Vierter Bereich: Veränderung der Rahmenbedingungen (extern)
Im letzten Abschnitt wurden verschiedene Optionen dargestellt, wie Konsumenten über den Rahmen ihres persönlichen Konsumhandelns hinaus „aus dem System heraus“ Einfluss auf marktwirtschaftliche Strukturen nehmen können. Hier soll nun die Frage aufgegriffen werden, welche Aktivitäten „von außerhalb des Systems“ möglich sind. Eine Form der Einflussnahme auf das Wirtschaftssystem von außen sind Aktivitäten der Konsumenten als Bürger „im politischen System, da dort die verbindlichen und legitimationspflichtigen Rahmenbedingungen für andere Systeme, also etwa auch für das Wirtschaftssystem, festgelegt werden.“ (Grunwald 2010, S. 181)895 Es sind somit auch Aktivitäten gemeint, die direkt in der politischen Sphäre und auf der Ebene von Rahmenregelungen und Anreizmechanismen angesiedelt sind.896 Darüber hinaus ist jedoch auch die übergeordnete Ebene deliberativer Meinungsbildung angesprochen.
Einfluss auf politische Maßnahmen
Das politische System beeinflusst die Handlungsmöglichkeiten der Wirtschaftsakteure, indem es diese einerseits erweitert, andererseits jedoch auch begrenzt. Es gewährleistet somit die formelle (rechtliche) Grundlage dafür, nach welchen Regeln und Normen diese handeln und kann so nachhaltiges Konsumieren und Produzieren sowohl fördern als auch fordern. Das Wirtschaftssystem ist insofern immer auch ein „politisches Projekt“ (Neuner 2008, S. 281). Der Umbau der politischen Strukturen und Rahmenregelungen ist daher ein zentrales Instrument für ein nachhaltigeres Wirtschaftssystem, indem moralische Normen zu politischen Normen verfestigt und legitimiert werden.
Über ihre politische Rolle als Bürger können Konsumenten in jeder Hinsicht Einfluss auf die Politik nehmen, in der diese eine nachhaltige Entwicklung forcieren kann.897 Ziel ist es dabei, den begrenzten individuellen Handlungsspielräumen innerhalb der Strukturen mit Initiativen zu begegnen, mit deren Hilfe es den Wirtschaftsakteuren – also auch den Konsumenten selbst – vereinfacht wird, verantwortlich zu handeln. Auf dieser Ebene kann damit letztlich eine Form der „kollektiven Selbstbindung“ (Beckmann/Pies 2008, S. 47; Hervorh. im Original) stattfinden. Darüber hinaus ist es jedoch auch das Ziel, die Politik dahingehend zu verpflichten, dass sie die Rechte der Konsumenten dort, wo sie begrenzt sind oder wo ihre Position am Markt gegenüber Anbietern geschwächt ist, zu stärken, damit Konsumenten ihrer Verantwortung nachkommen können.898 Im Folgenden seien drei Beispielbereiche für die mögliche politische Einflussnahme genannt: die Durchsetzung international verbindlicher Abkommen, die Gestaltung der Rahmenregeln wirtschaftlichen Handels in Form von Anreizen oder Sanktionsmechanismen und schließlich die Ausweitung der Handlungsspielräume der Konsumenten durch die Stärkung ihrer Rechte. Ich spreche dabei im Folgenden von Konsumbürgern899 und nicht von Bürgern, um mich von Positionen abzugrenzen, die in diesem Zusammenhang eine Trennung von Bürger- und Konsumentenrolle vornehmen.900
Durchsetzung (international) verbindlicher Abkommen
