Theorien der Postmoderne

In der Architektur, der Literatur, der Geschichtswissenschaft und der Philosophie werden seit einiger Zeit Erscheinungen beobachtet, die den klassischen Vorstellungen der Modernisierung nicht entsprechen. In Anlehnung an eine Begriffsbildung aus der Literaturwissenschaft aus den 1950er Jahren (siehe hierfür sowie für Hinweise auf frühere Begriffsbildungen Welsch 2002, S. 12 ff.) werden diese Erscheinungen nicht selten als Phänomene der Postmoderne bezeichnet.

• In der Architektur dominierten jahrzehntelang funktionsorientierte Bauweisen. Berühmte Architekten wie Frank Llyod Wright, Charles-Édouard Jeannerert, der unter dem Namen Le Corbusier in die Architekturgeschichte eingegangen ist, Ludwig Mies van der Rohe sowie bedeutende Architekturschulen wie etwa das Bauhaus bauten nach dem Bauprinzip „form follows function“. Vor allem in den 1950er und 1960er Jahren entstanden in der Folge zunehmend nüchterne und zweckorientierte Bauten ohne Ornamente und ausschmückendes Beiwerk. In den letzten Jahren finden sich aber vermehrt Bauten, die nicht einer funktionsorientierten Bauweise entsprechen. Sie enthalten einen verspielten, in mancher Hinsicht aufsehenserregenden Mix von Formen, Materialien, Farben und Stilrichtungen aus ganz unterschiedlichen Architekturepochen. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist das von dem Architekten James Sterling errichtete Gebäude, das sich am Reichpietschufer 50 in Berlin befindet und in dem das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), eine der größten Sozialforschungseinrichtungen in Deutschland, untergebracht ist.

• In der Literatur lassen sich in der letzten Zeit statt Geradlinigkeit und anstelle der klar erkennbaren Gattungen und Genres wie historischer Roman und Kriminalroman oder Komödie und Tragödie häufig eine Vermischung geläufiger Kategorien, ein Nebenund Übereinander von heterogenen Handlungs-, Stilund Bedeutungsebenen sowie eine Mehrfachcodierung von Begriffen und Inhalten beobachten. Das Musterbeispiel eines postmodernen Romans ist wohl der 1980 veröffentlichte Roman Il nome della rosa (Der Name der Rose) von Umberto Eco.

• In den Geschichtswissenschaften wurde schon vor Jahrzehnten das „Ende der Geschichte“ (Gehlen 1975) diskutiert aufgrund von postulierten Alternativlosigkeiten und einer zunehmenden Vereinheitlichung etwa kultureller Standards und sozialer Lebensweisen. Vor allem in Folge des Zerfalls sozialistisch organisierter Staaten und der damit einhergehenden Vermutung hinsichtlich einem Ende der Konkurrenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus lassen sich Ende der 1980er Jahre wieder prominente Aktualisierungen der Diagnose vom einem „Ende der Geschichte“ und einem damit einhergehenden Stillstand gesellschaftlicher Entwicklungen beobachten (etwa Fukuyama 1989).

• Während seit dem 19. Jahrhundert vernunftorientierte und rationale Argumentationen, die sich vor allem an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und weniger an religiösen, mystischen Begründungen orientieren, zunehmend Allgemeingültigkeit erlangen, gewinnen ab den 1970er Jahren vermehrt Esoterik, Mythen, Religion und Mystik wieder an Bedeutung. So wird beispielsweise in der Soziologie nicht nur diskutiert, inwieweit Religionen zurückkehren und die Lebenswirklichkeiten der Menschen wieder zunehmend prägen. Auch wird darauf hingewiesen, dass Religionen stets eine grundlegende Bedeutung für die Alltagswirklichkeit und die Lebensentwürfe der Menschen haben (Blaschke 2000; Pollak 2009).

• Ähnlich verhält es sich mit der Arbeitsteilung und der Spezialisierung. Auch wenn sich jahrzehntelang eine Ausdifferenzierung sowie analytische und arbeitsteilige Methoden nachweisen lassen, sind in den letzten drei Jahrzehnten auch gegenläufige Tendenzen auszumachen. So zeigen sich beispielsweise ganzheitliche Denkund Vorgehensweisen in der Medizin, in der Verknüpfung von Lebensstilen und Politik, in der Automobilindustrie wie beispielsweise dem Konzept des Lean-Productions.

