Diskussion der Befunde zu Themenkomplex 2

Der zweite Themenkomplex bezieht sich auf die Einflussstrukturen zwischen den medienbezogenen Faktoren des Diathese-Stress-Modells und der individuellen Suizidalität, der ein erweitertes Begriffsverständnis zugrunde liegt. Wie in den anderen beiden Themenkomplexen wurden insgesamt drei Forschungsfragen formuliert und im Rahmen der empirischen Untersuchungen beantwortet. Die Diskussion der Befunde orientiert sich daran.

Forschungsfrage 2.1: Mediennutzung und Suizidalität

Eine Depression trägt insbesondere zu einer intensiveren Nutzung des Fernsehens und zu einer geringeren Nutzung von Tageszeitungen bei. Die Nutzung dieser Medien lässt sich wiederum mit der individuellen Suizidalität der Befragten in Zusammenhang bringen. Dabei zeigt sich, dass eine höhere Fernsehnutzung ebenso wie eine geringere Zeitungsnutzung mit einer höheren Suizidalität verbunden ist. Eine Depression trägt also als individuell prädisponierender Faktor zu einer veränderten Mediennutzung bei und wirkt sich damit indirekt auf das individuelle Suizidrisiko aus. Am deutlichsten ist diese Wirkungskette in der bundesdeutschen Bevölkerung für das Fernsehen zu beobachten: Die individuelle Fernsehnutzung kann demnach einen schwachen, allerdings schädlichen Einfluss auf das Suizidrisiko in der Bevölkerung ausüben. Der Befund trat allerdings in den längsschnittlichen Untersuchungen nicht mehr zutage, was gegen die Stabilität des insgesamt schwachen Befundes spricht. Im Zeitverlauf (vgl. Kapitel 7.2 für die genaue methodische Umsetzung) ergab sich stattdessen eine schädliche Wirkungskette von depressionsbedingt erhöhter Internetnutzung auf die individuelle Suizidalität, die in den Repräsentativdaten nicht auftrat. Obwohl Stack (2003) ermittelte, dass Studien zu suizidalen Nachahmungseffekten durch das Fernsehen mit 82% geringerer Wahrscheinlichkeit einen Werther-Effekt entdeckten als Studien zur Wirkung von Tageszeitungen, spricht die vorliegende Untersuchung für die Auswirkungen des Fernsehens. Mithilfe autoregressiver Modelle, die gruppenspezifisch nach der Schwere der Depression berechnet wurden, lassen sich die Befunde überdies genauer spezifizieren: Während eine schwere Depression schädliche Interneteffekte fördert, verhindert eine schwere Depression die schädlichen Fernseheffekte auf die individuelle Suizidalität. Letztere treten in erster Linie bei Personen mit schwächeren Formen von Depressionen auf. Die Befunde sprechen außerdem insgesamt für die Hypothese einer verringerten Aktivität im Kontext von Depression, die durch die vermehrte Fernsehnutzung und die verringerte Tageszeitungsnutzung verstärkt werden kann. Qualitative Untersuchungen sprechen darüber hinaus dafür, dass es im Kontext einer Depression auch zu einer Art Medienabstinenz kommen kann (Steinleitner, 2014, S. 79). In diesem Fall erscheint es plausibel, dass wiederum die Auswirkungen einer Depression auf die Erinnerung an suizidale Medieninhalte im Hinblick auf die individuelle Suizidalität an Bedeutung gewinnen.

Forschungsfrage 2.2: Medienrezeption und Suizidalität

Stellvertretend für die Medienrezeption wurde im Zusammenspiel mit Depression und individueller Suizidalität die Erinnerung an einen Suizidfall untersucht. In der Repräsentativbefragung ergaben sich dabei keine indirekten Effekte, längsschnittlich wurde dagegen ein schwacher, schädlicher Effekt auf die Suizidalität erkennbar. Depressionen führen demnach mittelfristig dazu, dass sich Rezipienten häufiger an einen Suizidfall in den Medien erinnern und diese Erinnerung erhöht wiederum kurzfristig die individuelle Suizidalität. Aufgrund der depressionsspezifisch fehlerbehafteten Erinnerung (Beck, 1987; Disner et al., 2011) müssten diese Befunde allerdings noch genauer im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf die Suizidalität analysiert werden.

Forschungsfrage 2.3: Medienwahrnehmung und Suizidalität

Im Zusammenspiel von Depressionen und Suizidalität zeigt sich in den repräsentativen Befragungsdaten ein durch die Medienwahrnehmung verringerter Effekt der Depression auf die individuelle Suizidalität. Der Effekt ist in erster Linie dann beobachtbar, wenn die Befragten Medienwirkungen eher sich selbst zuschrieben. Dieser Befund lässt sich unter anderem als ein Indikator für den Erfolg von Medienguidelines in Deutschland interpretieren. Dazu zählen einerseits die Sensibilisierung für schädliche Medienwirkungen auf Seiten der Journalisten und andererseits die immer häufiger zu beobachtenden Hinweise auf Hilfsmöglichkeiten in den Medien. Auch die jüngsten Hinweise auf die inhaltlichen Aspekte der Suizidberichterstattung, die einen Papageno-Effekt auslösen (Niederkrotenthaler et al., 2010), könnten dafür verantwortlich sein, dass sich eine vom Publikum stärker auf die eigene Person bezogene Suizidberichterstattung positiv auf die individuelle Suizidalität auswirkt. [1] Im Längsschnitt ist der Effekt einer Depression über die Medienwahrnehmung auf die individuelle Suizidalität dagegen nicht mehr beobachtbar.

  • [1] Ergänzende Auswertungen zeigen, dass eine Depression gleichzeitig zu intensiveren Third-PersonWahrnehmungen führt (f3 = .10, p < .001), die dagegen zu keiner erhöhten Suizidalität beitragen (f3 =.03, p = .244).
 
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