Argumentative Handlungsfähigkeit trainieren

Carl Chung und Ann-Sofie Susen

Demokratie braucht selbstbewusste Demokraten

Wer sich in dieser Zeit in der Basisgliederung einer demokratischen Partei engagiert, nimmt schon etwas auf sich. Die freiwillige Mitarbeit für Ziele, mit denen die Gestaltung des politischen Gemeinwesens und das gesellschaftliche Miteinander voran gebracht werden sollen, kostet Zeit und Kraft, für deren Einsatz auch noch Mitgliedsbeiträge zu zahlen sind. Wer das auf sich nimmt, sollte sich gelegentlich einen Moment der Besinnung nehmen, um sich daran zu erinnern, welches Leitmotiv, welche Werte, Interessen, Ideale und Ziele dieses Engagement antreiben.

Dies gilt um so mehr, wenn die DemokratInnen vor Ort, auf kommunaler und lokaler Ebene vor der Herausforderung stehen, den öffentlichen Raum und den Dialog mit den Mitbürgern nicht Feinden der freiheitlichen und den Menschenrechten verpflichteten Demokratie zu überlassen: Nämlich politischen ExtremistInnen, die komplexe Problemlagen – frei von sachbezogener Vernunft und angemessenen Differenzierungen – auf eingängige Schlagworte und stereotype Feindbilder reduzieren, um ihnen ebenso einfache wie radikale Forderungen gegenüber zu stellen. Dabei geht es zumeist nicht oder nur vordergründig um die Lösung sachlicher Probleme vor Ort, sondern vielmehr um populistische Ableitungen aus antiwestlichen, chauvinistischen, ethnozentrierten, rassistischen, antisemitischen und völkisch-nationalistischen (zumeist mit Verschwörungsmythen verbundenen) Weltsichten, die mehr oder minder ernsthaft auch auf lokale Probleme übertragen werden. Es geht eher um Provokationen, um Möglichkeiten des Vorführens des "BRD-Systems" und seiner "Systemparteien". Es geht um die Behauptung eines angeblichen "Volkswillens", der als ein einheitlicher, dem "gesunden Volksempfinden" entsprechender und als eben so "politisch unkorrekt" gedacht wird, wie ihn Rechtsextreme als "volksnahe Fundamentalopposition" formulieren wollen.

Die Form, der Inhalt und der Zweck solcher Propagandaparolen, die durchaus verfangen, machen die politische Auseinandersetzung mit ihnen auf kommunaler Ebene nicht leicht. Etwa wenn sie dem Infostand vor dem Rathaus oder dem Podium einer öffentlichen Veranstaltung aus dem Munde aufgebrachter oder verbitterter BürgerInnen – die z. B. hinter einer Investitionsruine "das Finanzkapital von der US-Ostküste", als Schuldige für Einbrüche in der Nachbarschaft oder für die eigene Arbeitslosigkeit "die Ausländer" oder als Verantwortliche für gestiegene Mieten wie für den Verfall eines Schulgebäudes "das System, die da oben" vermuten – entgegen schallen. Oder wenn solche Parolen bei Anträgen kommunaler MandatsträgerInnen der NPD in Vorschläge gehüllt werden, in denen es z. B. im Zusammenhang einer "besseren Sprachförderung" um die "Trennung von Kindern nach ethnischer Herkunft und Muttersprache in der Kita" oder um die Umformulierung eines Projektes zur Rechtsextremismusprävention in eines zur Prävention von "Extremismus und Jugendgewalt – einschließlich deutschfeindlicher Gewalt" geht.

