Diskurse, Identitäten und Hegemonieprojekte

Die dominanten Diskurse Brasiliens und Südafrika tendierten während der 1990er Jahre zu einem „Diskurs der Kompetenz“, der als Reaktion auf die (konstruierten) „Sachzwänge der Globalisierung“ präsentiert wurde. Ab Mitte der 2000er Jahre kam es zu einer Umorientierung zu „entwicklungsstaatlich“-nationalistischen Diskursen. Nachdem die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme der 1990er Jahre dem „Diskurs der Kompetenz“ widersprachen, kam es gewissermaßen zu einer Rückbesinnung auf ältere Diskurse – in Südafrika auf den „neuen Afrikanismus“[1] und in Brasilien auf den Desenvolvimentismo. Trotz dieser Ähnlichkeiten, zeigten sich aber auch fundamentale Unterschiede im Hinblick auf Diskurs- und Identitätsformation und damit verbundene Hegemonieprojekte.

Brasilien war historisch vor allem von der Auseinandersetzung zwischen Konservativen, Liberalen und PositivistInnen geprägt. Der Patrimonialismus kann als Kompromiss zwischen liberalem und konservativem Hegemonieprojekt verstanden werden, der positivistischen Widerstand zur Folge hatte, der sich gegen die personalistische Herrschaft richtete. Der unter Vargas ab 1930 aufkommende Desenvolvimentismo kann als republikanischer Kompromiss des positivistischen mit liberalem und konservativem Hegemonieprojekt verstanden werden. Die Radikalisierung des Desenvolvimentismo war geprägt von der Abwendungen von Liberalen und Konservativen und der Zuwendung zu bis dahin marginalisierten Bewegungen (Sozialismus, Volkskultur). Die Militärdiktatur kann demnach als konservativ-liberale Reaktion auf diese Radikalisierung, die „Ordnung und Fortschritt“ (im Sinne „konservativer Modernisierung“) gefährdete, verstanden werden. Der Widerstand während der Diktatur richtete sich gegen fehlende Rechtsstaatlichkeit, die konservative Basis des Regimes und am Ende auch gegen die fehlende Einlösung ökonomischer Versprechen. In diesem Zusammenhang kam der Cidadania-Diskurs auf, der liberale (menschenrechtliche), republikanische (demokratische), sozialistische und „entwicklungsstaatliche“ Diskurse verband. Daraus entwickelten sich dann die Hegemonieprojekte, die auch die 1990er prägten: Sozialliberalismus und Desenvolvimentismo. Die brasilianischen dominanten Diskurse hatten und haben gemeinsam, dass sie ein „One Nation Projekt“ anstreben. Unterschiedlich ist vordergründig die Betrachtungsweise: „Entwicklungsstaatliche“ Diskurse betonen, dass die Masse der Marginalisierten die Verwirklichung des „One Nation Projektes“ verhindert (das Land also bis dato ein „Two Nation Projekt“ darstellt). Konservative und Liberale proklamieren hingegen im Rahmen des „Diskurses nicht existierender Gewalt“ ein relativ harmonisches Zusammenleben der Menschen in Brasilien (und damit ein real existierendes „One Nation Projekt“).

Die aktuelle Rhetorik der brasilianischen Regierung, ein „Brasilien für alle“ verwirklichen zu wollen, kann somit direkt an der „entwicklungsstaatlichen“ Interpretation des „One Nation“-Diskurses andocken, ohne sich explizit dem „Diskurs nicht existierender Gewalt“ entgegenzustellen: In einer Phase mit relativ prosperierender Wirtschaft setzte sich damit ein Diskurs durch, der auf Wirtschaftswachstum (und damit implizit: gesellschaftliche Entwicklung) durch Armutsbekämpfung setzt. Ungleichheit soll zwar reduziert werden, aber nicht zu Lasten der Reichen. Vielmehr soll der neu hinzukommende Reichtum vordergründig den Ärmsten zugute kommen. Chancen gesellschaftlichen Aufstiegs scheinen wichtiger zu sein als der Abbau der Ungleichheitsstruktur. Dennoch wurden die Einkommensungleichheiten im Gegensatz zu Südafrika beträchtlich reduziert. Dies geschah aber im Rahmen eines „schwachen Reformismus“ (Singer 2012, S. 169ff.): Die Auseinandersetzung zwischen links und rechts wurde umdefiniert in eine Auseinandersetzung zwischen arm und reich, die mittels richtiger staatlicher Steuerung lösbar wäre. Damit einher ging die Veränderung der Rolle der PT, die tendenziell aufhörte, ein zentraler Knoten der Mobilisierung gesellschaftlichen Protestes zu sein. Stattdessen fungiert die Partei eher als Vermittlerin der Forderungen der Armen an den Staat. Damit werden mögliche soziale Konflikte gewissermaßen „innerhalb der bestehenden Ordnung“ (Singer, in: Becker und David 2013) befriedet: Der Staat sorgt für die Armen und geht damit auf ihre Erwartungen ein. Das trug einerseits zur Passivierung, aber andererseits auch zur Etablierung eines rechtsstaatlichen Bewusstseins unter den Marginalisierten bei. [2] Die PT konnte sich als Organisatorin des „schwachen Reformismus“ unter den Armen und Marginalisierten als deren zentrale Repräsentationsorganisation etablieren. Aktuell bleibt abzuwarten wie sich die Critical Juncture auswirken wird, die mit den großen gesellschaftlichen Protesten 2013 aufkam.