Konsumenten können sich für eine Nachhaltigkeitspolitik einsetzen, die vor allem auch auf internationaler Ebene entsprechende Ziele verbindlich implementiert. Beispiele hierfür sind die von NGOs organisierten Proteste und „Gegengipfel“, die etliche UN-Weltkonferenzen und insbesondere auch die Klimakonferenzen begleiten. NGOs nehmen an diesen nicht nur konfliktiv, sondern auch kooperativ als Verhandlungspartner teil.901 Hier spielt vor allem die globale Vernetzung mit den Kommunikationsmitteln des Internets eine große Rolle, da sie Konsumbürger Möglichkeiten eröffnet, sich als Welt(konsum)bürger zusammenzuschließen und auf Regierungen einzuwirken.902
Gestaltung der Rahmenregeln
Darüber hinaus können Konsumbürger Einfluss auf die nationale Politik nehmen, damit diese Formen der kollektiven Selbstbindung implementiert, den Unternehmen und Konsumenten ein nachhaltiges Handeln erleichtert oder dieses, wenn notwendig, durch gesetzliche Regelungen verpflichtend vorschreibt:
„Die Gesetze werden ihre Rolle als moralischer Orientierungsmaßstab aber nur dann behalten können, wenn sie an die im Zuge der Nachhaltigkeitsdebatte entstandenen Werte angepasst werden.“ (Hansen/Schrader 2009, S. 476) So gilt es, „institutionelle Antworten auf (theorie-)spezifische Problemwahrnehmungen“ (Schaal/Ritzi 2009, S. 57) zu finden. Konsumbürger können sich an dieser Lösungsfindung beteiligen oder zumindest ihren politischen Willen dafür ausdrücken und Unterstützung signalisieren.903
Vor allem Anreiz- und Sanktionsmechanismen stellen hier ein wichtiges politisches Instrument dar. Beispiele sind die Internalisierung externer Kosten und die Abschaffung steuerlicher Vorteile in nicht nachhaltigen Sektoren, wie Grunwald anhand der Erhöhung einer Kerosinsteuer verdeutlicht, mit deren Hilfe der Flugverkehr begrenzt werden könnte.904 Damit würden die Anreize nicht mehr gegen, sondern für ein nachhaltiges Handeln wirken, da nicht nachhaltiges Handeln entsprechend der „wahren“ Kosten sanktioniert, nachhaltiges Handeln jedoch belohnt würde.905
Des Weiteren können sich Konsumenten für eine politisch organisierte Veränderung der „choice architecture“ (Thaler/Sunstein 2009, S. 83) einsetzen, die ihnen verantwortliche Entscheidungen im Alltag erleichtert. Der Ansatz der bewussten Wahlarchitektur geht auf die verhaltensökonomische Forschung zurück, deren Ergebnissen zufolge Entscheidungen oftmals nicht rational getroffen werden, sondern vielmehr spontan, emotional und situativ, d. h. vom Kontext der Situation beeinflusst (siehe Kapitel 4.1.3). Dies führt dazu, dass Menschen unter vermeintlicher „Willensschwäche“ (Ritzi/Schaal 2009, S. 9) leiden und sie bestimmte Vorhaben, die sie eigentlich beabsichtigt hatten, nicht durchführen, sondern sich zu anderem, unerwünschtem Handeln „verleiten“ lassen. Ausgehend von dem „Dilemma, schwach zu sein und davon zu wissen“ (Brodocz 2009, S. 17), könnten sie sich jedoch durch „Techniken rationaler Selbstbindung“ (Schaal 2009) die erwünschten Entscheidungen erleichtern, indem sie den Kontext im Vorhinein bewusst steuerten. So hilft ein Sparvertrag eher beim langfristigen Sparen als das Vorhaben, regelmäßig Geld zur Seite zu legen usw.906 Für die Gestaltung des nachhaltigen Entscheidungskontextes bedeutet dies etwa, sich dafür einzusetzen, dass „als Voreinstellung für das Standardangebot des kommunalen Stromanbieters Öko-Strom gesetzt wird, während Strom aus Kernenergie extra dazu gewählt werden müsste“ (Reisch/Hagen 2011, S. 232). Allein diese Vorauswahl könne einen großen Einfluss auf die Entscheidung der Menschen haben, die dazu tendierten, es bei der Standardwahl zu belassen.
