Was ist also Antisemitismus?

Unter "Antisemitismus" werden vielfältige Formen der Judenfeindschaft verstanden, die sich in unbegründeten, spontanen Ressentiments, unbegründeten und der Sache nach falschen Vorurteilen sowie in individuellen, gruppenbezogenen oder auch institutionellen Verhaltensweisen über verbale Hetze und politische Diskriminierung bis zum Massenmord äußern können und auch geäußert haben. Der mehr als zweitausend Jahre alte, in der Geschichte Europas immer wieder aufflammende, sich in unterschiedlicher Intensität äußernde Judenhass wechselte seine Form mit der Gesellschaft, in der er auftritt – auch mit ihrem Alltag. Im europäischen Bereich spielt dabei die Unterscheidung zwischen einem kirchlich gebundenen Antijudaismus und einem modernen Rassenantisemitismus die entscheidende Rolle. So sehr der moderne Rassenantisemitismus den kirchlichen Antijudaismus voraussetzt, so wenig sind doch beide miteinander identisch (vgl. Zumbini 2003).

Im Antijudaismus gelten die Juden als Gottesmörder, Kinder des Satans und Heilsverhinderer – Eigenschaften, die sie durch eine Bekehrung zum Glauben der Kirche aufgeben können. Im modernen Rassenantisemitismus hingegen, der sich seit dem frühen 19. Jahrhundert auf den Spuren des Antijudaismus entwickelte, spielt das religöse Bewusstsein überhaupt keine Rolle mehr: Blut und Herkunft determinieren gemäß dieser Weltanschauung das Handeln des einzelnen Juden, der einzelnen Jüdin. Ein Schlagwort der frühen antisemitischen Bewegung belegt das in Reimform: "Was er glaubt ist einerlei / im Blute liegt die Schweinerei!" Dieser rassistische Judenhass war eine Folge der stets unvollständig gebliebenen bürgerlichen Emanzipation der Juden im westlichen und mittleren Europa des neunzehnten Jahrhunderts.

Die neuzeitliche Debatte um das Verhältnis von Glaube und die mit der Reformation ins Bewusstsein tretende Möglichkeit, vor dem Hintergrund derselben heiligen Schriften unterschiedlichen, einander widerstreitenden Bekenntnissen angehören zu können, führte zum Auseinandertreten von zur "Konfession" gewordenem Glauben und ethnischer Zugehörigkeit – der "natio". Als mit dem Absolutismus die

"natio" zum im modernen Territorialstaat verfassten Volk, zur "Nation" wurde, koppelten sich ethnische Zugehörigkeit und religiöses Bekenntnis endgültig voneinander ab. Glaube wandelte sich im modernen Nationalstaat vom öffentlich verbindlichen Brauch, dem Menschen fraglos, wenn auch nicht konsequent angehörten, zum individuellen, frei wählbaren Bekenntnis, zur "Konfession".

Die Juden Westeuropas folgten diesem mit der französischen Revolution erstmals auch politisch beglaubigten Trend dort, wo sie sich den liberalen Umformungen des jüdischen Glaubens nicht anschließen mochten. Die konstitutionellen Monarchien oder Demokratien Westeuropas, die – wenngleich über Umwege und immer wieder von Rückschritten bedroht – allmählich die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Juden durchsetzten, erklärten sie damit formell zu einer reinen Glaubensgemeinschaft im jeweiligen Nationalstaat, was zwar von den meisten Juden dankbar und beinahe übereifrig angenommen wurde, jedoch bald vom modernen Antisemitismus folgenreich immer wieder angegriffen wurde.

