Partizipation und Sozialraumanalyse bei der Gestaltung des öffentlichen Raums
Erfahrungen aus der Wiener Stadtteilentwicklung
Katharina Kirsch-Soriano da Silva und Christoph Stoik
Ausgangslage
Die Stadt Wien ist einerseits geprägt von einer traditionell starken zentralen Verwaltung, andererseits sollen partizipative Ansätze zukünftig gestärkt werden. Dies drückt sich in der Anwendung des Instruments der Sozialraumanalyse als vorgelagertes Planungsinstrument aus, aber auch darin, dass „BürgerInnenbeteiligung“ bei der Gestaltung des öffentlichen Raums verstärkt zum Einsatz kommt. Dieser Beitrag stellt beide methodische Instrumentarien – Partizipation und Sozialraumanalyse – einander anhand von konkreten Beispielen gegenüber, beschäftigt sich mit ihren Unterschieden und Schnittstellen und fragt nach ihrem möglichen Beitrag zu einer sozial nachhaltigen Planung und Gestaltung des öffentlichen Raums.
Soziale Nachhaltigkeit kann als ein gesellschaftlicher Entwicklungsweg verstanden werden, bei dem Teilhabe für alle Mitglieder einer Gemeinschaft ermöglicht wird. Sie ist neben ökologischen und ökonomischen Aspekten eines ressourcenschonenden und effizienten Umgangs mit der vorhandenen Umgebung die dritte Säule im Konzept der nachhaltigen Entwicklung. Der Begriff der Gemeinschaft bezieht sich dabei auf die unterschiedlichen Generationen, insbesondere auch auf die Berücksichtigung der Interessen zukünftiger Generationen. Soziale Nachhaltigkeit zielt auch auf die Einbindung, Integration und Beteiligung unterschiedlicher sozialer Gruppen und Kulturen. Die Auseinandersetzung mit sozialer Nachhaltigkeit und sozial nachhaltigem Bauen ist also nicht nur mit der ökologisch geprägten Debatte um Umweltschutz und Ressourcenschonung verbunden, sondern schließt heute Ansätze zur Verteilungsgerechtigkeit, zur Sicherung von Grundbedürfnissen und zur Ermöglichung eines gerechteren Zugangs zu Chancen und Ressourcen innerhalb einer Gesellschaft ein (Drilling/ Schnur 2012).
In Bezug auf städtische Planungsprozesse wird dabei ein umfangreicher Fragenkomplex aufgeworfen: Wie kann die jeweils betroffene Gemeinschaft definiert werden? Wer ist ihr zugehörig und kann in Entscheidungsprozesse eingebunden werden? Welche Bedeutung besitzen der öffentliche Raum und der Zugang zum öffentlichen Raum für verschiedene NutzerInnengruppen in der Stadt? Inwieweit wird er durch seine Gestaltung und Nutzung zu einem Ort der gesellschaftlichen Inklusion oder Exklusion?
Um die konkreten Instrumentarien der Partizipation und Sozialraumanalyse im Wiener Kontext verständlich zu machen, wird zunächst ein kurzer Blick auf damit in Verbindung stehende planerische Strategien und Leitbilder sowie Handlungsebenen und AkteurInnen geworfen.
1.1 Soziale Nachhaltigkeit in städtischen Planungsprozessen: Wiener Leitbild für den öffentlichen Raum
In den vergangenen Jahren wurde in Wien „soziale Nachhaltigkeit“ sowohl im geförderten Wohnbau[1] als auch in der Planung des öffentlichen Raums explizit in den Vordergrund gerückt.