Es ist schwierig, sich mit rechtsextremen Parolen und Argumentationsmustern auseinander zu setzen, weil es dabei eben nicht nur um klar eingegrenzte – gar kommunalpolitische – Sachfragen, sondern auch um die "große Politik" vor dem Hintergrund ideologischer Wahrnehmungsund Deutungsmuster geht, die auf verbreiteten und emotional aufgeladenen Klischees und Stereotypen aufbauen. Sie fügen unspezifisch empfundene, vor allem auf Mutmaßung, Verdächtigung, Dünkel und grober Verallgemeinerung beruhende Ängste, Ressentiments und Abneigungen zu einem Gesamteindruck gefühlter Wirklichkeit zusammen, der – als empfundener Eindruck von gesellschaftlichen Realitäten – bis in die "Mitte der Gesellschaft" auf Resonanz stößt. So ist es im Rahmen solcher Argumentationsmuster leicht möglich, von einem Thema zum nächsten auszuweichen, wenn sich ein Mosaikstein rechtsextremer Weltbilder nach dem anderen durch sachliche Prüfung als unstimmig erweist – ohne dass deswegen das ideologisch konstruierte Gesamtbild sogleich als solches und als erwiesenermaßen falsch wahrgenommen würde. Das heißt: Man mag klären, dass grenzüberschreitende organisierte Kriminalität nur sehr begrenzt mit Arbeitsmigration zu tun hat und ein anderes Phänomen ist als strafrechtliche Auffälligkeit von bildungsfernen Jugendlichen, die keine Frage der Ethnizität, Religion oder Nationalität, sondern der sozialen Lage ist. Doch dann geht es plötzlich darum, dass "die Ausländer Sozialmissbrauch" begehen und "uns die Arbeitsplätze wegnehmen". So wäre nun zu klären, wer mit "den Ausländern" eigentlich gemeint ist: angeworbene ArbeitsmigrantInnen der ersten Generation, die über 40 Jahre in Deutschland gearbeitet und Steuern und Sozialabgaben bezahlt haben oder/und deren in Deutschland aufgewachsene Nachfahren, von denen nicht wenige in Deutschland geborene Deutsche im Sinne des Grundgesetzes (vgl. Art. 116) sind oder/und Flüchtlinge, deren legaler Zugang zum Arbeitsmarkt sehr beschränkt ist, ArbeitnehmerInnen oder Gewerbetreibende und UnternehmerInnen, angeworbene Fachkräfte und WissenschaftlerInnen oder ausländische Studierende oder ManagerInnen ausländischer Investoren? Aber statt einer sachlichen Auseinandersetzung über den Zusammenhang zwischen Migration, Investitionen, Arbeitsmarkt und sozialen Sicherungssystemen folgt der nächste Themenwechsel etwa zur "Notwendigkeit" einer "Trennung der Ethnien" im Bildungswesen, um das Leistungsniveau "der deutschen Kinder" nicht zu beeinträchtigen … Solche Diskussionen können ebenso frustrierend wie fruchtlos sein, wenn es dabei gar nicht um die Klärung sachlicher Problemlagen, Zusammenhänge und Möglichkeiten für sachbezogene Lösungen geht, sondern darum, sich den Eindruck davon bestätigen zu lassen, welche "fremde" oder "andere" Gruppe an der empfundenen Misere der "Wir"-Gruppe schuld ist. Zumal wenn es in der Diskussion nicht gelingt, das zu Grunde liegende Grundmuster der Unterscheidung zwischen "uns" und "denen" in Frage zu stellen.

Vor diesem Hintergrund sind Demokratinnen und Demokraten gut beraten, sich zunächst ihrer eigenen Grundwerte, Ideale, Interessen und Ziele zu vergewissern und ihre eigenen Wahrnehmungsund Deutungsmuster zu reflektieren, um authentisch zu rechtsextremen Parolen und Argumentationsmustern Stellung nehmen zu können. Politische ExtremistInnen geben Antworten auf grundlegende Fragen der Zugehörigkeit (Identität, anerkannte Position in der Gemeinschaft, Heimat), der Anerkennung im und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben (Position, Status und Repräsentation im Verhältnis zu Anderen), der Sicherheit von sozialem Status und Teilhabemöglichkeiten bzw. der "Schuld" für Unsicherheit und (empfundene) Bedrohungen von Teilhabechancen, Status, Heimat, Identität und existenzieller Sicherheit, der politischen Orientierung in Zeiten eines rapiden gesellschaftlichen Wandels und in komplexen, schwer überschaubaren Problemzusammenhängen.

Die Antworten politischer ExtremistInnen auf solche Fragen gründen sich auf rückwärtsgewandte Konstruktionen von Identität, undifferenzierte Schwarz-WeißMuster, irrationale Verquickungen verschiedener Phänomene, polemische Simplifizierungen komplexer Sachverhalte sowie verbreitete Vorurteile und Stereotype. Sie polarisieren, emotionalisieren und bieten Feindbilder an, die destruktiven Befindlichkeiten eine Projektionsfläche und Zielrichtung geben und dadurch vom Gefühl eigener Isolation, Abwertung, Orientierungsund Hilflosigkeit entlasten. Sie appellieren an die niedrigsten Instinkte der Menschen, schüren Hass und Gewalt – aber sie greifen vorhandene Ängste und Befindlichkeiten auf und gehen auf vorhandene Bedürfnisse ein.