In Ostund Mitteleuropa hingegen, vor allem im Herrschaftsbereich des zaristischen Russland, aber auch in den Donaufürstentümern Rumäniens, blieb das mittelalterliche Konzept einer weitgehenden Übereinstimmung von Ethnie und Religion weitgehend erhalten. Indem sich das Zarentum des späten 19. Jahrhunderts zur Abwehr revolutionärer und auch reformistischer Bestrebungen einer bewusst eingesetzten antisemitischen Propaganda bediente und darüber hinaus den jüdischen Untertanen des Zaren eine Fülle mal strenger, mal lockerer gehandhabter beruflicher Zugangsund geographischer Mobilitätssperren auferlegte, war die Existenz der Juden im Zarenreich anders als in Westeuropa vor allem ethnisch grundiert. Das konfessionelle, dem jeweiligen Nationalstaat verbundene Selbstverständnis der Juden Westeuropas hier sowie die kollektiv ethnische Identität der Juden des Zarenreiches dort, die sich nicht zuletzt in der endlich bewusst beibehaltenen jiddischen Sprache äußerte, hinderte den modernen Antisemitismus jedoch nicht daran, die Juden immer wieder ihrem traditionalen Selbstverständnis nach als Feind in den Blick zu nehmen. Dabei überschnitten sich traditioneller christlicher Antijudaismus und eine unwissenschaftlich weltanschauliche Übernahme aufklärerischer Perspektiven auf die Menschheit als biologischer Gattung, die sich weniger auf Darwin als auf den (Sozial)darwinismus bezog, nach dem die Menschheit in einander widerstreitende, im Kampf ums Dasein miteinander konkurrierende Rassen zerfällt. In dieser Ideologie wurden und werden die Juden als jene Rasse identifiziert, deren Existenzweise und Glaubensüberzeugungen Leben und Zukunft der anderen Rassen in besonderer Weise bedrohten und daher schließlich – im deutschen Nationalsozialismus – der systematischen Ausrottung preisgegeben wurden (vgl. Mosse 1993). Dabei bediente sich der moderne Antisemitismus – ohne auf besondere Trennschärfe bedacht zu sein – der "Argumente" des traditionellen Antijudaismus mit seinem Vorwurf, die Juden seien Gottesmörder, Heilsverhinderer und Kinder des Satans. Dieser Antisemitismus entzündete sich am sozialen Aufstieg von Juden und schrieb ihnen die mit Kapitalisierung, Urbanisierung, Industrialisierung und Pauperisierung nachteiligen Folgen kapitalistischer Entwicklung zu.

Bei alledem folgte das antisemitische Weltbild in Ost und West einem paranoiden Muster: Es ist – angesichts der objektiven Komplexität der Verhältnisse – von der Suche nach geheimen Drahtziehern im Hintergrund besessen; das Aufdecken von einer vermeintlich konformistischen Mehrheitsmeinung verdeckt gehaltenen Ursachen ist seine Leidenschaft. Zudem neigt der Antisemitismus immer dazu, Einfluss, Macht und Anzahl von Juden systematisch zu überschätzen. Endlich schreibt der Antisemitismus den Juden in projektiver Wunscherfüllung ein Übermaß an Reichtum, sexueller Potenz, intellektueller Zersetzungskraft und internem Zusammenhalt zu (vgl. Benz 2004).

Wechselt man die Perspektive und löst sich vom starren Blick auf die Umfragen in westlichen Ländern, dann zeigt sich, dass weltweit durchaus antisemitische Massenbewegungen und Politiker wie zuletzt im Europa der Zwischenkriegszeit existieren. Der israelische Historiker Yehuda Bauer hat in diesem Zusammenhang den radikalen Islamismus als dritte große totalitäre Bewegung neben den europäischen Faschismen und dem Stalinismus bezeichnet. Die ganz und gar moderne, nicht islamische, sondern eben islamistische Weltanschauung sieht im Koran ein Programm, das nicht nur Seligkeit im Jenseits, sondern auch eine gerechte Herrschaftsordnung, die den Kapitalismus in seine Schranken weist, mit absoluter Autorität gebietet. Diese Gedankenfigur unterscheidet sich vom darwinistischen Geschichtsglauben der europäischen Faschisten und dem Geschichtsdeterminismus der Stalinisten nur durch seine Inhalte. Der Form nach, im Glauben also, durch ein überhistorisches, ehern geltendes Gesetz, einen demokratischer Entscheidungsfindung entzogenen Auftrag erhalten zu haben, der gegebenenfalls mit terroristischen Mitteln durchzusetzen ist, gleichen sie sich wie ein Ei dem anderen.

Die faktische Situation in Deutschland hat daher vor allem auf zwei Formen des Antisemitismus pädagogisch zu reagieren:

Erstens auf eine geschichtsklitternde Verharmlosung oder gar Verleugnung der nationalsozialistischen Verbrechen sowie eine Form der sog. "Israelkritik", die Motive eines politisch in Grenzen noch akzeptablen Antizionismus zu einer antisemitischen Welterklärungsund Erlösungsstrategie umbildet: etwa derart, dass wenn Israel von der Landkarte verschwände oder den Palästinensern Gerechtigkeit widerführe, der Frieden im Nahen Osten gesichert und damit auch die Lage muslimischer Immigranten im Westen deutlich verbessert werde (vgl. Faber 2006). Die besondere Prägnanz und Brisanz der gegenwärtigen Situation dürfte darin bestehen, dass sich die weltanschaulichen Vorurteile deutschethnischer Nationalisten und islamistisch gesonnener Immigrantenjugendlicher (vgl. Georgi 2003) bei aller sonstigen Feindschaft in ihrer antisemitischen Ausrichtung überschneiden. Daher ist angesichts der jüngsten Entwicklungen eines auch auf deutschen Straßen während des Gazakrieges 2014 ausbrechenden lauten Judenhasses eines Teils migrantischer Jugendlicher noch einmal eigens auf das Phänomen eines sich fälschlich auf den Islam berufenden Judenhasses – zumal unter Gruppen junger, männlicher Migranten – einzugehen.

 
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