfrikanerInnen deutlich angehoben wurde. Im Fall der Sozialrenten blieb das Niveau für „InderInnen“ und „Coloureds“ weitgehend stabil (während es im Fall der Kinderbeihilfen für diese Gruppen deutlich absank; vgl. Lund 2008, S. 80ff.).
Abbildung 60: Nominalu. Realwerte südafrikan. Grants, in Rand/Person/Monat, 1994-2009
Quelle: Van der Berg und Siebrits 2010, S. 8
Abbildung 60 zeigt die Entwicklung der Auszahlungsbeträge der wichtigsten südafrikanischen Transferprogramme zur Armutsbekämpfung. Die Austeritätspolitik im Rahmen der GEAR-Strategie zeigt sich in den sinkenden Realwerten bis 2003 (die weitgehend durch fehlende oder zu geringe Anpassungen an die Inflationsraten entstanden, wie ein Vergleich der Entwicklung von Nominal- und Realwerten zeigt). Das Wahljahr 2004 markiert einen deutlichen Bruch dieser Entwicklung, der von einer realen Erhöhung der Auszahlungsbeträge markiert wird, die bis 2006 andauerte. Danach verringerten sich die Beträge wieder bis zum nächsten Wahljahr 2009, das wieder von einer Erhöhung des Child Support Grant gekennzeichnet war. Diese von Wahlkämpfen beeinflusste Logik ist in Brasilien nicht gleichermaßen sichtbar, obwohl die politische Dominanz der brasilianischen PT stärker gefährdet war als die des ANC.
Abgesehen davon unterscheiden sich die südafrikanischen Beihilfen auch dadurch von der brasilianischen Bolsa Família, dass sie nicht an Auflagen wie Schulbesuch oder ärztliche Untersuchungen der Kinder gebunden sind. Trotz des Fehlens dieser Auflagen zeigen Studien, dass der Erhalt von Beihilfen mit erhöhtem Schulbesuch und ärztlichen Untersuchungen der Kinder einherging (Lund et al. 2008; Williams 2007). [3] Ähnlich zum brasilianischen System handelt es sich auch in Südafrika um „treffsichere“ Armutsbekämpfung, die Bedingungen der Bedarfsprüfung sind jedoch restriktiver: Im Gegensatz zur brasilianischen Bolsa Família erfasst das südafrikanische Beihilfesystem nur die Menschen vor dem Rentenalter, die entweder körperbehindert sind oder Kinder haben. Dieses Manko wird zwar teilweise durch innerfamiliäre Transfers ausgeglichen. Dennoch wird dadurch – besonders in Anbetracht der hohen Arbeitslosigkeit (vgl. Abschnitt 5.6) – eine beträchtliche Anzahl armer SüdafrikanerInnen nicht von den Programmen erfasst (Marais 2011, S. 238ff.). Die restriktiven Bedarfsprüfungen führten auch zu einem weiteren Problem: An AIDS oder Tuberkulose erkrankte Personen sind nur dann für den Empfang des Disability Grants qualifiziert, solange sie erkrankt sind bzw. wenn ihre Antikörper (CD4 Zellen) eine festgesetzte Grenze unterschreiten. Eine erfolgreiche ärztliche Behandlung führt dazu, dass sie die Beihilfe wieder verlieren. Die Bedarfsprüfung wirkt hier als Anreiz, benötigte Medikamente nicht zu nehmen, da dadurch dringend benötigtes Einkommen verloren ginge (Nattrass 2007, S. 185ff.). Die hohe Verbreitung der beiden Krankheiten in Südafrika lässt dieses Phänomen als nicht unerheblich erscheinen.
Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und der eben genannten Probleme des Beihilfesystems mobilisieren die wichtigsten sozialen Bewegungen und Cosatu seit Ende der 1990er Jahre für ein Grundeinkommen (vgl. Barchiesi 2005, S. 348ff.; Marais 2011, S. 247ff.). Das Grundeinkommen sollte die Lücken des bestehenden Beihilfesystems schließen und stellte in den 2000er Jahren eine der zentralen Forderungen südafrikanischer sozialer Bewegungen dar, die seitens ihrer verschiedenen VerfechterInnen jedoch unterschiedlich interpretiert wird. [4]
Bisher wurden die Forderungen von Regierungsseite (v.a. seitens des Finanzministeriums) abgeblockt, da eine „unkontrollierbare“ Erhöhung der Sozialausgaben prognostiziert wird. Die GegnerInnen des Grundeinkommens führen außerdem einen „Diskurs der Abhängigkeit“: Ein Grundeinkommen führe zur Abhängigkeit von staatlichen „handouts“ (vgl. Barchiesi 2007b). Dieser Diskurs führt dazu, dass die Regierung in ihrer Bearbeitung des Problems von Massenarbeitslosigkeit und daraus resultierender Einkommensarmut auf eine andere Strategie setzt: Das „Expanded Public Works Programme“ begann 2004 und wurde auch von der Regierung Zuma fortgesetzt, die 2009 eine zweite – erweiterte – Phase einleitete (näher dazu: Van der Berg und Siebrits 2010, S. 35ff.; kritisch: McCord und Meth 2008). Die bescheidenen Erfolge des Programmes im Hinblick auf Beschäftigung und Ungleichheit (vgl. die Daten in Abschnitt 5.6) führten u.a. dazu, dass innerhalb von Cosatu neue Möglichkeiten diskutiert wurden und werden – Ende 2012 wurde besonders die brasilianische Mindestlohnpolitik als möglicher neuer politischer Lösungsansatz diskutiert (vgl. Coleman 2012; Jones 2012).