Beim Rechtsextremismus geht es im Kern um Ideologien, die eine Ungleichheit und Ungleichwertigkeit von Menschengruppen behaupten und sich (mehr oder minder deutlich) mit autoritären und antipluralistischen Haltungen verbinden. Gemeinsam ist den verschiedenen Varianten, dass sie Menschen nach einzelnen – oft willkürlich konstruierten – Kollektivmerkmalen Gruppen zuordnen und diese Gruppenzugehörigkeit zur bestimmenden Identität erklären. Mit dieser Aufteilung geht wenigstens implizit eine Bewertung einher, die Muster zur Ungleichbehandlung und Ausgrenzung vorzeichnet.

Es geht also wesentlich um die Ablehnung des Gleichheitsgrundsatzes (Art. 3 GG) und der darauf gegründeten Menschenrechte (Art. 1 GG). Dabei ist die Forderung nach "Trennung der Ethnien", das heißt: Segregation nach Maßgabe einer "Identität kraft Abstammung und Schicksal" – womit etwa die NPD in ihrem Berliner Wahlprogramm 2006 das Ziel der Wiedereinführung der Kategorie "Rasse" als staatlich sanktioniertes Diskriminierungsmerkmal umschreibt – ein wesentliches Leitmotiv des völkisch-nationalistischen Rechtsextremismus. [1] "Ethnie"[2] ist in diesem Kontext aber nicht nur eine Chiffre für "Rasse"[3]. Der Begriff steht zugleich einerseits für das Zusammendenken von (biologischer) Abstammung, kultureller, religiöser sowie nationaler Herkunft und Identität als eines unauflöslichen Zusammenhangs und andererseits für ein ethnisiertes, statisches Kulturverständnis, nach dem eine Kultur als im Wesentlichen unveränderlich, in sich homogen und klar gegen andere Kulturen abgrenzbar erscheint. Dieses ideologische Konstrukt kann auf seine Herkunft aus der Vorstellung eines "Volkskörpers" zurückgeführt werden, der (sozial) hierarchisch gegliedert, aber "rassisch", kulturell und weltanschaulich als homogene, abgeschlossene Einheit gedacht wird – deren "Gesundheit" von ihrer "Einheit und Reinheit" (Stichwort "Rassenhygiene" und "ethnische Säuberung") abhänge. Zwar hält keine Annahme und Vorstellung, auf die sich dieses Konstrukt völkisch-rassistischer Ideologie gründet, einer genaueren sachlichen Prüfung stand. Dennoch sind die entsprechenden Wahrnehmungsund Deutungsmuster seit rund 350 Jahren (bzw. in Deutschland: spätestens seit dem Scheitern der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848) kulturell tradiert und prägen bis heute die vorherrschenden Selbstund Fremdbilder des deutschen Volkes bzw. der deutschen Nation bis weit in die "Mitte der Gesellschaft" – auch wenn dies im eklatanten Widerspruch zum Grundgesetz, zum (2000 geänderten) Staatsangehörigkeitsrecht und einem demokratischrepublikanischen Selbstverständnis steht.

Gerade wenn Letzteres als Grundlage für die Integration und den Zusammenhalt der pluralistischen Einwanderungsgesellschaft, die heute in Deutschland (wieder) eine gesellschaftliche Realität ist, als hilfreich und notwendig erkannt wird, müssen DemokratInnen aber nicht zuletzt auch sich selbst darauf hin reflektieren, wie sie in ihrer alltäglichen Wahrnehmung von "deutsch/inländisch" und "nichtdeutsch/ ausländisch", von "einheimisch" und "fremd", die rund 8 000 000 Deutschen "mit Migrationshintergrund" [4] und die rund 1 700 000 in Deutschland geborenen "BestandsausländerInnen der dritten Generation (ohne eigene Migrationserfahrung)" zuordnen und kategorisieren.

Gerade DemokratInnen, die nicht anhand äußerer Merkmale einer "fremden" ("volksfremden"/"artfremden") Minderheit zugeordnet werden, müssen selbstbewusst und authentisch die Trennlinien zwischen dem "Wir" und "Die" in Frage stellen können, die der völkische Rassismus zwischen ihnen und ihren (nichtweißen) deutschen MitbürgerInnen "mit Migrationshintergrund" zieht. Sie müssen die "Fremdheit" bei der Wahrnehmung von Menschen, die in Deutschland aufgewachsen sind und hier ihren Lebensmittelpunkt haben, als ideologische Konstruktion erkennen und benennen können. Sie müssen in Formulierungen wie "Deutsche und Juden" die verbale Ausbürgerung von Jüdinnen und Juden ob ihrer ethnisch-religiösen Herkunft oder Identität schmerzlich empfinden können – auch wenn es vielen Jüdinnen und Juden in Deutschland noch immer sehr schwer fällt, sich selbst als deutsche Jüdinnen und Juden oder jüdische Deutsche zu empfinden, wie es viele Jüdinnen und Juden in Deutschland vor der Shoah taten.

