Normative Position: Soziale Arbeit als Gerechtigkeitsdisziplin
Kritische Mitwirkung und distanzierte Begleitung in einem Planungsprozess muss mit der Kenntnis der eigenen disziplinären Handlungsformen und handlungsleitenden Normen einhergehen. Diese werden über das Studium sozialisiert und zu einem professionellen Habitus verdichtet, der im Sinne eines strukturierten und strukturierenden Prinzips Antworten in Bezug auf das Handeln gibt (Becker-Lenz & Müller 2009). Becker-Lenz und Müller plädieren für die Fokussierung einer zentralen Aufgabe für die Soziale Arbeit, nämlich „die Orientierung an der Integrität und Autonomie der Klientin bzw. des Klienten“ (Becker-Lenz & Müller 2009, 212). Autonomie definieren sie – in Anlehnung an das CapabilityKonzept von Sen – als
„Fähigkeit einer Lebenspraxis, Entscheidungen zu treffen, […] und gemäss diesen Entscheidungen auch handeln zu können“. Unter Integrität verstehen sie einen „Zustand von Unversehrtheit und Funktionsfähigkeit […], verbunden mit der Möglichkeit, selbstgesetzte Ziele zu erreichen“ (ebd.).
Im Sinne Sens hat Soziale Arbeit nicht nur die Aufgabe, materielle Einschränkungen zu überwinden (negative Freiheit), sondern mit den Bezugsgruppen Perspektiven zu eröffnen (positive Freiheit), die von tatsächlichen Möglichkeiten (z.B. Arbeitsplatz, Kinderbetreuungseinrichtung, Freiräume etc.) begleitet werden müssen (reale Freiheit) (siehe dazu Drilling 2012). Zugänge zu solchen Möglichkeiten sind in der Gesellschaft nicht gleichmässig verteilt, vielmehr werden sie gesteuert über Berechtigungen und Chancen („entitlements“). Dies ist der Grund, warum sich nach Sen die sozialen Institutionen in einem Quartier oder Stadtteil als „social opportunities“ bezeichnen lassen (Sen 1999, 38ff.): sie eröffnen Bezugsgruppen reale Freiheiten (Scholtes 2005). Hier kommt dem Plan in seinen verschiedenen Formaten Flächennutzungsplan, kommunaler Richtplan oder – auf der Ebene der informellen Planung – Masterplan und Quartierentwicklungsplan eine zentrale Rolle als Steuerungsinstrument für den mittelfristigen Einund Ausschluss zu. Denn der Plan legt über seine Vorgaben zu Nutzungen die zukünftigen Handlungsmöglichkeiten fest und eröffnet damit Verwirklichungschancen in einer räumlichen Dimension. Soziale Arbeit im Bereich der Stadtentwicklung verpflichtet dies zur frühzeitigen Einflussnahme auf Planungsprozesse, mit dem Ziel, Berechtigungen bzw. Zugänge und damit Chancen für ihre Bezugsgruppen zu eröffnen – eine Forderung, die eine planungsbezogene Soziale Arbeit für Empowerment-Konzepte anschlussfähig macht:
„[Die Soziale Arbeit] ist Anstiftung zur politischen Selbstorganisation und zugleich parteiliches Eintreten für Klienteninteressen. Sie kombiniert die Instrumente Netz-werkarbeit und engagierte Anwaltschaft („advocacy“). Mobilisierung bedeutet, Adressatengruppen zu einer solidarischen kollektiven Selbstvertretung zu ermutigen und sich zugleich gegenüber Dritten ‚machtvoll' für die Interessen dieser Gruppen einzusetzen.“ (Herriger 2006, 226)
Bereits 1991 machten Herlyn et al. darauf aufmerksam, dass ein Stadtteil als Ressource der Lebensbewältigung, aber auch als Beschränkung von Lebenschancen interpretiert werden kann (Herlyn, Lakemann et al. 1991). Die räumliche Konzentration von Benachteiligten kann sich demnach benachteiligend für die Benachteiligten auswirken (Häussermann 2011, 1584) oder, anders ausgedrückt, „arme Nachbarschaften machen ihre Bewohner ärmer“ (Friedrichs 1998). Auf welche Weise räumliche Strukturen auf die Herausbildung sozialer Beziehungen Einfluss ausüben, erforschen Studien zu „Quartiers-, Gebietsund Individualeffekten“ (Dangschat 1995; Friedrichs & Blasius 2000; Farwick 2001; Häussermann & Kapphan 2002). Demnach kann die räumliche Situation
§ die Handlungsmöglichkeiten der Bewohner objektiv einschränken (z.B. durch physisch-materielle Eigenschaften wie Qualität der Wohnungen, Erreichbarkeit des Quartiers, Ausstattung mit sozialer Infrastruktur);
§ die Verhaltensweisen der Bewohner beeinflussen (das Quartier als Ort des sozialen Lernens), indem soziale Sinngehalte auf die gesellschaftliche Wirklichkeit derart einwirken, dass eine lokale „Kultur“ entsteht (siehe z.B.
