Diskussion

Den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit bilden die von Reinemann und Scherr (2011) identifizierten Defizite bei der Erforschung des Zusammenhangs zwischen Medien und Suiziden (vgl. Kapitel 1.2). Diese beziehen sich auf 1) das enge Begriffsverständnis von Suizidalität, das den meisten Studien auf dem Forschungsfeld zugrunde liegt, 2) das Ausblenden wichtiger Rezipienteneigenschaften, 3) den defizitären Umgang mit Forschungsbefunden, 4) den verengten Blick auf relevante Medieninhalte und 5) die Vernachlässigung von Rezeptionsphänomenen im Medienkontext. Die definitorischen Defizite und der defizitäre Umgang mit Forschungsbefunden wurden im theoretischen Teil der Arbeit aufgearbeitet. Im Rahmen der beiden empirischen Untersuchungen – einer für Deutschland bevölkerungsrepräsentativen Telefonbefragung (CATI) und einer nicht-repräsentativen Online-Panelbefragung – zum Thema Depression, Medien und Suizidalität wurden die bisherigen theoretischen Engführungen der Forschung berücksichtigt. Dazu wurde ein integratives Modell zur Erklärung von Nachahmungssuiziden entwickelt und empirisch im Quer- und Längsschnitt geprüft. In dem Modell ist die Depression als zentrale Prädisposition für Suizidalität enthalten. Der Modellvorschlag selbst baut auf den Überlegungen von Fishbein und Cappella (2006) auf und schließt zentrale Komponenten der sozialkognitiven Theorie Banduras, des „Health Belief Model“ und der „Theory of Reasoned Action“ ein (Rice & Atkin, 2009, S. 442). Damit sind sowohl die theoretischen Kerngedanken zur Erklärung von Nachahmungssuiziden als auch einstellungs- und handlungsbezogene Aspekte in dem Modell repräsentiert. Das Modell wurde in drei Themenkomplexe aufgeteilt, zu denen jeweils drei Forschungsfragen formuliert wurden. Die Forschungsfragen greifen dabei die zentralen Defizite bei der bisherigen Erforschung des Zusammenhangs zwischen Medien und Suiziden auf.

Diskussion der Befunde zu den drei Themenkomplexen

Diskussion der Befunde zu Themenkomplex 1

Forschungsfrage 1.1: Mediennutzung bei Depression

Das medienbezogene Diathese-Stress-Modell schließt für die Suizidforschung sowohl wichtige Rezipienteneigenschaften (allen voran eine klinisch relevante Depression) als auch Medieninhalte und weitere medienbezogene Faktoren (Mediennutzung, Medienrezeption, Medienwahrnehmung) detaillierter ein, als dies in der bisherigen Forschung der Fall war. Das Modell bildet daher die theoretische Grundlage für den ersten Themenkomplex. Forschungsfrage 1.1 lässt sich dahingehend beantworten, dass bei einer schweren Depression insbesondere die Nutzung von Fernsehen und Musik, aber auch die Nutzung spezieller Internetanwendungen, wie z.B. Foren mit gesundheitlichem Schwerpunkt oder Selbsthilfeforen, zunimmt. Demgegenüber nahm die (allgemein erfasste) Nutzung des Internets nicht deutliche zu. Für die zahlreichen Forschungsbemühungen zum Einfluss von Tageszeitungen auf Nachahmungssuizide (Etzersdorfer et al., 2004; Gould et al., 2014; Hagihara et al., 2014) dürfte unter anderem der Befund interessant sein, dass bei schwereren Formen der Depression die Nutzung von Tageszeitungen insgesamt zurückgeht. Aufgrund der großen Überschneidungen zwischen Depression und Suizidalität spricht dieser Befund dafür, auch in zukünftiger Forschung zu Nachahmungssuiziden ein breiteres Medienspektrum zu berücksichtigen, anstatt sich nur auf ein Medium zu fokussieren – was sicherlich auch den tatsächlichen Mediennutzungsgewohnheiten der Bevölkerung gerechter wird. Dass eine Depression (bis zu einem gewissen Grad) im Zusammenhang mit einer höheren Fernsehnutzung steht, wurde bereits früh angenommen (Beck, 1967, S. 29; Morgan, 1984, S. 740). Es finden sich jedoch auch empirische Belege dafür, dass Depressionen und Fernsehnutzungsdauer nicht oder sogar negativ miteinander verbunden sind (Böhm, 2012; Linek, 2003; Perloff, 1993; Potts & Sanchez, 1994). Die vorliegende Studie spricht eher für stärker ausdifferenzierte Zusammenhänge zwischen der Nutzungsdauer spezifischer Medienangebote und der Schwere einer Depression. Dazu passen auch die Befunde zur Internetnutzung: Die Forschung liefert einige Hinweise auf einen positiven Zusammenhang zwischen der Internetnutzung und erhöhter Depressivität (Kraut et al., 1998; Sanders et al., 2000; te Wildt, Putzig, Zedler & Ohlmeier, 2007; Young & Rogers, 1998). In der vorliegenden Arbeit zeigte sich ein solcher Zusammenhang allerdings nur zwischen der Nutzung einiger Internetanwendungen und Depression. Damit knüpft die vorliegende Arbeit vielmehr an aktuelle Befunde zur spezifischen Internetnutzung an (Hwang et al., 2009).

