Empirische Befunde
Die folgenden empirischen Daten überprüfen, inwieweit die dargestellten Entwicklungsmodelle, organisatorischen Typologien und Theorien zutreffen.
Die historische Entwicklung von Sicherungssystemen in Europa
Die Anfänge einer systematischen und staatlichen sozialen Sicherung finden sich in Westeuropa im ausgehenden 19. Jahrhundert. Dies heißt aber nicht, dass in den vorherigen Jahrhunderten keine soziale Sicherung vorhanden war. Vor der Ausbildung dieser systematischen sozialen Sicherungssysteme gab es neben verschiedenen familiären Absicherungen vor allem wohnortund berufsspezifische Sicherungssysteme. Dazu zählten etwa die städtische Armenfürsorge und Gesundheitsversorgung, die Krankheit, Invalidität und Sterbefälle rudimentär absichernden Unterstützungskassen im zunftgeprägten Handwerk sowie im Bergund Hüttenbau oder die Vereinbarungen im Piratenkodex von Henry Morgan, die bei Invalidität für ein materielles Auskommen sorgten (Esquemeling 2007; Henning 1988, S. 86 ff.; Ritter 2010, S. 30 ff.; Sachße und Tennstedt 1986). Im Unterschied zu diesen lokal begrenzten und berufsgruppenbezogenen Absicherungen entstand im 19. Jahrhundert erstmals eine umfassende staatliche Absicherung gegen bestimmte Risiken. Im Gegensatz zu vielen anderen wirtschaftlichen und politischen Modernisierungsbewegungen war Deutschland in dieser Hinsicht international Vorreiter. Die deutsche Krankenversicherung wurde 1883, die Unfallversicherung 1884, die Rentenversicherung 1889 und die Arbeitslosenversicherung 1927 eingerichtet. Freilich waren die Leistungen zunächst sehr bescheiden und der Kreis der Anspruchsberechtigten war eingeschränkt.
Auch in Dänemark, Belgien, Österreich, Großbritannien und Frankreich wurden relativ frühzeitig Sicherungseinrichtungen geschaffen. Andere Länder wie die Schweiz oder die USA führten diese Sicherungseinrichtungen erst viel später und auch bei einem wesentlich höheren allgemeinen Modernisierungsgrad ein. Weder ein bestimmter Stand der wirtschaftlichen oder der politischen Entwicklung, noch funktionale Erfordernisse oder Funktionslücken der Modernisierung führten also zu einer systematischen Absicherung der Standardrisiken. Dies widerspricht den funktionalistischen Erklärungen über die Entstehung von Sicherungssystemen. Auch eine bestimmte Stärke der Demokratisierung oder der jeweiligen Arbeiterbewegung zogen nicht zwangsläufig soziale Sicherungsmaßnahmen nach sich, wie die Konflikttheorien behaupten (Schmidt 1998, S. 180 f.). Am ehesten lassen sich die meisten Sicherungssysteme noch mittels institutioneller Theorien erklären. Meist waren es Machtbestrebungen bedrohter autoritärer Regime, die zum Ausbau sozialer Sicherungen führten (Alber 1982, S. 133, 149 f.). Dies erklärt auch die großen Unterschiede der organisatorischen Ausgestaltung (vgl. Kap. 8.2.2) (Tab. 8.1).
Tab. 8.1 Einführung der Sozialversicherungen. (Quelle: Bundeszentrale für politische Bildung 2014e; eigene Darstellung)
Unfallversicherung |
Krankenversicherung |
Rentenversicherung |
Arbeitslosenversicherung |
|
Deutschland |
1884 |
1883 |
1889 |
1927 |
Dänemark |
1898 |
1892 |
1891 |
1907 |
Belgien |
1903 |
1894 |
1900 |
1920 |
Österreich |
1887 |
1888 |
1907 |
1920 |
Großbritannien |
1897 |
1911 |
1908 |
1911 |
Frankreich |
1898 |
1928 |
1910 |
1905 |
Schweden |
1901 |
1891 |
1913 |
1934 |
Niederlande |
1901 |
1931 |
1919 |
1916 |
Italien |
1898 |
1943 |
1919 |
1919 |
Japan |
1911 |
1927 |
1941 |
1947 |
USA |
1930 |
1965 |
1935 |
1935 |
Schweiz |
1918 |
1911 |
1946 |
1982 |
Nach ihrer Gründung wurden die Sicherungseinrichtungen in Deutschland zunächst langsam, dann aber nach dem Zweiten Weltkrieg sehr viel schneller ausgebaut. Nur in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft und der Besatzungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg stagnierte der Ausbau (Ritter 2010; Schmidt 1998). Es waren an diesem Aufbau vor allem die daran interessierten Bürokratien, die anwachsende Zahl der Erwerbstätigen und zwar sowohl als Zahler als auch als Leistungsempfänger, die Alterung der Gesellschaft, die die Nachfrage erhöhte, und nicht zuletzt das Wirtschaftswachstum Deutschlands beteiligt. Je reicher die Länder, desto höher fallen im Allgemeinen die auf jeden Bürger entfallenden Sozialleistungen aus sowie die Anteile an den jeweiligen Bruttoinlandsprodukten, die für Sozialleistungen ausgegeben werden.