Expertenmodelle der Sozialen Arbeit im Spiegel demokratischer Ansprüche

Damit stellt sich jedoch die Frage danach, wie die Fachkräfte der Sozialen Arbeit ihr Expertenverständnis ausgestalten. Diese Frage, die entlang der professionellen Beziehung zwischen Sozialarbeitenden und Klienten/Klientinnen kontrovers diskutiert wird (vgl. Kunstreich et al. 2003), erhält unseres Erachtens im Kontext stadtplanerischer Prozesse noch eine zusätzliche Dimension. Während es auf der Ebene der Einzelberatung normativ um die Frage von Selbstund Fremdbestimmung und dem der Beratung unterlegten Subjektverständnis geht, muss im Kontext der Stadtplanung zusätzlich nach den Selbstbestimmungsrechten von Bürgen/Bürgerinnen im Verhältnis zur Definitionsmacht von Expertensystemen gefragt werden. Bezogen auf das fiktive Beispiel müsste die Soziale Arbeit sich folgende Fragen stellen:

Was bedeutet es eigentlich für Bürger/Bürgerinnen, wenn in Stadtplanungsprozessen faktisch verschiedene Expertensysteme über die Infrastruktur des guten Zusammenlebens entscheiden, auch wenn die gesetzlich verankerten Planungsauflageund Bewilligungsverfahren formal Mitsprache gewähren? Entlasten die Expertensysteme die Bürger/Bürgerinnen von zu komplexen Entscheidungen oder handelt es sich hier um Entmächtigung? Könnte es sein, dass sich die Soziale Arbeit gerade gegenüber anderen Expertensystemen als dasjenige Expertensystem versteht, das stellvertretend die eigentlichen Interessen von Bürgern/Bürgerinnen einbringen kann und damit, aufgrund realer oder vermeintlicher besonderer Kompetenzen, einen legitimeren Vertretungsanspruch geltend machen kann?

Bejaht man dieses professionelle Selbstverständnis, dann besteht die nächste Herausforderung darin, sich über die eigenen Durchsetzungschancen gegenüber einerseits anderen Expertensystemen und andererseits gegenüber handfesten ökonomischen Interessen Rechenschaft abzulegen. Bevor sich im fiktiven Beispiel der Sozialdienst auf die Mitarbeit in den Planungsprozessen einlässt, müsste geklärt werden, wie die Priorisierung der unterschiedlichen Interessen (finanzielle Rendite, Umweltverträglichkeit, Kriterien des guten Zusammenlebens) vorgenommen wird bzw. welche Planungsprioritäten durch die gesetzlich vorgegebenen Verfahren festgeschrieben sind – und wie die Macht zur Durchsetzung der unterschiedlichen Interessen faktisch verteilt ist. Bezogen auf die Quartiersplanung gilt es, im Vorfeld realistisch einzuschätzen, ob das in Befragungen erhobene Bewohner-/Bewohnerinneninteresse gegenüber dem Interesse des Hauptinvestors überhaupt ein Gewicht hat. Geschieht diese Abwägung nicht, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Einbezug der Expertise der Sozialen Arbeit in Stadtplanungsprozesse in erster Linie der politischen Legitimation dient.

Eng damit verknüpft ist eine weitere Frage, die unmittelbar auf den Kern des professionellen Selbstverständnisses zielt: Welche Art von Expertise kann und soll die Soziale Arbeit im Stadtplanungsund Gestaltungsprozess zur Verfügung stellen?

