Zwischenfazit: Retrospektive Verantwortung der Konsumenten für Beitrag und Beteiligung?
Es kann aus den vorhergegangenen Ausführungen auf jeden Fall geschlossen werden, dass Konsumenten einen Beitrag zu einem in moralischer Hinsicht verurteilungswerten Kollektivschaden leisten und an ihm beteiligt sind. Ich möchte im Folgenden darlegen, warum ich mich den Schlussfolgerungen, die Kutz und Schwartz ziehen, jedoch nicht anschließe und mich von der Position distanziere, dass Konsumenten durch ihre Beteiligung an den Marktstrukturen eine retrospektive moralische Verantwortung im Sinne von „Schuld“ zugeschrieben werden kann bzw. dass ihr Handeln moralisch verurteilt werden kann. Dies ist meiner Ansicht nach zumindest dann problematisch, wenn generell von „Konsumenten“ die Rede ist, ohne die jeweiligen Handlungsumstände sorgfältig und spezifisch für jeden Konsumenten im Hinblick auf die weiteren Kriterien einer Verantwortungszuschreibung zu differenzieren.
Entsprechend der in Kapitel 3.2.1 beschriebenen Verantwortungskriterien ist zusätzlich zu Beitrag und Beteiligung die Erfüllung weiterer Bedingungen notwendig, um Verantwortungszuschreibungen vornehmen zu können. So ist es mindestens notwendig, dass der Akteur von den Umständen seines Handelns und dessen Konsequenzen wusste und die moralische Tragweite erkennen konnte. Beides ist bei strukturell bedingten Schäden jedoch – und dies habe ich in der Einleitung als eine der Herausforderungen für die Zuschreibung von Verantwortung in diesen Fällen beschrieben – nicht selbstverständlich gegeben. Zumindest ist es schwer einsehbar, wann diese Bedingungen erfüllt sind und wann nicht. Diese Problematik wird im Folgenden anhand dreier Argumentationsschritte verdeutlicht. Dabei ist der Ausgangspunkt der Argumentation der, dass Konsumenten nicht intentional an einem eindeutig moralisch fragwürdigen Handeln teilnehmen, wie es etwa bei den verschiedenen Beispielen des Raubüberfalls oder der Bombenangriffe der Fall ist. Konsum ist in der Regel nicht darauf ausgerichtet, den Klimawandel oder die Verletzung von Menschenrechten zu bewirken. Konsumenten handeln hingegen primär gemäß den gegebenen Normen und Standards, die gesellschaftlich anerkannt und akzeptiert sind, um ihre objektiven Bedürfnisse und subjektiven Wünsche zu befriedigen. Wie bereits mehrfach angeklungen, handelt es sich bei den negativen sozialen und ökologischen Auswirkungen des Konsums daher um negative Sekundäreffekte.641 Und selbst wenn grundsätzlich auch die Hinnahme negativer Schädigungen moralisch verwerflich sein kann,642 sprechen wichtige Gründe dagegen, eine solche Zuschreibung – zumindest wenn nicht der Einzelfall beurteilt wird – vornehmen zu können.
Erstens ist an dieser Stelle auf die Differenzierung zwischen einem konventionellen und einem unkonventionellen moralischen Kontext hinzuweisen, die ich in Kapitel 3.2.1.2 (S. 114) erwähnt habe.643 Es wäre demzufolge zunächst zu überprüfen, ob die Kenntnis der moralischen Zusammenhänge vorausgesetzt und ob verlangt werden kann, dass Konsumenten das moralische Risiko einschätzen können. Dabei könnte etwa geltend gemacht werden, dass die negativen Auswirkungen des Wirtschaftssystems auf heutige und zukünftige Generationen bekannt sein müssten, sodass Individuen die moralische Fragwürdigkeit ihres Handelns erkennen können müssten, selbst wenn es an Wissen über die genauen Folgen der individuellen Handlungen mangelt.644
Zunächst ist jedoch die Zuschreibung von moralischer Schuld aufgrund der Annahme, dass etwas gewusst werden konnte, eine schwierige Angelegenheit.645 Ein moralischer Vorwurf kann in einem unkonventionellen moralischen Kontext nur vorgenommen werden, wenn die Folgen des eigenen und des kollektiven Handelns absichtlich nicht in Erfahrung gebracht wurden, um die Auseinandersetzung mit den entsprechenden Konsequenzen zu vermeiden.646
Anstatt jedoch das Wissen um die durch das Markthandeln verursachten Schäden in den Mittelpunkt zu rücken, erscheint mir dieser Aspekt gar nicht der primär relevante zu sein. Das eigentliche Problem mit Bezug auf das moralische Wissen der Akteure ist vielmehr in der moralischen Ungewissheit zu sehen, die aufgrund der Dilemmastruktur hinsichtlich der (moralischen) Rolle des einzelnen Akteurs besteht.647 Individuelle Verantwortung für den Klimawandel bzw. den Klimaschutz oder für die Arbeitsbedingungen in Billiglohnländern ist als unkonventioneller moralischer Kontext zu interpretieren, bei dem selbst unter Wirtschaftsethikern Uneinigkeit herrscht.648 Diese Uneinigkeit spiegelt sich in den Einstellungen der Bevölkerung und der verschiedenen Konsumentengruppen wider, unter denen sich zwar einige in einer verantwortlichen Rolle sehen, andere jedoch nicht.649 Es ist noch einmal zu betonen: Es geht hier also nicht um die Kenntnis der Schadenseffekte, sondern um die Kenntnis der eigenen moralischen Rolle, die in diesem Fall nicht vorausgesetzt werden kann. Die Schlussfolgerung lautet, dass eine retrospektive Verantwortungszuschreibung problematisch ist.
