Wandel und Beharrung im Ungleichheitsregime
Eine Frage, die in Südafrika hohe Aufmerksamkeit genießt, betrifft Ausmaß und Umfang gesellschaftlicher Transformation nach dem Ende von Apartheid. [1] In dieser Arbeit wurde ausgeführt, dass sich die Ungleichheitsstrukturen zwar qualitativ verändert haben, aber kaum abgebaut wurden. Stattdessen kam es zu einem Paradigmenwandel von vordergründig rassistischer zu klassenbasierter gesellschaftlicher Stratifizierung. Dieser Wandel vollzog sich in Kontinuität zu den Entwicklungen, die Mitte der 1970er Jahre – unter Apartheid – begonnen hatten: Im Zuge der ökonomischen Restrukturierung wurde die rassistische Arbeitsgesetzgebung zusehends dysfunktional – es wurden weniger ungelernte, sondern mehr Arbeitskräfte mit höherem Ausbildungsniveau benötigt. Die Segregation im Bildungswesen trug zur Verschärfung dieses Mangels an Arbeitskräften bei. Daher (und in Reaktion auf steigenden internationalen Widerstand) wurden schon seit dem Ende der 1970er Jahre rassistische Regelungen zurückgenommen oder abgeschwächt. Dadurch entstand eine neue gesellschaftliche Gruppe: die „schwarze“ Mittelschicht. Gleichzeitig stieg als Folge der höheren Technologieintensivität die Arbeitslosigkeit. Sie stellt seither eines der zentralen sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Landes dar.
Bei Amtsantritt der ersten Post-Apartheid Regierung – und nochmals nach dem Austritt der NP aus der Regierung – regierte die Sorge vor einer Verschlechterung der ökonomischen Situation. Daher setzte die neue Regierung den Kurs der Liberalisierung der Wirtschaftspolitik[2] fort, den die Apartheid Regierung begonnen hatte. Insbesondere die 1996 in Kraft tretende GEAR-Strategie wird damit in Verbindung gebracht. Im Gegensatz zum brasilianischen Plano Real wurde mittels GEAR der Abbau der Staatsschulden betrieben und dadurch ähnliche Abhängigkeiten vom Auslandskapital vermieden. Die restriktive orthodoxe Wirtschaftspolitik diente daher (im Regierungsdiskurs) „der Beruhigung der Märkte“. In diesem Zusammenhang stellt sich aber dennoch die Frage, warum es zu einem laufenden Abbau von Kapitalverkehrsbeschränkungen kam, die mit einer deutlichen Zunahme von Kapitalflucht einhergingen, die zentral im Hinblick auf Südafrikas monetäre Restriktion ist.
Das Geldverhältnis unterlag daher nur geringfügigen Veränderungen. Ähnlich verhielt es sich mit dem Konkurrenzverhältnis: Schon die Apartheid Regierung hatte Schritte der Liberalisierung eingeleitet, nachdem das Projekt, mittels Staatsinterventionen das burische Kapital zu stärken, Erfolge zeigte. Diese Schritte wurden von der ANC-geführten Regierung anfänglich vertieft. Im Zuge der Debatten um staatliche Reaktionen auf die Weltwirtschaftskrise (2007ff.) kamen wieder Diskurse einer Verstaatlichung von Bergbaubetrieben und Banken auf, die jedoch kaum institutionelle Entsprechungen fanden. [3] Die erwähnten Tendenzen der Kapitalflucht wirken sich negativ auf die Möglichkeiten staatlichen Einflusses auf die dominanten Konzerne aus, deren Macht nach dem Ende von Apartheid nicht maßgeblich abnahm (Ashman et al. 2011; Rumney 2005).
Das Lohnverhältnis unterlag aufgrund des Wegfalls der rassistischen Diskriminierung am Arbeitsmarkt den radikalsten Veränderungen. Ab Ende der 1990er Jahr wirkte sich auch die Affirmative Action Politik mittels BEE zusehends stärker aus. Die Probleme im Zusammenhang mit Defiziten in der Ausbildungsstrukur (skills shortages) bestehen weiterhin. Im öffentlichen Sektor verschlechterte sich die Situation aufgrund des Brain- und Skill-Drain in Richtung der Privatwirtschaft. Nichtsdestotrotz ermöglichte die Affirmative Action Politik Angehörigen vormals benachteiligter Gruppen sozialen Aufstieg: Es handelte sich jedoch um eine relativ kleine Gruppe, die vormals meist schon Teil der (unteren) Mittelschichten waren. Besonders nachteilig wirkte sich hingegen die Erhöhung der Arbeitslosigkeit aus, die u.a. mit der offensiven Außenhandelsliberalisierung zusammenhängt und dazu führt, dass große Teile der Gesellschaft marginalisiert blieben. Die strukturelle Heterogenität bleibt daher zentrales Merkmal des Arbeitsmarktes.