Zusammenfassend zeigt sich, dass die Tendenzen zur Monetarisierung des Sozialsystems in Südafrika deutlicher ausgeprägt sind als in Brasilien: Der Trend zur Aufstockung monetärer Transfers war begleitet von einem Rückgang staatlicher Investitionen in soziale Infrastruktur. Dadurch kam es zu stärkeren Tendenzen der Kommodifizierung sozialer Dienstleistungen. Der Diskurs der Universalisierung der Sozialpolitik war zwar einerseits stärker, da er sich – insbesondere in der „Rainbow-Nation-Periode“ – explizit auf ein „One Nation Project“ stützte. Andererseits orientierte sich dieser Diskurs nicht (wie ansatzweise in Brasilien) auf eine Nivellierung auf das Niveau der Leistungen für die Mittelschicht, sondern eher auf den Abbau der Privilegien der „Weißen“. Die institutionelle Auswirkung dieses Diskurses war der Ausbau der Armutsbekämpfung, an die das Niveau der erbrachten Leistungen angepasst wurde. Auch der Diskurs der Notwendigkeit von „Treffsicherheit“ in der Sozialpolitik war stärker als in Brasilien. Das drückte sich institutionell in rigideren Zugangsvoraussetzungen für die Ausbezahlung der expandierenden Cash Transfers aus, die viele arbeitslose Arme nicht oder nur indirekt erfassen. Das weist ebenso auf die Einflüsse des historischen Erbes liberaler Sozialpolitik hin wie die fehlenden Konditionalitäten der Ausbezahlung der südafrikanischen Grants (im Vergleich zum – in dieser Hinsicht – paternalistischen Brasilien, in dem sich das konservative Erbe zeigt). In dieses Bild passt auch der Ausbau des „Public Works Programms“, das auf eine stärkere Reorientierung von Wohlfahrt zu Workfare hinweist. Die stärker liberale Ausrichtung zeigt sich auch in der Wirtschaftspolitik, die mittels der engen fiskalpolitischen Grenzen in die Sozialpolitik wirkt. Insgesamt ist die diskursive Orientierung an Idealen von „One Nation“ und Umverteilung deutlicher als in Brasilien, wirkt sich aber institutionell geringfügiger auf die Verteilungspolitik aus als der weniger radikale Diskurs in Brasilien.
- [1] Der errechnete Anteil der EmpfängerInnen an der Bevölkerung stellt nur einen Annäherungswert dar. Berechnungsgrundlage waren die Volkszählungen der Jahre 1996 (40.583.573 Personen) und2007 (48.502.063). Da davon ausgegangen werden muss, dass die Gesamtbevölkerung in den Jahren 1997 und 2009 geringfügig von diesen Werten abweicht, sind die angegebenen prozentualen Werte nicht als exakt zu betrachten. Die angegebenen Daten lassen auch keine Angaben darüber zu, wie viele weitere Personen von der ausbezahlten Beihilfe profitieren.
- [2] Der Child Support Grant wurde erst 1998 eingeführt. Die Daten für das Jahr 1997 beziehen sich auf vergleichbare vorhergehende Programme (Parent Allowance Grant und Child Allowance Grant).
- [3] Dieses Faktum wurde von Lund in einem persönlichen Interview (2009) besonders hervorgehoben.
- [4] Je nach Ausrichtung wird ein Basic Income Grant (BIC) oder ein Universal Income Grant (UIC) gefordert. Während der BIC eine Erweiterung der bestehenden Armutsbekämpfung auf noch nicht erfasste Arme impliziert (vgl. z.B. Seekings und Nattrass 2005, S. 393ff.), gehen Forderungen nach einem UIC darüber hinaus, da durch universelle staatliche Einkommensgarantie mittelfristig eine Befreiung vom Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft erfolgen soll (vgl. z.B. Marais 2011, S. 250ff.).