Während also bereits hierin eine Schwierigkeit dafür zu finden ist, Konsumenten eine moralische Schuld zuzuschreiben, wird dieses Problem zweitens noch dadurch verstärkt, dass im Nachhaltigkeitskontext moralische Zieldiskrepanzen und Trade-offs möglich sind. Das Problem liegt darin, dass die Einsicht in die moralische Fragwürdigkeit gegebener Strukturen dem aktuellen marktwirtschaftlichen System gegenüber steht. Dieses ist jedoch selbst nicht moralfrei, sondern durch normative Ansprüche geprägt. So lautet ein traditioneller Gedanke der Konsummoral, dass durch den Konsum die Wirtschaft floriert, Wachstum garantiert und Arbeitsplätze im Sinne des Gemeinwohls gesichert werden.650 Demgegenüber steht dann jedoch beispielsweise der ökologische Anspruch des weniger Konsumierens im Zusammenhang mit der Suffizienzstrategie (siehe Kapitel 2.4.2.5). Neue moralische Ansprüche können also mit den bestehenden konfligieren. Hier zeigt sich im Übrigen nicht nur eine Diskrepanz zwischen herkömmlichen und neuen moralischen Vorstellungen, sondern auch die aktuelle Schwierigkeit des Ansatzes der Nachhaltigkeitsdimensionen (siehe Kapitel 2.3.2), da die ökonomische bzw. soziale Dimension mit der ökologischen in Konflikt geraten können. Ein weiteres Beispiel hierfür ist der Verzicht auf den Kauf von Kleidung, die in sogenannten Sweatshops hergestellt wurde, wodurch die eigentlich zu schützenden Arbeiter womöglich ihre Arbeitsstelle verlieren.651 Auch wenn es ein langfristiges Ziel der nachhaltigen Entwicklung ist, dass diese verschiedenen Ansprüche nicht mehr konfligieren, können diese Zieldiskrepanzen zumindest kurzfristig nicht ignoriert werden und müssen bei möglichen Schuldzuschreibungen berücksichtigt werden.652
Schließlich wurde drittens in Kapitel 4.1. und 4.2 gezeigt, dass Konsumenten im Rahmen gegebener Strukturen handeln und diese sie sowohl befähigen als auch beschränken. Konsumenten sind weder eindeutig als Souverän noch eindeutig als Opfer im Marktsystem anzusehen, sondern je nach individuellen und situativen Umständen sind Mischformen zwischen beiden Extremen die Regel. Es ist also diesbezüglich zu hinterfragen, inwiefern einzelne Konsumenten überhaupt die Möglichkeit haben, anders und somit entgegen der Strukturen zu handeln. Hier ist auch die Kritik an Kutz' Schlussfolgerungen wieder aufzugreifen, der zufolge nicht beurteilt werden kann, ob Konsumenten überhaupt an bestimmten marktwirtschaftlichen Prozessen teilhaben möchten: So können die verfügbaren Ressourcen (beispielsweise finanzieller Art) und Handlungszwänge (beispielsweise der Besuch der pflegebedürftigen Mutter, für den ein Auto benötigt wird)653 die Möglichkeiten von Individuen einschränken, ihr eigenes Handeln zu verändern und sich den neuen moralischen Anforderungen einer nachhaltigeren Konsum- und Lebensweise anzupassen. Das Konzept der Dualität von Struktur zielt gerade darauf ab, dass Akteure die Strukturen zwar beeinflussen können, dass diese ihren Handlungen jedoch gleichzeitig auch Grenzen setzen.
Das Problem für die Zuschreibung einer moralischen Schuld an Konsumenten ist also ein dreifaches: Erstens stellen moralische Ansprüche an den individuellen Konsumenten für eine nachhaltige Entwicklung einen relativ neuen und daher nicht als bekannt voraussetzbaren moralischen Anspruch dar, zweitens kann dieser Anspruch mit anderen moralischen Ansprüchen kollidieren und drittens bestehen für individuelle Akteure unter Umständen gar nicht die Spielräume für Veränderungen ihres Handelns.
Es lässt sich zusammenfassen, dass Kutz und auch Schwartz die Dualität von Struktur nicht ausreichend beachten. Es ist keineswegs geklärt, welche Möglichkeiten und Handlungsspielräume Konsumenten genau haben, um das moralisch fragwürdige Handeln zu unterlassen und welches Verhalten von ihnen hätte erwartet werden können. Schwartz und Kutz beantworten somit letztlich die zweite vor der ersten Frage: Sie schreiben retrospektive Verantwortung dort zu, wo Zuständigkeiten und normative Ansprüche noch gar nicht geklärt sind und leiten daraufhin eine entsprechende zukünftige Verantwortung ab.654
Moralische Schuld von Konsumenten wäre ein starkes Argument dafür, dass Konsumenten ihr Handeln in Zukunft ändern müssten, um nicht weitere moralische Pflichtverletzungen zu begehen. Wie es scheint, kann dieses Argument jedoch nicht eingesetzt werden, da Konsumenten keine moralische Schuld zugeschrieben werden kann. Es muss daher nach anderen Verfahren gesucht werden, die eine moralische Verantwortungszuschreibung ohne vorherige Schuldzuschreibung zulassen, wenn der Gedanke der Konsumentenverantwortung nicht ganz verworfen werden soll.