Auch die Haushaltsform veränderte sich nur geringfügig: Die Regelungen des Affirmative Action ermöglichten einigen Frauen aus der Mittelschicht gesellschaftlichen Aufstieg in höhere Etagen des Management und der Politik (Iheduru 2003). Die Mehrheit der Frauen ist dafür aber nicht qualifiziert genug und ist mit neuen Problematiken konfrontiert: Die Zunahme der Gewalt betrifft Frauen besonders stark (Wittmann 2010). Außerdem führt die hohe Arbeitslosigkeit paradoxerweise oftmals zur stärkeren Vernachlässigung väterlicher Pflichten, da diese mit dem Wegfall ihrer Ernährerrolle oft nicht umzugehen wissen (Frye 2007).
Obwohl das Migrant Labour System nun nicht mehr in gleicher Weise wirksam ist wie zuvor, müssen viele Frauen weiterhin die Haushaltsführung weitgehend alleine besorgen. Die gestiegene Bedeutung des Child Support Grant bestärkt diese Rollenzuschreibung. Insgesamt weist auch die Haushaltsform Merkmale struktureller Heterogenität auf, da die Inklusion „schwarzer“ Frauen klassenselektiv erfolgte.
Abbildung 61: Ungleichheitsregime, Südafrika, ab 1994
Quelle: eigene Darstellung
Abbildung 61 skizziert das südafrikanische Post-Apartheid-Ungleichheitsregime und weist auf Kontinuitäten und Brüche zum Ungleichheitsregime unter Apartheid hin: Die Produktionsweise wurde schon ab den späten 1970er Jahren intensiviert. Das ging mit Bedarf an besser ausgebildeten Arbeitskräften einher, während weniger (billige) ungelernte Arbeitskräfte benötigt wurden. Daher wurden die rassistischen Regulierungen des Arbeitsmarktes zunehmend dysfunktional. In den 1990er Jahren kam es zusätzlich zur Internationalisierung, die mit den Tendenzen der Kapitalflucht einherging. Gleichheitsorientierte Politik wurde universalisiert und folgte dabei liberalen Grundsätzen in der Sozialpolitik. Besonders ab Mitte der 1990er Jahre wurden die sozialpolitischen Grundsätze stark von der restriktiven Fiskalpolitik mitbestimmt. Im Vergleich zu Brasilien zeigt sich eine ähnliche Entwicklung während der 1990er Jahre, da fiskalpolitische Restriktionen den Aufbau universeller Sozialpolitik behinderten. Im Gegensatz zu Brasilien wurden jedoch tatsächlich die Staatsfinanzen saniert und die Abhängigkeit von Auslandskrediten verringert. Die gleichzeitig erfolgende Kapitalmarktliberalisierung konterkarierte aber diese Strategie, da dadurch die Kapitalflucht erleichtert wurde. Finanziell kommt es dadurch zu Einbußen von Steuereinnahmen. [4]In Verbindung mit gewährten Steuernachlässen führte das dazu, dass die fiskalische Basis des südafrikanischen.Staates nach dem Ende von Apartheid nicht vergrößert werden konnte. Der Fokus gleichheitsorientierter Politik wurde daher eher auf regulative als auf distributive Politik gelegt (vgl. Abb. 62).
