Seit dem 19. Jahrhundert: Gesellschaftliche Modernisierung
Trotz der Auswirkungen, die die Aufklärung vor allem in den USA, in England und in Frankreich in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht nach sich zog, können diese Gesellschaft bis weit in das 19. Jahrhundert nicht als modern bezeichnet werden. Die gesellschaftliche Modernisierung, das heißt die massenhafte Durchsetzung moderner Leitlinien in der Gesellschaft insgesamt, ist vielmehr als Prozess erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts und dem Beginn des 19. Jahrhunderts allmählich zu beobachten, der zuerst in England, Frankreich und den USA und nachfolgend auch in anderen europäischen Regionen Gesellschaften nach und nach umstrukturiert. In Deutschland ist trotz einschneidender gesellschaftlicher Umwälzungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Zuge verschiedener Reformen wie etwa die Bauernbefreiung, die Gewerbefreiheit, die Einführung der Schulpflicht, die Festsetzung kommunaler Autonomien nicht vor Mitte des 19. Jahrhunderts von einem Beginn gesellschaftlicher Modernisierung auszugehen. Als moderne Gesellschaft ist Deutschland frühstens ab der Mitte des 20. Jahrhunderts zu bezeichnen.
Was zeichnet moderne Gesellschaften aus? Was sind grundlegende Kennzeichen moderner Gesellschaften? Die soziologischen Modernisierungstheorien setzen in dieser Hinsicht zwar unterschiedliche Akzente und untersuchen unterschiedliche Dimensionen der Modernisierung. Diese fügen sich aber durchaus in ein gemeinsames Bild ein. Eine Synopse wichtiger Modernisierungstheorien ergibt, dass sich im Verlauf des Modernisierungsprozesses folgende Merkmale einer Gesellschaft herausbilden (vgl. zusammenfassend u. a. Andorka 2001, S. 499 ff.; Berger 1996, S. 47 ff.; Loo und Reijen 1992; Resasade 1984, S. 37 ff.; Weymann 1998, S. 89 ff.).
Allgemeine Merkmale der Modernisierung sind unter anderem:
1. Die gesellschaftliche Modernisierung ist ein umfassender historischer Prozess, der sich aus vier unterschiedlichen Dimensionen zusammensetzt: Differenzierung, Domestizierung, Individualisierung und Rationalisierung (Loo und Reijen 1992).
2. Gesellschaftliche Gebilde, Einrichtungen und Verhaltensweisen wie beispielsweise Familienformen, Bildungseinrichtungen, Organisationen und darin zu besetzende Rollen werden immer unterschiedlicher und sind immer spezifischer auf die Erfüllung jeweils bestimmter Aufgabenbereiche hin zugeschnitten (funktionale Differenzierung, Spezialisierung und Arbeitsteiligkeit).
3. Die Verzahnung der immer unterschiedlicheren gesellschaftlichen Teilbereiche wird immer enger (Integration). Vor allem der Markt sowie der Staat bewirken immer mehr Abhängigkeiten wie zum Beispiel von Wirtschaftsunternehmen oder Berufen. Es vollzieht sich gesamt gesehen eine Entwicklung, die schon relativ früh Herbert Spencer (1820–1903), ein Klassiker der Soziologie, als eine Entwicklung von der „unverbundenen Gleichartigkeit“ hin zur „verbundenen Ungleichartigkeit“ kennzeichnete (1877, § 223).
4. Die Anpassungsfähigkeit von Gesellschaften und ihrer Mitglieder steigt unter anderem, weil das menschliche Denken und Handeln sowie die daran angeschlossenene gesellschaftliche Gestaltungsmöglichkeit immer mehr zweckrational und nach Nützlichkeitserwägungen und immer weniger nach traditionellen Vorgaben ausgerichtet sind.
5. Einerseits erlangen grundlegende Wertvorstellungen und Normen wie zum Beispiel im Hinblick auf die Gleichheit zwischen Mann und Frau oder hinsichtlich demokratischer Rahmenbedingungen eine zunehmend allgemeine Gültigkeit (Universalisierung). Andererseits werden die Freiräume für unterschiedliche Werte, Normen, Kulturen, Lebensstilen immer größer (Pluralisierung).