Die Forderung steht im Raum, dass Soziale Arbeit an „Planungsprozesse[n], die sie als zentrale Regelmechanismen von Stadtentwicklung erkennt“ (Drilling/ Oehler 2011: 7), zu beteiligen ist, um aus der Rolle der Krisenbearbeiterin, die die sozialen Konsequenzen städtischer Transformationsprozesse abzufedern hat, herauszukommen. Eingefordert wird hier der Wechsel von einer problembearbeitenden zu einer präventiven Interventionsstrategie. Folgt man Stephan Lessenichs Analyse des Sozialstaats (Lessenich 2008), so würde sich die Soziale Arbeit mit diesem Perspektivenwechsel an der Etablierung einer neuen sozialstaatlichen Regierungsform beteiligen, gerade weil sie mit ihrer Forderung nach Beteiligung an städtischen Planungsprozessen einen politisch-administrativen Zugang zum Sozialen unterstützt. Dieser Versuch zeichnet sich nach Lessenich aus durch eine „neue Philosophie des Sozialen, eine Politik der Prävention, die einer durch und durch sozialen Teleologie (…) gehorcht“ (Lessenich 2008: 121) und in erster Linie dazu dient, die gesellschaftlichen Interessengegensätze so auszubalancieren, dass die Gegensätze selbst nicht zum gesellschaftlichen Thema werden. Eine solche Verdeckungsstrategie wird zum Beispiel in der Sprache der städtischen Verwaltung sichtbar, die von normalen Nutzungskonflikten in einer 24-Stunden-Gesellschaft spricht und die gern die Soziale Arbeit mit ihren moderierenden Kompetenzen hinzuzieht, um diese Nutzungskonflikte zu neutralisieren. Der Begriff des Nutzungskonflikts verbirgt die in unserer Gesellschaftsstruktur verankerten ungleichen Durchsetzungschancen gegensätzlicher Interessen und verhindert dadurch die Debatte über herrschaftsbedingte ungleiche Chancen.

Dem hier skizzierten professionellen Selbstverständnis Sozialer Arbeit ist folgende Vorstellung von Expertise immanent: nämlich einer Bewohnerschaft, einer Stadt, einer Gesellschaft Modelle des guten Zusammenlebens in materialisierter Form sozusagen als Gelegenheitsstruktur anbieten zu können. Diese Vorstellung teilen diese Sozialarbeitenden dann mit Raumplanern, Architektinnen und anderen Expertensystemen. Allerdings bleibt die Frage offen, über welches fundierte Wissen die Soziale Arbeit verfügt, dass sie Aussagen über wichtige Eckdaten eines „guten Zusammenlebens“ machen kann. Wollen Sozialarbeitende diese Expertenrolle bewusst übernehmen, dann müssten sie in der Lage sein, in jedem einzelnen Projekt ihre planungsleitenden Kriterien des guten Zusammenlebens zu benennen. Eine mögliche Gegenposition zu dem hier skizzierten Expertenverständnis ist die Rückbesinnung auf den Gegenstand Sozialer Arbeit im Verständnis von Hans Thiersch (1992). Im lebensweltlichen Ansatz geht es darum, Menschen im Bemühen um ein gelingendes Alltagsleben zu unterstützen. Ausgangspunkt sind die vielfältigen und oft widersprüchlichen Interessen Einzelner und Gruppen. Vor dem Hintergrund eines solchen professionellen Selbstverständnisses wären Sozialarbeitende in dem fiktiven Praxisbeispiel gefordert, gemeinsam mit ihrer Klientel die Potenziale gelingender Alltagsbewältigung im problematisierten Alltag aufzuspüren und sie zu befähigen, ihr Anliegen auf der Ebene städtischer Planungsund Gestaltungsprozesse, also in der Raumherstellung, einzubringen. Die Sozialarbeitenden wären nach Kunstreich (1999) Experten und Expertinnen dafür, Einzelne und Gruppen in die Lage zu versetzen, individuelle bzw. kollektive Lebenslagen proaktiv zu gestalten, sowie für die Identifizierung und das Öffentlichmachen von strukturellen Einschränkungen der ge-sellschaftlichen Teilhabe. Als identifizierte Themen müssten diese in demokratisch organisierten Aushandlungsprozessen bearbeitet werden. Hier könnten die Fachverbände der Sozialen Arbeit als Akteure der Zivilgesellschaft eine sehr viel aktivere Rolle einnehmen als sie dies aktuell tun.

Der Unterschied zwischen den beiden holzschnittartig skizzierten Expertenmodellen (vgl. Wigger 2007: 128ff.) lässt sich verkürzt so beschreiben: In der zuerst skizzierten Variante entscheiden Experten vorsorglich für andere, in der zweiten Variante unterstützen Experten Betroffene, wenn diese Hilfe selbst einfordern.

 
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