Für den öffentlichen Raum wurde in Wien ein Leitbild entwickelt. Dieses entstand auf Initiative der Stadt und im Dialog zwischen Stadtverwaltung, Bezirkspolitik und externen Fachleuten. Das Leitbild formuliert strategische Ansätze für Vorsorge, Management und Gestaltung öffentlicher städtischer Räume. Der öffentliche Raum wird dabei als wesentlicher Bestandteil der Stadt gesehen, dem die gleiche planerische Aufmerksamkeit zu schenken ist wie dem bebauten Raum. Das Leitbild setzt sich zum Ziel, dass der öffentliche Raum für möglichst alle Menschen zugänglich sein und bleiben soll. Dadurch wird ein Verlust an Öffentlichkeit durch Privatisierung öffentlicher Räume sowie Kommerzialisierung und Verdrängungsmechanismen im öffentlich finanzierten Raum thematisiert und problematisiert. Raum wird dabei nicht nur als ein rein physischbauliches, sondern als ein von Menschen in gesellschaftlichen Prozessen produziertes Phänomen verstanden. Das Leitbild folgt der Erkenntnis, dass Raum keinen neutralen Container darstellt, der mit Funktionen und Nutzungen befüllt wird, sondern selbst erst durch soziale Produktionsprozesse, u.a. im Kontext von Nutzungen und Wahrnehmungen, hergestellt wird (vgl. z.B. Lefébvre 1991; Löw 2001). Funktionen, Nutzungen und Wahrnehmungen eines Raums sind nicht starr, sondern unterliegen Aneignungsprozessen, die durch Gestaltung und Planung mehr oder weniger gefördert werden können. Die Produktion von Raum ist einerseits abhängig davon, wie Raum physisch gestaltet wird und welche AkteurInnen von dieser Gestaltung angesprochen werden, andererseits davon, welche AkteurInnen sich Raum tatsächlich aneignen, über welche Aneignungsmöglichkeiten unterschiedliche AkteurInnen überhaupt verfügen und welche Verdrängungen durch Aneignungsverhalten wirksam werden.[2] Aus diesem „relationalen Verständnis“ von sozial produziertem Raum ergibt sich, dass die Raumgestaltung nie unabhängig von Bedürfnissen, Interessen, Aneignungsmöglichkeiten und -einschränkungen erfolgt (vgl. u.a. Bourdieu 1997; Löw 2001; Riege/ Schubert 2002; Kessl/Reutlinger 2007).
Die Gestaltung des öffentlichen Raums ist also komplexen Anforderungen unterworfen, da sich in ihm unterschiedliche Nutzungsansprüche der städtischen Gesellschaft überlagern. Zielsetzung der Stadtgestaltung ist es daher, „eine Balance zwischen diesen Interessen zu finden und eine nachhaltige Entwicklung zu gewährleisten“. [3] Neben ästhetischen Aspekten wird der Benutzungsqualität und der Identifikation eine besondere Bedeutung zugemessen. Zum einen sollen sich unterschiedliche Bedürfnisse der Menschen auch in der räumlichen Gestaltung und Ausstattung wiederfinden, zum anderen werden Alterungsfähigkeit und Flexibilität als wesentliche Qualitätsmerkmale öffentlicher Räume angesehen. Zur Erhebung der vielfältigen bestehenden Bedürfnisse und Interessenslagen werden Sozialraumanalysen, Evaluierungen und Beteiligungen als konkrete Instrumentarien genannt (vgl. Werkstattbericht Nr. 128 der Stadtentwicklung Wien 2012), die in Zukunft verstärkt Anwendung finden sollen, ohne jedoch endgültige Standards für diese festzulegen.
1.2 Der Stadtteil als sozialräumliche Handlungsebene: Das Modell der „sanften Stadterneuerung“
Weltweit wird die Lokale Agenda 21 als kommunales Handlungsprogramm zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung angesehen. Dabei erfolgt bewusst eine Konzentration auf die lokale sozialräumliche Ebene von Städten oder Stadtteilen, unter Anwendung dialogisch-partizipativer Verfahren zur Einbindung zivilgesellschaftlicher AkteurInnen und der lokalen Bevölkerung. In Wien ist die Lokale Agenda 21 seit einigen Jahren in ausgewählten Bezirken der Stadt verankert, wobei derzeit sieben Agendabüros aktiv sind.[4]
Eine bereits länger zurückreichende Tradition besitzt in Wien die Gebietsbetreuung Stadterneuerung. Als Alternative zur damals in vielen europäischen Städten praktizierten „klassischen“ Stadterneuerung – mit Abriss und Neubau – wurde in Wien in den 1970er-Jahren das Modell der „sanften Stadterneuerung“ ins Leben gerufen, bei der die Sanierung von historischer Bausubstanz aus der Gründerzeit unter Erhaltung der BewohnerInnen angestrebt wurde. Die Institution der Gebietsbetreuung war dabei vor Ort tätig und versuchte, die Bedürfnisse der BewohnerInnen auszuloten und, von diesen ausgehend, geeignete Lösungen für bauliche Erneuerungsprozesse umzusetzen. Lange bevor sozial nachhaltiges Bauen ein Schlagwort wurde, standen hier soziale Aspekte im Vordergrund von Planung und Stadtentwicklung. Urbanen Verdrängungsprozessen sollte dabei bewusst entgegengewirkt werden.