Abbildung 62 verdeutlicht Brüche und Kontinuitäten gegenüber dem Apartheid-Regime: Während die rassistische Gesetzgebung abgeschafft wurde, stärkte die ANC-geführte Regierung Affirmative Action Gesetzgebung. Wenn auch zu Gunsten neuer Gruppen, wird damit ein Pfad beschritten, der schon unter Apartheid begangen wurde. Die Erfolge stellten sich jedoch unter Apartheid früher und deutlicher ein, da eine Minderheit und nicht die Bevölkerungsmehrheit durch die Gesetze gefördert werden sollte. Außerdem erfolgte unter Apartheid auch ein massiver Ausbau des Bildungssystems für BurInnen, der ab 1994 (zugunsten von AfrikanerInnen) nicht in diesem Ausmaß zu beobachten ist. Im Rahmen der Restrukturierung des Arbeitsmarktes machen sich die Auswirkungen dieser Bildungspolitik dahin gehend bemerkbar, dass für viele der früher aufgrund rassistischer Regelungen Benachteiligten gesellschaftlicher Aufstieg unrealistisch bleibt, während viele der früher Bevorzugten ihre Privilegien halten konnten (vgl. Abschnitt 5.6). Die Zentralität der Affirmative Action Politik ist ein wichtiger Unterschied zu Brasilien, weil in Südafrika viel offensiver in den Arbeitsmarkt eingegriffen wird. Diese Einschränkung der relativen Autonomie der KapitalistInnen wird jedoch durch das Vergrößern von deren Handlungsspielräumen im Rahmen der Liberalisierungsmaßnahmen konterkariert. Diese Maßnahmen entsprechen dem liberalen Zuschnitt der südafrikanischen Transformation, die stärker „negative Freiheiten“ (d.h. Abbau staatlicher Repression; vgl. Berlin 2001) fokussierte als die brasilianische.
Abbildung 62: Gleichheitsorientierte Politik, Südafrika, ab 1994
Quelle: eigene Darstellung
Auch die Restrukturierung der Sozialpolitik entsprach – nicht zuletzt unter dem Druck fiskalbzw. steuerpolitischer Einschränkungen – stärker liberalen Prinzipien universeller Armutsbekämpfung, als das in Brasilien der Fall war. Die stagnierenden Staatsausgaben in soziale Infrastruktur und Dienstleistungen suggerieren außerdem eine Tendenz der „Monetarisierung“ von Sozialpolitik, der in Brasilien unter Lula und Rousseff entgegengewirkt wurde. [5] Diese Tendenz ist aber weniger universalistisch, da die Auszahlung der Cash Transfers in Südafrika an strengere Kriterien geknüpft ist (dafür dann aber ohne Auflagen gewährt wird). Die nicht Berücksichtigten sollten mittels Workfare-Programmen wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden – eine Strategie, die bisher weniger beschäftigungspolitische Erfolge zeigte als der brasilianische Fokus auf den „Entwicklungsstaat“.
- [1] Das Thema der Transformation ist oftmals Thema von Regierungsdiskursen und wird auch in der Gesellschaftsanalyse oft gebraucht. Beispielsweise veröffentlicht das „Institute for Justice and Reconciliation“ jährliche „Transformation Audits“ (vgl. z.B.: IJR 2010, 2011a).
- [2] Besondere Bedeutung hatte die Liberalisierung des Außenhandels, die schon unter Apartheid begonnen hatte und durch das GEAR-Programm intensiviert wurde. Die Liberalisierung wirkte sich negativ auf den Beschäftigungsstand im verarbeitenden Gewerbe aus und war daher auch für den Anstieg der Einkommensungleichheit mit verantwortlich (Webster und Adler 1999; vgl. auch: Claar 2014).
- [3] Nach langer interner Diskussion beschloss der ANC Ende 2012, sich für „strategische“ und nicht für „vollständige Verstaatlichung“ einzusetzen (SAPA 2012). Dem war ab 2009 eine Debatte vorangegangen, die vom damaligen ANC Youth League Vorsitzenden Malema vorangetrieben wurde, dem jedoch von Angehörigen des linken Regierungsflügels (z.B. Jeremy Cronin von der SACP) vorgeworfen wurde, sich und seine Angehörigen mittels der verstaatlichten Betriebe bereichern zu wollen (SAPA 2009).
- [4] Privatisierungen können eine ähnliche Wirkung nach sich ziehen, da zukünftige Staatseinnahmen ausbleiben können
- [5] Eine wichtige Voraussetzung für den Ausbau der brasilianischen Sozialpolitik waren die Bestimmungen von Mindestinvestitionsquoten in der Verfassung, die den Grundlagen abstrakter Rechtsprechung widersprachen.