Theorien der Mortalität
Im Unterschied zu der Vielzahl von Theorien der Fertilität, die voranstehend grob in zwei Theoriegruppen zusammengefasst sind, zeigt die theoretische Aufarbeitung der Sterblichkeit weiterhin Defizite (Höpflinger 2012, S. 167). Trotz den erkennbaren Defiziten weisen Theorien der Sterblichkeit in der Regel drei Einflussfaktoren aus, die die Sterblichkeit und vor allem ungleichheitssowie geschlechtsspezifisch unterschiedliche Sterblichkeiten bestimmen: natürliche und soziale Faktoren sowie individuelle Verhaltensweisen (Hauser 1983; Luy 2002). Um den empirisch feststellbaren Rückgang der Sterblichkeit im Zeitverlauf zu erklären, werden oftmals mehrere Gründe angeführt, die sich wiederum auf die drei Einflussfaktoren beziehen lassen. Zumeist werden angeführt der wachsende Lebensstandard und eine reichhaltigere Ernährung, verbesserte hygienische Bedingungen, der medizinische Fortschritt, Umweltfaktoren sowie gesündere Verhaltensweisen. Alle diese Komponenten stehen in engem Zusammenhang mit Modernisierungsvorgängen. Diese Faktoren wirkten in Mitteleuropa aber nicht alle gleich stark. Der Rückgang der Kinderund Erwachsenensterblichkeit, der sich im 18. und 19. Jahrhundert vollzieht, ist zum Beispiel maßgeblich von der Steigerung des Lebensstandards und einer Verbesserung der Hygienebedingungen und erst in zweiter Linie vom medizinischen Fortschritt bestimmt (Andorka 2001, S. 246). Theorien der Sterblichkeit kommen ebenso wie Theorien der Fruchtbarkeit zu differenzierteren Aussagen als allgemeine Modernisierungstheorien. Letztlich stehen sie aber zu Modernisierungstheorien nur selten im Widerspruch, sondern verstärken sie eher (Hauser 1983; Höpflinger 2012; Michel 2000; Niephaus 2012).
Theorien der Migration
Während Theorien der Fertilität und Mortalität „natürliche Bevölkerungsprozesse“ erklären, klären Theorien der Migration unter anderem darüber auf, warum Menschen migrieren. Im Anschluss an die prominente Arbeit von Everett Spurgeon Lee (1966) berücksichtigen Theorien der Migration zumeist vier Erklärungsfaktoren:
1. Faktoren des Herkunftskontextes: Diese sogenannten Push-Faktoren fassen die Gründe zusammen, die Menschen motivieren, aus Ihrem bisherigen Wohnkontext wegzuziehen. Dies können etwa hohe Arbeitslosigkeit, Krieg, hohe Wohnkosten, niedriges Lohnniveau, schlechte soziokulturelle Infrastruktur sein.
2. Faktoren des Zielkontextes: Diese in der Regel als Pull-Faktoren bezeichnenden Gründe beziehen sich auf die Zielregion und ihre Attraktivität dort hinzuziehen wie beispielsweise gute Erwerbschancen, gutes Schulumfeld, krisensicheres Gebiet, familienfreundliches Wohnumfeld.
3. Intervenierende Faktoren zwischen der Herkunftsund der Zielregion bezeichnen vor allem Faktoren, die eine Migration zusätzlich behindern können wie etwa geografische Distanz, Sprachbarrieren, kulturelle Differenzen oder politische Schließungen.
4. Persönliche Faktoren wie individuelle Ausstattung mit Ressourcen (etwa Geld, Bildung, Netzwerke) oder persönliche Aspiration.
Mikroökonomische Theorien der Migration (etwa Kalter 1997; vgl. Höpflinger 2012, S. 154 ff.; Niephaus 2012, S. 113 ff.) erklären darüber hinaus, die Entscheidung zur Migration mit den damit verbundenen Kosten und Nutzen. Migration ist demnach als eine Art Investition zu verstehen, in der die monetären und nichtmonetären Kosten mit den zu erwartenden Nutzen wie etwa bessere Erwerbschancen, bessere Lebensbedingungen verrechnet werden (Sjaastad 1962). Personen entscheiden sich vor allem dann zur Migration, wenn der zu erwartende Nutzen die mit der Migration verbundenen Kosten bei Weitem übersteigt. Makroökonomische Theorien der Migration (vgl. Höpflinger 2012, S. 152 f.; Niephaus 2012, S. 111 ff.) erklären Migration vereinfachend als Folge von regionalen und internationalen Unterschieden der Arbeitsmarktchancen. Die konkreten Handlungspläne und –entscheidungen bleiben unberücksichtigt. Nach dem Modell migrieren Arbeitskräfte aus Gebieten mit einer hohen Arbeitslosigkeit und einem geringen Lohnniveau in Regionen mit niedriger Arbeitslosigkeit und hohem Lohnniveau. In der Folge sinkt in dem Herkunftsgebiet die Arbeitslosigkeit und die Löhne steigen an. In der Zielregion hingegen entsteht ein Überschuss an Arbeitskräften, sodass die Arbeitslosigkeit ansteigt und die Löhne sinken. Migration ist demnach als ein ausgleichender Mechanismus zu verstehen.
Im Unterschied zu den eher ökonomisch ausgerichteten Theorien betonen soziologische Theorien der Migration vermehrt die nichtökonomischen Einflussfaktoren wie etwa Alter, soziale Netzwerke, Lebenslauf (vgl. Höpflinger 2012, S. 151 ff.; Niephaus 2012, S. 118 ff.). So gehen soziologische Theorien davon aus, dass Migration ein Prozess ist, der vor allem jüngere Menschen betrifft. Auch erklären vorhandene soziale Netzwerke in den Zielregionen, warum Menschen sich konkret für diese und nicht etwa andere Regionen entschieden haben.
Zusammenfassend erklären Theorien der Migration wie auch Theorien der Fertilität und Mortalität die verschiedenen Bevölkerungsprozesse, die die Zahl und Zusammensetzung einer Bevölkerung bestimmen, detaillierter als die eher allgemeineren Aussagen der Modernisierungstheorie. Unberücksichtigt bleibt aber zumeist die Frage, warum von Menschen, die sich in der gleichen oder einer ähnlichen sozialen Lage befinden, einige sich für die Migration entscheiden, einige aber auch nicht.