Ausweitung der eigenen Handlungsspielräume
Konsumbürger können zudem eine Ausweitung der Rechte und Handlungsspielräume für Konsumenten verlangen, um so ihre Position vor allem gegenüber Unternehmen zu stärken und ihre Verantwortungsrolle besser wahrnehmen zu können.907 Hierzu gehört beispielsweise die Forderung nach Transparenz hinsichtlich der Herstellungsbedingungen von Produkten, nach stärkeren Kontrollen von Wertschöpfungsketten sowie von Werbeinhalten. Dabei steht die Verfügbarkeit von leicht verständlichen Informationen auf den Produkten im Vordergrund: Es geht nicht um „mehr Information, sondern nützlichere und intuitiv verständliche Information“ (ebd., S. 235; Hervorh. im Original).908
Eine weitere Forderung kann sich auf Maßnahmen gegen Strategien von Unternehmen beziehen, die einem verantwortlichen Konsumentenhandeln zuwiderlaufen und so das Wahlrecht der Konsumenten einschränken. Ein Beispiel hierfür ist die sogenannte „Obsoleszenzpolitik, mit der eine künstliche Veralterung der Produkte und damit ihre frühzeitige ökonomische Entwertung herbeigeführt wird“ (Hansen 2011, S. 353). Da selten mit Bestimmtheit gesagt werden kann, inwiefern die Obsoleszenz tatsächlich „geplant“ ist oder Produktionsmängel vorliegen,909 schlägt die Verbraucherzentrale zum Beispiel vor, die Gewährleistungsfrist gesetzlich von zwei auf vier Jahre heraufzusetzen und die Reparaturfähigkeit der Geräte zu verbessern.910
Doch sind Konsumenten in ihrer Wahl nicht nur vom Unternehmensangebot, sondern auch von der Bereitstellung entsprechender Infrastrukturen durch die öffentliche Hand abhängig. Der Anschluss an ein gut funktionierendes öffentliches Verkehrsnetz, sichere Fahrradwege sowie ihr entsprechender Ausbau sind beispielsweise wichtige Voraussetzungen dafür, dass Konsumenten die Möglichkeit haben, ihr Mobilitätsverhalten umzustellen.911 Konsumbürger können von der Politik entsprechende Investitionen in diese Infrastrukturen verlangen, um ihnen die nachhaltige Wahl zu erleichtern. Ein Beispiel hierfür ist das „1. Verbraucherparlament, das vom Verbraucherzentrale Bundesverband im Juni 2010 in Berlin unter dem Motto ,für mich. für dich. fürs klima' mit Schwerpunkt auf klimaverträgliche Mobilitätskonzepte durchgeführt wurde“ (Fischer/Sommer 2011, S. 193; im Original teilweise kursiv) und Vorschläge für „die Finanzierung öffentlichen Nahverkehrs mittels einer Einheitsabgabe“ (ebd.) unterbreitete.912
Die Instrumente, die den Konsumbürgern für die Beeinflussung der Politik in diesen Bereichen zur Verfügung stehen, sind vielfältig. Sie können Grunwald zufolge zum Beispiel dafür eintreten, dass Parteien Nachhaltigkeit in ihr Programm aufnehmen und das Thema so zum festen Bestandteil der politischen Agenda wird.913 Die Mitgliedschaft in einer Partei, die Teilnahme an Demonstrationen, Unterschriftenaktionen oder Bundestagspetitionen sind weitere denkbare Instrumente. Die Kehrtwende in der deutschen Atompolitik im Jahr 2011 wurde zwar letztlich von den Vorfällen im japanischen Kernkraftwerk Fukushima Daiichi ausgelöst, wäre jedoch vermutlich nicht möglich gewesen, wenn die Atomgegner nicht schon seit Jahrzehnten in Deutschland durch beständige Proteste und Lobbyarbeit ein entsprechendes politisches Klima geprägt hätten.914
Die Kollektivierung der eigenen Stimme ist für die Stärkung des Einflusses von Konsumbürgern gegenüber der Politik ähnlich entscheidend wie gegenüber Unternehmen. Deshalb können und sollten auch auf der politischen Ebene zivilgesellschaftliche Strukturen genutzt werden, um Forderungen besser artikulieren und vertreten zu können.915 Nicht zuletzt leisten Verbraucherschutzorganisationen eine wichtige Rolle für die Förderung der Konsumentenverantwortung, indem sie sich für die Verwirklichung von Konsumentenrechten auf internationaler, transnationaler und nationaler Ebene einsetzen.916 Verbraucherverbände und -initiativen können sozial-ökologische Belange mit der Stärkung der Konsumrechte in Verbindung bringen und so eine Verantwortungsübernahme durch die Konsumenten unterstützen bzw. ermöglichen.917