Im Rahmen der „sanften Stadterneuerung“ werden bis heute BewohnerInnen in bauliche Erneuerungsprozesse aktiv einbezogen. Konzentrierte sich das Tätigkeitsfeld ursprünglich vor allem auf die Sanierung von Altbauhäusern und wohnungen, so liegt mittlerweile ein weiterer inhaltlicher Schwerpunkt auf der Gestaltung von Wohnumfeld und Zusammenleben, d.h. auf Stadtteilmanagementprozessen im Bereich des öffentlichen Raums, der Kunst und Kultur sowie der lokalen Ökonomien. [5] Gerade bei Umgestaltungsprojekten im öffentlichen Raum suchen die neun in Wien tätigen Gebietsbetreuungen ganz gezielt die starke Partizipation und Einbeziehung betroffener AkteurInnen, AnrainerInnen und NutzerInnen. Auf diese Weise sollen bestehende differenzierte Interessenslagen identifiziert und einbezogen sowie Mitsprache bei der Gestaltung von Stadtteilen und Räumen ermöglicht werden.
1.3 Methodische Instrumentarien zur Berücksichtigung vielfältiger Interessenslagen: Partizipation und Sozialraumanalyse
BürgerInnenbeteiligungsprozesse vor und während der Planung sollen unterschiedlichen sozialen Gruppen Möglichkeiten zur Mitsprache und Teilhabe bieten, sodass ihre Vorstellungen, Bedürfnisse und Wünsche in die Gestaltung öffentlicher Räume einfließen können. (vgl. Lüttringhaus 2000) Sozialraumanalysen finden hingegen auch Anwendung, ohne dass Menschen direkt an den Gestaltungsprozessen beteiligt werden müssen. Durch Stadtteilbegehungen und zielgruppenspezifische Erhebungen sollen bestehende Nutzungsbedürfnisse möglichst umfassend und systematisch erfasst werden.
Bei einer Gegenüberstellung von Partizipationsprojekten und Sozialraumanalysen werden zahlreiche Fragen aufgeworfen: Inwieweit können verschiedene soziale Gruppen erreicht und einbezogen werden? Wie können unterschiedliche Interessenslagen identifiziert und ausgehandelt werden? Wie wirken bottom-up bzw. top-down funktionierende Dynamiken und Entscheidungsmechanismen zusammen? Wie formiert sich das Spannungsfeld zwischen emanzipatorischen Ansprüchen und Regierungsund Steuerungsansätzen? In welchen Zusammenhängen sollte es zum Einsatz von Sozialraumanalysen kommen, in welchen zur Durchführung von Beteiligungsprozessen? Inwiefern können diese einander auch ergänzen oder sich gegenseitig bedingen?
Diesen Fragen an der Schnittstelle zwischen Stadtentwicklung und Sozialer Arbeit wird im Folgenden anhand von ausgewählten Beispielen aus Wien nachgegangen.
- [1] Die „soziale Nachhaltigkeit“ im geförderten Wohnbau wird in diesem Beitrag nicht behandelt
- [2] Raum wird als machtdurchdrungener sozialer Raum verstanden, in dem Raumaneignung nicht nur von den soziostrukturell determinierten Handlungsmöglichkeiten von Menschen abhängig ist, sondern die Raumaneignung einer Gruppe auch dazu führen kann, dass andere Menschen und Gruppen in ihrer Raumaneignung behindert werden. So nutzen beispielsweise StudentInnen im Rahmen von kommerziell motivierten Aufwertungsprozessen einen Platz als Treffpunkt, besetzen diesen symbolisch, verdrängen dabei aber unbewusst alteingesessene ältere Bevölkerungsgruppen
- [3] https://wien.gv.at/stadtentwicklung/strategien/freiraum-stadtraum-wien.html
- [4] la21wien.at
- [5] gbstern.at