Diese allgemeinen Merkmale manifestieren sich auf der Marko-, der Mesosowie der Mikroebene. Auf der gesellschaftlichen Makroebene zeigt sich, dass im Zuge der Modernisierung sich immer mehr gesellschaftliche Subsysteme ausbilden. Dies sind relativ eigenständige und nach außen abgrenzbare Zueinanderordnungen gesellschaftlicher Gebilde und Einrichtungen, die zur Erfüllung bestimmter Aufgaben zusammenwirken. Nach Niklas Luhmann (1998) setzt dieser Prozess der Ausdifferenzierung zwar im Spätmittelalter an. Nicht desto trotz lässt sich erst um 1800 eine zunehmende und in den Gesellschaftsstrukturen nachweisbare Ausbildung von Subsystemen wie etwa der Kunst beobachten. Zudem ist nach Luhmann die Moderne vorwiegend durch ein funktionales Differenzierungsprinzip, also eine gesellschaftliche Struktur, die sich durch unterschiedliche Funktionssysteme beschreiben lässt, gekennzeichnet, die andere gesellschaftliche Differenzierungsprinzipen wie etwa eine segmentäre oder stratifikatorische Differenzierung allmählich ablöst. Unter anderem differenzieren sich folgende Subsysteme aus:
1. Bildung und Ausbildung werden aus Familie und Arbeit zunehmend ausgegliedert. Ein Bildungssystem entsteht. Die Menschen lernen immer mehr in darauf spezialisierten formalen Bildungseinrichtungen.
2. Öffentliche Entscheidungsprozesse sind immer weniger Entscheidungen einzelner Herrscher oder Familien. Vielmehr entsteht sukzessive ein politisches System von Parteien, Regierungen, Verfahrensregeln, das die politischen Entscheidungen und Machtbildungen gesamtgesellschaftlich organisiert.
3. Die Absicherung im Alter und bei Invalidität, Gesundheitspflege und Armenfürsorge sind immer weniger eine Aufgabe der Familie, sondern vollziehen sich in einem eigenen System sozialer Sicherheiten.
4. Produktion und Konsumption verselbstständigen sich unter anderem von Familienund Gemeindeleben, sodass allmählich sich ein Wirtschaftssystem ausbildet.
5. Das Recht wird immer mehr von politischen Entscheidungen und gesellschaftlichen Gruppierungen abgekoppelt. Es entsteht ein allgemeines Rechtssystem mit universalistischen Rechtsnormen mit einer von politischen Entscheidungsträgern unabhängigen Gerichtsbarkeit.
Auf der Mesoebene zeigt sich, dass Gesellschaften im Zuge der Modernisierung unter anderem folgenden Institiutionen und Organisationen herausbilden und sich weitere Strukturveränderungen beobachten lassen:
1. Hoch entwickelte Technologien
2. Marktwirtschaft
3. Massenwohlstand
4. Massenkonsum
5. Durch Leistung legitimierte soziale Schichtung
6. Ein offenes Schichtungssystem, in dem Mobilitätsprozesse, also gesellschaftliche Aufund Abstiege möglich sind
7. Bürokratie
8. Nationalstaaten
9. Konkurrenzdemokratie mit einem Repräsentativsystem
10. Universalistische Rechtsnormen und generell gültige Werte und Normen, deren Gültigkeit nicht von zugeschriebenen Merkmalen wie Familienzugehörigkeit, Geschlecht, Hautfarbe abhängen
11. Einrichtungen zur sozialen Absicherung der Verarmungs-, Altersund Gesundheitsrisiken der Gesellschaftsmitglieder
12. Schulen und weitere Bildungseinrichtungen für alle Gesellschaftsmitgliedder
Neben der Makround der Mesoebene lassen sich schließlich auch auf der Mikroebene verschiedene Veränderungen beobachten. So zeichnen sich in modernen Gesellschaften die persönlich erfahrbaren Beziehungen zwischen Menschen sowie ihr Denken und Handeln unter anderem durch nachstehende Kriterien aus:
1. Geistige, regionale und soziale Mobilität
2. Leistungsmotivation
3. Individuelles Autonomiebedürfnis
4. Individuelle Konkurrenz und Aufstiegsstreben
5. Spezialisierung, Arbeitsteilung
6. Mehr und unterschiedlichere soziale Kontakte
7. Kontakte eher zwischen spezifischen Rollen als zwischen Personen
8. Affektive Neutralität und eine Kontrolle der Triebstrukturen und spontanen Leidenschaften
9. Zukunftsorientierung, Planung
10. Streben nach Effektivität, Rationalisierung des Alltags, ein effizienter Umgang mit Zeit und eine allgemeine Beschleunigung des Arbeitsund Privatlebens
11. Vertrauen in die Steuerbarkeit der Umwelt, Planungssicherheit
Modernisierungstheorien lassen sich jedoch nicht nur nach wichtigen inhaltlichen Aussagen zusammenfassen. Gemeinsam sind ihnen auch bestimmte formale Unterstellungen und theoretische Annahmen. Ähnlich wie einige inhaltliche Aussagen werden auch einige der theoretischen Annahmen in der Soziologie kontrovers diskutiert, die schließlich zu verschiedenen theoretischen Umbauten in den neueren Modernisierungstheorien und anderen daran anschließenden Entwicklungstheorien geführt haben (zusammenfassend etwa Knöbl 2001, 2007; Többe Gonçalves 2005). Zumeist unterstellen Modernisierungstheorien folgende Annahmen:
1. Modernisierung stellt einen evolutionären Prozess dar. Die Gesellschaft verändert sich letztlich radikal.
2. Modernisierung ist ein komplexer Vorgang, der alle wesentlichen Bereiche der Gesellschaft verändert.
3. Modernisierung stellt einen zusammenhängenden Komplex von Einzelprozessen dar, die sich wechselseitig unterstützen. Modernisierungsprozesse, die sich nur auf Teile der Gesellschaft beschränken und ein Gegenüber von Fortschritt und Stagnation erzeugen, sind eine Quelle von gesellschaftlichen Konflikten und Spannungen.
4. Modernisierungsprozesse sind unumkehrbar. Es gibt keine gravierenden Rückschritte. Auch langfristige Stagnationsprozesse und Zyklen treten nicht auf.
5. Modernisierung ist im Wesentlichen eine gesellschaftsinterne Leistung. Externe Faktoren wie etwa eine internationale Konkurrenz sind nur von nachrangiger Bedeutung.
6. Modernisierung ist ein globaler Prozess, der sich zwangsläufig auf alle Gesellschaften ausdehnt. Da Modernisierung mit einer höheren Anpassung an die Umwelt und einer besseren Leistungsfähigkeit einhergeht, kann sich im Prinzip keine Gesellschaft der Modernisierung entziehen. Diejenigen Gesellschaften, die sich langfristig nicht modernisieren, werden aller Voraussicht nach in Zukunft nicht weiter bestehen und untergehen.
7. Moderne Gesellschaften behindern nicht die Entwicklung weniger moderner Gesellschaften. Vielmehr wirken sich moderne Gesellschaften positiv auf die Entwicklung weniger moderner Gesellschaften aus und fördern deren Entwicklung. Die Modernisierungstheorie ist somit nicht nur eine Diffusionstheorie, sondern auch eine Aufholtheorie (Zapf 1996, S. 64).
8. Modernisierungsprozesse münden in ein gemeinsames Ziel, einer einheitlich aufgebauten modernen Gesellschaft.
9. Modernisierung meint Fortschritt und ist somit ein wünschenswerter Prozess. Die Modernisierung verändert Gesellhschaft hin zum Besseren.
10. Modernisierungstheorien sind zugleich faktisch und normativ ausgerichtet. Sie beschreiben und erklären zum einen empirisch beobachtbare Vorgänge. Zum anderen enthalten sie aber auch Sollvorstellungen über wünschenswerte Vorgänge etwa hinsichtlich einer Marktwirtschaft oder einer Demokratisierung.