Diese beispielhaft aufgezeigten Erscheinungen lassen sich nur unzureichend mit den Grundzügen der Moderne vereinbaren. So widersprechen postmoderne Architekturen dem modernen Grundsatz der Zweck-Rationalität. Postmoderner Literatur und Thesen vom „Ende der Geschichte“ liegen zyklische oder statische, nicht aber moderne linerare Zeitbegriffe zugrunde. Esoterik läuft aufklärerischem Vernunftglauben zuwider. Und Ganzheitlichkeit wirkt absichtlich modernen analytischen Sichtweisen und funktionalen Differenzierungen entgegen.

Wenn somit zwar klar ist, inwiefern die genannten Ereignisse nicht modern sind, so ist aber aufzuzeigen, was postmoderne Entwicklungen auszeichnen. Bei allen Unterschieden der Ansätze im Detail lässt sich der Grundgedanke der Postmoderne im Begriff des „radikalen Pluralismus“ zusammenfassen. Gemeint ist damit, dass der Pluralismus der Postmoderne nicht wie der moderne Pluralismus aus einander ergänzenden, harmonischen, einem Ganzen angehörendenden Bestandteilen zusammengesetzt ist wie etwa die unterschiedlichen Bildungseinrichtungen des Bildungswesens oder die einzelnen Subsysteme einer Gesellschaft wie Politik oder Wirtschaft, sondern aus gänzlich unvergleichbaren, einander gleichberechtigten, aus völlig unterschiedlichen stammenden Zeiten und Sphären. Programmtisch zeigt sich dies etwa an den unterschiedlichen Bedeutungsebenen im Roman Der Name der Rose, an den Stilrichtungen des WZB-Gebäudes in Berlin oder den Ereignissen nach dem „Ende der Geschichte“. Dieser „radikale Pluralismus“ ist aber nur in Folge eines statischen oder postzyklischen Zeitverständnisses möglich. Das heißt: Richtungen, Geschwindigkeit und Phase zeitlicher Entwicklungen werden in der Postmoderne als unterschiedlich angesehen, sodass sich auch die Handlungen daran orientieren. Neues steht neben Altem und noch Älterem. Schneller Wandel lässt sich neben langsamen Wandel und Rückschritten beobachten. Und eine grundlegende „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, wie es Ernst Bloch (1996) eigentlich für die Kennzeichnung der Moderne formulierte, kennzeichnet den Zustand der Postmoderne. So spielt etwa der Roman Der Name der Rose sowohl im Mittelalter als auch in der Zeit der „Neuen sozialen Bewegungen“ und das WZBGebäude enthält typische Stilelemente wilhelminischer und moderner Fassaden mit jeweils unterschiedlichen Materialien wie behauenem Naturstein, Beton, Verputz, Metall oder Glas.

Auch weitere Grundzüge der Moderne entsprechen nicht der Postmoderne. Statt Fortschrittsoptimismus lassen sich pessimistische Weltdeutungen sowie Zweifel an der Zivilisation und den technischen Möglichkeiten beobachten. An die Stelle des modernisierungstheoretischen Ziels, die individuelle Autonomie, die verfügbaren Optionen und die aktive Gestaltung der Umwelt ständig weiter auszubauen, tritt die bewusste Beschränkung des menschlichen Gestaltungsbestrebens und die Beschränkung auf eine verantwortliche Gestaltung, wie es sich anschaulich etwa an ökologischen Bewegungen aufzeigen lässt. Im Unterschied zu Analyse und Zweck-Rationalität dominieren in der Postmoderne Ganzheitlichkeit und das Spiel mit den Möglichkeiten. Das klare Gegenüber von Richtig und Falsch wird in den Wissenschaften durch einen erkenntnistheoretischen Relativismus ersetzt, wie es etwa programmatisch in der Forderung eines „Anything goes“ des amerikanischen Wissenschaftstheoretikers Paul Feyerabend (1981) zum Ausdruck kommt. Das Subjekt, Drehund Angelpunkt der Modernisierung, wird zunehmend deklassiert und dezentriert und droht deswegen, wie Michel Foucault (1974, S. 462) einmal in einer Schlußzeile metaphorisch schreibt, zu „verschwinde[n] wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.“