In Südafrika gab es hingegen stark divergierende Interpretationen von „One“, „Two“ oder „Many Nations Projekten“. Die kolonisierenden BritInnen und BurInnen machten keinen vergleichbaren Prozess der „Indigenisierung“ bzw. Interiorisierung durch wie ihre europäischen Pendants in Brasilien. Das burische Projekt verstand sich als übergeordneten „Stamm“ in einem „Many Nations Projekt“, während das britische Projekt stärker zu einem ethnisch hierarchisierten „One Nation Projekt“ tendierte. Liberale und SozialistInnen vertraten am deutlichsten ein „One Nation“-Projekt, wenn auch mit unterschiedlicher Ausrichtung. Die afrikanischen Projekte waren in dieser Frage gespalten: TraditionalistInnen vertraten einen „Many Nations“-Diskurs. Innerhalb der Befreiungsbewegungen gab es auch unterschiedliche Interpretationen. Radikale AfrikanistInnen (v.a. im PAC) teilten tendenziell die Auffassung des „Many Nations“-Diskurses und wollten, dass die „Afrikanische Nation“ die Führung übernimmt. [3] Die dominante Strömung im ANC assoziierte alle vom Regime Unterdrückten als „Schwarz“, die sich gegen die „weißen“ UnterdrückerInnen stellten. Die Selbstidentifikation als unterdrückte „schwarze Nation“ war somit wichtiges einheitsstiftendes Element im Widerstand gegen die „weiße Nation“. Dennoch war der Diskurs nach dem Ende vom Apartheid auf ein „One Nation“-„Rainbow Nation“-Projekt[4] ausgerichtet, das „a better life for all“ bringen sollte. Fehlende Erfolge in der Bekämpfung von Armut und Ungleichheit führten zum Wiederaufkommen eines „Two Nations“-Diskurses, dessen einender Diskurs der „African Renaissance“ sozialistische, nationalistische und afrikanistische Rhetorik mit liberalen politischen Reformen vereinte. [5] Dieser Diskurs beinhaltet eine explizite Kritik der Rolle der „Weißen“ und Forderungen gesellschaftlicher Transformation. Die Rhetorik ist daher in Südafrika radikaler als in Brasilien. Politisch zeigt sich das vordergründig durch den Ausbau (bzw. Umbau) von Affirmative Action Politik, während Einkommensungleichheiten bestehen blieben. Vor diesem Hintergrund explizit thematisierter aber nicht eingelöster Gleichheits- und Gerechtigkeitsdiskurse ist die südafrikanische Gesellschaft weitaus mobilisierter – wie die Beteiligung von nahezu 20% der Bevölkerung an Streiks im Jahr 2011 nahelegt. [6] Dieses hohe Ausmaß der Mobilisierung und die damit zusammenhängende Stärke gesellschaftlicher Proteste stehen in einem Spannungsverhältnis zur nahezu unangefochtenen politischen Führungsrolle des ANC. Diese Rolle des ANC suggeriert relative politische Stabilität in einer Situation relativ instabiler gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse, die durch einen „Two Nations Diskurs“ geprägt sind.

  • [1] Der „neue Afrikanismus“, der mit der Abwahl Mbekis erstarkte, ist nicht mit dem traditionellen afrikanischen Traditionalismus zu verwechseln, der z.B. von der IFP verfolgt wurde/wird. Er integriert zwar auch Elemente des letzteren Traditionalismus, orientiert sich aber vordergründig an den Idealen des Freiheitskampfes gegen das Apartheidregime (wie z.B. der „Freedom Charter“).
  • [2] Ein wichtiges Beispiel für das neue rechtsstaatliche Bewusstsein ist die erfolgreiche Einbringung einer Gesetzesvorlage, die rechtliche Ungleichstellung von Hausangestellten in der Verfassung zu beseitigen und somit die Arbeits- und Sozialrechte auch für Hausangestellte voll wirksam werden zu lassen (Jungmann 2013).
  • [3] Innerhalb des PAC waren die Diskurse in diesem Zusammenhang nicht frei von Ambivalenzen zwischen „One Nation“ und „Many Nations“ Diskursen.
  • [4] Diese Bezeichnung drückt gewissermaßen auch die Widersprüchlichkeit des Diskurses aus: „Rainbow Nation“ suggeriert das friedliche Nebeneinander der verschiedenen „Nationen“. Damit steht neben dem dominanten einenden „One Nation Diskurs“ gleichzeitig ein „Many Nations Diskurs“.
  • [5] Der im Zuge der Abwahl von Mbeki aufkommende „neue Traditionalismus“ unterscheidet sich nicht grundlegend vom Diskurs der „African Renaissance“ und wird daher nicht gesondert aufgeführt.
  • [6] Vergleichbare Streikbeteiligungen gab es in Brasilien nur Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre, als der Widerstand gegen das Militärregime Momentum bekam. Nach der repressiven Beendigung des MetallarbeiterInnenstreiks seitens der Regierung Ende 1995, ging deren Zahl rapide zurück. Während der 2000er Jahre wurden landesweit jährlich nie mehr als 600 Streiks registriert.
 
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