Demokraten, die sich in politischen Parteien engagieren, sollten sich auch darauf hin reflektieren, ob sie selbst Anteile von Weltsichten verinnerlicht haben, in denen die Globalisierung als eine von "angloamerikanischen Plutokraten" und/oder "dem Weltfinanzjudentum" an der (US-)"Ostküste" gesteuerte Verschwörung erscheint und ob sie selbst den Impuls beherrschen können, Menschen nach Gruppenzugehörigkeit mit entmenschlichenden Bezeichnungen zu belegen (Stichwort: "Heuschrecken").

Auf solche Selbstreflexionen kann dann ein demokratisches Selbstbewusstsein gründen, das auf Fragen nach Zugehörigkeit, Sicherheit, Anerkennung und Teilhabechancen im gesellschaftlichen Leben sowie nach politischer Orientierung in Zeiten des rapiden gesellschaftlichen Wandels grundsätzliche und grundsätzlich von rechtsextremen verschiedene Antwort zu geben im Stande ist – ohne jedem Themenwechsel nachlaufen und jedes Detail unterschiedlichster Fachdebatten erklären zu müssen. Wesentlich dafür ist einerseits die Bereitschaft, eigene Wahrnehmungsund Deutungsmuster zu erkennen und so zu verändern, dass nicht sie (unbewusst) mit einem, sondern man selbst bewusst mit ihnen umgehen kann. Andererseits bedarf es der Erinnerung und Selbstversicherung der ethisch-politischen Grundwerte, Ideale und Ziele, die engagierte DemokratInnen zu ihrem Engagement ursprünglich motivierten: Etwa der Vergegenwärtigung des Wunsches, der Menschenwürde und den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt Geltung zu verschaffen.

Der Erwerb und Ausbau dieser und weiterer Handlungskompetenzen beginnt und endet bei jedem und jeder Einzelnen. Es schadet aber nicht, dazwischen auch gemeinsam mit anderen besondere Qualifizierungsmaßnahmen in Anspruch zu nehmen.

  • [1] "Schluss mit den gescheiterten künstlichen Integrationsversuchen – die Vielfalt der Völker und Kulturen erhalten!" (Aus dem Wahlprogramm der NPD zur Abgeordnetenhauswahl 2006, 3.1. Deutsch von Ahrensfelde bis Zehlendorf – Bevölkerungspolitik)
  • [2] Ethnie (d. h.: Volk oder Volksgruppe, die sich aufgrund einer gemeinsamen, von anderen mehr oder minder verschiedenen Kultur [Sprache] und/oder eines gemeinsamen Kultus bzw. Religion, Geschichte und/oder Herkunftsmythen und/oder gesellschaftliche Lebensverhältnisse als soziale Lebensgemeinschaft versteht) wird eigentlich vor allem durch kulturelle (d. h.: durch Sozialisation erworbene) Merkmale definiert – und ethnische Identitäten sind nicht zuletzt eine Frage der Selbstwahrnehmung und Selbstdefinition von Individuen.
  • [3] Zum Begriff "Rasse" wird in der Antirassismusrichtlinie der EU (Richtlinie 2000/43/EG, also verbindlichem europäischem Recht) angemerkt: "Die Europäische Union weist Theorien, mit denen versucht wird, die Existenz verschiedener menschlicher Rassen zu belegen, zurück. Die Verwendung des Begriff "Rasse" in dieser Richtlinie impliziert nicht die Akzeptanz solcher Th rien." Verwendet wird der Begriff dennoch.
  • [4] Mit dem amtlichen Begriff "Migrationshintergrund" werden Deutsche mit mindestens einem eingewanderten Elternteil (beziehungsweise einem Elternteil nichtdeutscher Herkunft), SpätaussiedlerInnen und (eingebürgerte) Deutsche nichtdeutscher Herkunft mit und ohne eigene Migrationserfahrung sowie Nichtdeutsche (in Deutschland geborene oder sozialisierte BildungsinländerInnen, vor 1973 angeworbene "GastarbeiterInnen" und andere "Bestandsausländer" ebenso wie Neuzuwanderer) mit und ohne eigene Migrationserfahrung in einer statistischen Kategorie zusammengefasst, die natürlich weder eine homogene noch überhaupt eine gesellschaftliche, kulturelle oder soziokulturelle Gruppe bezeichnet.
 
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