Zwischenfazit

Die südafrikanische Entwicklung stellt im internationalen Vergleich einen Sonderfall dar. Der „spezielle Kolonialismus“ wurde stärker im Land verfolgt als in anderen Fällen. Die interne Auseinandersetzung der beiden Kolonialmächte Holland und England dauerte weitaus länger als die Auseinandersetzung der Kolonialmächte Brasiliens. Der Konflikt betraf auch die dominante Vergesellschaftungsform, da die britische Expansion mit der Durchsetzung des Kapitalismus im Bergbausektor einherging. Der britische Sieg im „Burenkrieg“ kann als letzter Grundstein für den Beginn der Periode des rassistischen Kapitalismus betrachtet werden. Anschließend daran geriet die burische Bevölkerung gegenüber den BritInnen ins Hintertreffen. Prozesse der Proletarisierung generierten Widerstand des burischen Proletariats. Als Reaktion darauf veränderte sich die Zusammensetzung des Blocks an der Macht: Burische Kräfte wurden fortan integriert und auf rassistische Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik gesetzt, die das „poor white problem“ bekämpfen und damit die Solidarisierung von BurInnen und AfrikanerInnen verhindern sollten. Letztere formierten vor dem Beginn von Apartheid nur vereinzelt Widerstand. Die britisch dominierte Herrschaft ermöglichte den sozialen Aufstieg einzelner AfrikanerInnen (vordergründig aus einflussreichen Familien) und sorgte für beständige Migration aus den umliegenden Gebieten, um den Arbeitskräftebedarf der Bergbauwirtschaft zu sichern. Ethnische Grenzen zwischen verschiedenen afrikanischen Gruppen wurden kaum abgebaut. Die Sozialisierung in britischen Schulen ging einher mit dem Erlernen einer gemeinsamen Sprache durch einzelne AfrikanerInnen, die in die Mittelschicht aufstiegen, [1] während die Mehrheit schon durch verschiedene Sprachen (sowie räumlich und durch verschiedene Kulturen) getrennt blieb.

Apartheid wurde als burische Reaktion auf die Ereignisse während der 1940er Jahre dargestellt: Diese Zeit war durch relative wirtschaftliche Prosperität, verstärkte afrikanische Migrationsbewegungen aufgrund des Arbeitskräftemangels in der Bergbauwirtschaft und steigenden sozialen Rechten von AfrikanerInnen geprägt. Der Wahlgewinn[2] der National Party 1948 mit ihrem Projekt der Apartheid kann als Ausdruck erneuter burischer Ängste vor sozialem Abstieg betrachtet werden. Apartheid setzte auf gezielte politische, ökonomische und kulturelle Stärkung der BurInnen. Entgegen der anti-britischen Rhetorik wurde der Block an der Macht dahin gehend rekonfiguriert, dass mittels Affirmative Action und staatlichen Investitionen in Unternehmen und Bildungspolitik burische Kapitalfraktionen zu den britischen dazukamen (und nicht die britischen abgesetzt wurden). Dieses Projekt des Catching-Up verlief erfolgreich, funktionierte aber zum Nachteil der „Schwarzen“, die weiterhin als billige Arbeitskräfte fungieren mussten. Im Gegensatz zum vorher praktizierten rassistischen Kapitalismus wurde diese Rolle nun gesetzlich festgelegt und „Schwarze“ wurden somit der Chance sozialen Aufstiegs beraubt. Die rassistische Gesetzgebung erniedrigte sie und gefährdete damit ihre menschliche Würde. Das produzierte Widerstandspotenzial: Von der „schwarzen“ Mittelschicht ausgehend, entwickelten sich Organisationen wie der ANC, die mit anderen verfolgten Gruppen wie der SACP kooperierten. Die Bedeutung der räumlichen Organisation für die Entstehung und Verbreitung des Widerstandes konnte hier nur angedeutet werden: Einerseits konnte die Politik der Apartheid durch die „teile und herrsche“-Politik Erfolge erzielen und die Kooperation einzelner traditioneller afrikanischer Herrschaftshäuser sichern. Andererseits gingen aus dem getrennten Schulwesen und anderen Institutionen auf rassistischer oder getrennter ethnischer Basis auch Impulse zum Widerstand aus.

Das Ungleichheitsregime wurde unter Apartheid also nach rassistischen Kriterien strukturiert. Ökonomisch stand der Minerals-Energy Complex im Zentrum, der von der verfolgten Politik profitierte. Umstellungen in Richtung einer stärker technologieintensiven Produktionsweise führten aber in den 1970er Jahren dazu, dass die rassistischen Gesetze dysfunktional wurden, da zusehends die Ausbildungsanforderungen an die Arbeitskräfte stiegen. Dadurch wuchs der Widerstand gegen das Regime innerhalb des Blocks an der Macht. Gleichzeitig wurde auch international der Druck auf das Regime erhöht und der interne Widerstand intensivierte sich auch. Während der 1980er Jahre begannen die Vorbereitungen des Endes von Apartheid und konkretisierten sich Anfang der 1990er Jahre in den Verhandlungen zwischen Befreiungsbewegungen und Regierung, die unter dem Druck eskalierender Gewalt in den afrikanischen Townships sowie eines internationalen Handelsembargos stattfanden.