„culture of poverty“, Lewis 1966); die Bewohner können dann z.B. Chancen auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr ergreifen, auch wenn diese objektiv vorhanden sind;
§ für die Wahrnehmung eines Wohngebiets massgeblich sein. Eine symbolische Repräsentation, beispielsweise über ein negatives Image, entfaltet sowohl nach innen (gegenüber seinen Bewohnern) als auch nach aussen (als Stigmatisierung der Bewohner) Effekte, die die Handlungsmöglichkeiten der Bewohner einschränken („Sag mir, wo Du wohnst, und ich sag Dir, wer Du bist“, vgl. z.B. Dangschat 1997).
Otto und Ziegler schlagen vor, sozialen und räumlichen Ausschluss nicht ausschliesslich als Analysekategorie für soziale Probleme zu verwenden, sondern sie in das Format einer für Fragen der Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Entwürdigung sensibilisierenden Sozialen Arbeit einzubetten:
„Wenn Akteure, die dafür ‚vorgesehen' sind, Teil einer Gesellschaft zu sein, von dieser Gesellschaft ausgeschlossen sind oder werden, ist dies nicht nur ein problematischer Prozess, der Kritik an der Ordnung und Funktionsweise dieser Gesell-schaft impliziert, sondern vor allem auch ein Problem für die Ordnung und für die Funktionsweise einer Gesellschaft selbst.“ (Otto & Ziegler 2004a, 118).
Die Autoren lenken die Aufmerksamkeit auf die Erzeugungsbedingungen des
„Sozialen“, das sie als „spezifische, historische Figuration einer modernen, nachmetaphysischen, regulatorisch bzw. politisch ‚geschaffenen' Ordnung menschlichen Zusammenlebens“ interpretieren (ebd., 123). Sie zeichnen nach, dass dabei eine aktivierende Form der Sozialintegration an Gewicht gewinnt und Konzepte wie Soziales Kapital zu zentralen Interventionsressourcen und damit zu Machtund Steuerungsmitteln aufsteigen.
Der Sozialraum und die sozialräumliche Orientierung nehmen in dieser
„neuen Gouvernementalität“ (ebd., 128) besondere Bedeutung ein, denn der
„gesellschaftliche Grossraum des Sozialen [wird] durch die nahräumliche
‚Community' als zentraler Referenzund Verortungsrahmen gesellschaftlicher Prozesse abgelöst“ (ebd., 131). Bürger werden durch ihre Bindung an partikulare Gemeinschaften kontrollierbar, die Community selbst regierbar. Auf der Basis dieses Regierungsstils eines „government through community“ (Rose 1996, 336) lassen sich dann problematische Wohngebiete oder Stadtteile identifizieren und
„passgenaue“ Interventionsmassnahmen mit dem Ziel einer „möglichst hohen Effektivität sozialpolitischer und sozialpädagogischer Massnahmen durch eine nahund kleinräumige Ausrichtung“ (Otto & Ziegler 2004a, 134) formulieren. Letztlich handele es sich dann aber um nichts anderes als eine „neo-soziale
‚Territorialisierung' von Sozialpolitik und Sozialer Arbeit“ (Otto & Ziegler 2004b, 278).
Als Ausweg schlagen die Autoren vor, die räumliche Rückgebundenheit sozialer Probleme nicht in ihrer territorialen Begrenzung zu interpretieren, sondern Raum als „Arena sozialer Kämpfe“ oder als „räumliche Projektion gesellschaftlicher Differenz“ (Bourdieu et al. 1997, 160) aufzufassen. Adressaten der Sozialen Arbeit werden dann als Mitglieder einer lokalen Gemeinschaft und einer politisch verfassten Gesellschaft begriffen, als Bewohner eines Stadtteils und als Träger universeller Rechte (Otto & Ziegler 2004b, 279). Damit werden „scheinbar private, individuelle Probleme als Produkte gesamtgesellschaftlicher Strukturbedingungen und als Gelegenheiten zu politischer Aktion erfahrbar“ (Schrödter 2007, 22).
Die Rolle der Sozialen Arbeit besteht dann darin, die Entkoppelung von Teilen der Stadt nicht auf die Vignette „Ausschluss“ einzuschränken, und damit das Risiko einzugehen, die Integrationsrationalitäten einer neo-sozialen Ordnung zu bedienen, sondern die Debatte auf der theoretischen Folie einer Sozialen Arbeit als Gerechtigkeitsprofession (Schrödter 2007) zu führen und sich dabei als Koproduzentin des „Sozialen“ zu reflektieren. Insofern gilt es, den Adressaten der Sozialen Arbeit Zugänge zu Gütern, Ressourcen und Symbolen zu verschaffen und sie dabei zu unterstützen, diese in reale Freiheitsräume oder Verwirklichungschancen zu transformieren (Drilling 2004).
Soziale Arbeit derart räumlich zu kontextualisieren und zu theoretisieren, setzt gerade nicht bei der „neoliberalen ‚Aktivierung' von vermeintlich ‚verschütteten' Selbsthilfepotentialen der Bewohner im Sinne eines ‚Münchhausenprojektes'“ (Winkler 2006, 78) an.
„Vielmehr gestaltet Soziale Arbeit benachteiligte Sozialräume in der Hoffnung, soziale ‚Brücken' zu neuen sozialen Netzwerken zu bauen, die die Verwirklichungschancen der Bewohner erweitern. […] Vielleicht kann man sagen, dass Soziale Arbeit sich hier um die gerechte Verteilung sozialer Beziehungen bemüht.“ (Schrödter 2007, 22)