Hinsichtlich der inhaltlichen Präferenzen depressiver Mediennutzer ergibt die vorliegende Studie, dass die gängigen Erhebungsverfahren von Genrepräferenzen im Kontext depressiver Erkrankungen grundsätzlich gewinnbringend sind (vgl. Böhm, 2012). So weist die Untersuchung bei schwerer Depression eine deutliche Präferenz für leichte, unterhaltende Formate nach, während die Präferenz für Nachrichteninhalte ebenso deutlich abnimmt. Diese Beobachtung lässt sich einerseits im Sinne einer Komplexitätsreduktion erklären (Böhm, 2012, S. 292–293), andererseits eignen sich aber gerade die im Kontext einer Depression präferierten Liebesfilme/Melodramen vielleicht besonders, um sich mit eigenen Emotionen auseinanderzusetzen, was Steinleitner (2014) als „mediale Rumination“ beschreibt. Unter Umständen greift also die Erklärung bestimmter Genrepräferenzen als Weg zur Komplexitätsreduktion insofern zu kurz, als bestimmte Medieninhalte im Krankheitsverlauf zur Auseinandersetzung mit der eigenen Person, ernsthaften Themen oder dem eigenen Leben beitragen können (Bartsch, 2012; Wirth, Hofer & Schramm, 2012). Die reduzierte Nutzung von Informationsangeboten erklärt Böhm (09.02.2012, S. 285) mit dem Konzept des „Repressers“ nach Vitouch (2007, S. 179). Demnach führt die Vermeidung der Auseinandersetzung mit den eigenen Ängsten bei psychisch instabilen Menschen zur Vermeidung von Informationen in den Medien, worin Vitouch (2007, S. 181) die Gefahr einer „emotional gap“ sieht. Inwiefern diese speziell im Kontext von Depressionen beobachtbar ist und welche Folgen sich daraus ergeben, bedürfte einer genaueren empirischen Überprüfung.

Hinsichtlich der Motive zur Medienzuwendung stehen sich grundlegend Entspannung, Unterhaltung und Information gegenüber. Der vorliegenden Untersuchung zufolge gewinnen im Kontext einer Depression gerade eskapistische Motive („den Alltag vergessen“, „Entspannung“, „nicht alleine sein“, „Spaß und Unterhaltung“) an Bedeutung. Auch das soziale Monitoring (vgl. „surveillance“ bei Canary und Spitzberg (1993, S. 805)) nimmt bei Depressionen tendenziell zu, während das Motiv Information tendenziell an Bedeutung verliert. Steinleitner (2014) ergänzt den klassischen Motivkatalog der Mediennutzung um ein eudaimonisches Nutzungsmotiv bei stationär behandelten depressiven Patienten, mit denen sie Leitfadeninterviews führte. Aus den Gesprächen folgert Steinleitner (2014) etwa, dass die Patienten auch Medien nutzen, um positive Meta-Emotionen hervorzurufen (Bartsch et al., 2008; Wirth & Schramm, 2007). Dies drückt sich in der vorliegenden Untersuchung am ehesten in den Motiven „Vergleiche mit anderen“ und „Einblicke in Leben anderer“ aus, die nach Canary und Spitzberg (1993) unter dem Label„social surveillance“ zusammengefasst wurden.

 
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