Diese Verhandlungen brachten umfassende Transformationen des politischen Systems mit sich, da Mehrheitswahlrecht eingeführt und die rassistische Gesetzgebung abgeschafft wurde. Die Ökonomie war von den Veränderungen hingegen weitaus schwächer betroffen: Die Sorge der Fortsetzung des Investitionsboykotts und damit der Verschärfung der ökonomischen Krise war hauptverantwortlich für eine Wirtschaftspolitik, die in vieler Hinsicht dem damals diskursiv dominanten Neoliberalismus folgte. Als zentrales Projekt der Transformation der wirtschaftlichen Strukturen kristallisierte sich Affirmative Action heraus. Distributive Politik wurde zwar forciert, aber innerhalb eng gesteckter fiskalpolitischer Grenzen. Aufgrund der steigenden Arbeitslosigkeit kam es nach dem Ende von Apartheid zwar zum Aufstieg einer „schwarzen“ Mittelschicht, aber nicht zu effektiver Armutsbekämpfung. Trotz der umfassenden Veränderungen zeigt sich das historische Erbe auch in der Post-Apartheid Politik: Auch die neue politische Führung setzt zentral auf Affirmative Action zur Verbesserung der Situation der vormals Benachteiligten. Im Gegensatz zu den BurInnen sind die „Schwarzen“ aber keine (zahlenmäßige) Minderheit, sondern stellen die Bevölkerungsmehrheit. Die burische Affirmative Action funktionierte „auf dem Rücken“ dieser Mehrheit und wurde außerdem von expansiver Bildungspolitik begleitet, die dafür sorgte, dass es zu realem gesellschaftlichen Aufstieg kam. Das vom ANC proklamierte Projekt „a better life for all“ erscheint unter den aktuellen Rahmenbedingungen als unerreichbar. Daher ist es interessant, dass die vom ANC angeführte Allianz trotz dieser Probleme weiterhin große gesellschaftliche Unterstützung genießt.

Der afrikanische Nationalismus wurde zum dominanten Diskurs der PostApartheid Periode. Einerseits kann dadurch die widersprüchliche Entwicklung ansatzweise legitimiert werden, da auch „Weiße“ Teil des afrikanischen Kollektivs sein können. Der Diskurs hat daher Potenzial, ein „One Nation Project“ anzuleiten. Gleichzeitig können aber auch aktuelle Problemfelder wie steigender Rassismus gegenüber MigrantInnen aus anderen afrikanischen Staaten und die Stärkung des afrikanischen Traditionalismus damit in Verbindung gebracht werden. Damit geraten auch die relativ progressiven Frauenrechte in Bedrängnis.

Im Hinblick auf strategisch-relationale Analysekonzepte kann die Macht der historischen Diskurse gut mit dem Konzept „diskursiver Selektivitäten“ bearbeitet werden. Die Kontinuität in der Affirmative Action Gesetzgebung weist auf starke „technische Selektivitäten“ hin. „Akteurspezifische Selektivitäten“ offenbaren sich einerseits in der Bündnisfrage, da mit den dominanten Kapitalfraktionen kaum gebrochen wurde. Die Verbindung zu den Armen verläuft im Vergleich zu Brasilien stärker über historische Mythen als über offensive Politik der Umverteilung. Andererseits weist auch die starke Berücksichtigung ehemaliger Führungskader in den Affirmative Action Geschäften auf „akteurspezifische Selektivitäten“ hin. Die Frage nach einer damit zusammenhängenden „passiven Revolution“ konnte unter Rückgriff auf Marais' Werk aufgegriffen und verneint werden. Die Beeinflussung wirtschaftspolitischer Entscheidungen durch Sorge vor wirtschaftlichen Krisenerscheinungen durch Boykott und/oder Flucht des Kapitals war für die südafrikanische Post-Apartheid Entwicklung maßgeblich. Das kann auf „diskursive“ und v.a. auf „strukturelle Selektivitäten“ zurückgeführt werden. Damit bietet das Konzept der Selektivitäten einen interessanten Analyserahmen, der für Südafrika um die Frage von Gewalt erweitert werden muss. In dieser Hinsicht bietet sich der Rückgriff auf Offes (1972) ursprüngliche Formulierung des Konzeptes an, die die Rolle von Repression explizit mitberücksichtigte. Die Strategie der Apartheid Regierung kann daher mit Hilfe des Konzeptes „repressiver Selektivitäten“ erfasst werden. Weitergehende Reflexionen werden im anschließenden Kapitel erarbeitet.

  • [1] Der 1912 gegründete ANC vertrat die Interessen dieser kleinen afrikanischen Mittelschicht.
  • [2] Dieser Wahlgewinn erklärt sich auch daraus, dass in Südafrika bis 1994 die afrikanische Bevölkerung nicht wahlberechtigt war.
 
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