Wieso entstehen postmoderne Strukturen? Warum kommt es also zu dieser Entwicklung postmoderner Erscheinungen? In der Regel wird darauf hingewiesen, dass die Menschen zuviele Erfahrungen der eigenen Machtlosigkeit und der NichtGestaltbarkeit ihrer Welt gemacht haben etwa in Folge von Kriegen, Umweltproblemen, zahlreicher nicht beabsichtigter Handlungsfolgen (Gumprecht 1991, S. 367 f.). Demnach sind den Menschen die großen Zielvorstellungen wie Mündigkeit, Zweckrationalität, Vernunft oder Autonomie abhanden gekommen, die unter anderem für die Modernisierung verantwortlich sind und Entwicklungen als Fortschritt deklariert haben. Die Welt hat sich eben, wie der französische Philosoph Jean-François Lyotard (1986, S. 13 f.) meint, von den „Meta-Narrationen“ eines universalen, einheitlichen und konsistenten Wissens sowie von den Zielsetzungen von Aufklärung und Marxismus verabschiedet.

Gelegentlich wird die „radikale Pluralisierung“ der postmodernen Phänomene positiv bewertet. Das zum Teil chaotische Nebeneinander wird als Chance oder als Spielfeld gedeutet, woraus schließlich Kreativität und Neues entstehen können. Häufig gilt die Postmoderne aber als Ausdruck von Resignation und einem eher ratlosen Suchen in Beständen. Zum Teil wird die „radikale Pluralisierung“ der Postmoderne verurteilt, zumal von Soziologen, die sich dem aus der Aufklärung entstandenen „Projekt der Moderne“ verpflichtet fühlen (Habermas 1981, 1985). Diese sehen die Postmoderne als rückwärtsgewandte Vermengung von Fortschrittlichem mit Reaktionärem. Zum Teil werden der Postmoderne und ihren intellektuellen Wegbereitern auch Konzeptlosigkeit und Wirrnis vorgeworfen.

Für den vorliegenden sozialstrukturellen Gesellschaftsvergleich ist daher zu fragen, ob sich die Postmoderne auf bestimmte kulturelle Produkte etwa der Architektur und Literatur sowie auf Teile des intellektuellen Diskurses beschränkt oder ob die Postmoderne sich in gesellschaftlichen Strukturen verfestigt hat. Wenn ja, dann ist zu fragen, ob auch die Sozialstruktur oder Teile hiervon als postmoderne gekennzeichnet werden können. Die Antwort auf diese Frage ist nicht leicht. Zum Teil wurde die große Vielfalt neuerer Lebensund Familienformen sowie neuerer Lebensstile ebenso als postmodern angesehen wie eine zu beobachtende Regionalisierung, Individualisierung und Globalisierung. Sie zeigen alle ein pluralistisches Nebeneinander von modernen, zu Zweck-Rationalität und funktionaler Differenzierung tendierenden Strukturen, ein Experimentieren mit Neuem jenseits der bisherigen Formen moderner Gesellschaften, aber auch ein Zurückgreifen auf überkommene Formen traditionaler Gesellschaften. In den folgenden Kapiteln wird jedoch deutlich werden, dass sich zwar die gewohnten Sozialstrukturen seit den 1970er Jahren in vielen Ländern Gesellschaften auffächern. Von einer postmodernen Sozialstruktur, die im Sinne eines „radikalen Pluralismus“ über die angeführten Grundgedanken und allgemeinen Merkmale moderner Gesellschaften hinausgeht, lässt sich aber allenfalls in engen Bereichen sprechen. Hierzu zählen unter Umständen bestimmte Lebensstile und Lebensformen. Es ist kein Zufall, dass jene schmalen Sektoren der Sozialstruktur, die möglicherweise postmodern gekennzeichnet werden können, dem Denken und Handeln eher intellektueller Bevölkerungsgruppen nahe stehen. Denn die Postmoderne ist, zumindest so wie sie bislang zu erkennen ist, in erster Linie eine im intellektuellen Diskurs aufzufindende Gegenund Korrekturbewegung gegen bestimmte, als negativ empfundene Formen der Modernisierung. Unter anderem haben Rüstungsund Technologierisiken, die die übergroße Beschleunigung und Effizienzsteigerung des Alltags und die Ohnmacht, dagegen anzugehen, vielfach zu Zweifeln an den großen Zielen der Moderne geführt. Vor allem in intellektuellen Gruppierungen und den von ihnen beeinflussten Lebensformen und -stilen, Kunstwerken und Gedankengebäuden haben sich postmoderne Gegenbewegungen ausgebildet. Neu sind aber solche Gegenbewegungen nicht. Die Romantik, die Jugendbewegung und manche andere waren vermutlich sogar folgenreicher. An der Modernisierung und am Leben vieler haben sie letzten Endes nur wenig geändert (Hradil 1990).

 
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