Ausblick
Die Demokratie braucht argumentativ handlungsfähige DemokratInnen, die in demokratischen Parteien Verantwortung für die Gestaltung des Gemeinwesens übernehmen. Denn damit die demokratischen Parteien ihrem grundgesetzlichen Auftrag gemäß konstruktiv an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken können, brauchen sie auf allen Ebenen – nicht zuletzt bei der politischen Freiwilligenarbeit im lokalen Gemeinwesen – Mitglieder und FunktionärInnen, die für die Demokratie einzustehen im Stande sind. Auch wenn es darum geht, den Feindinnen und Feinden der Demokratie jeden Ansatz zur Dominanz im öffentlichen Raum zu bestreiten, durch eigene Präsenz die öffentlichen Räume für RechtsextremistInnen eng zu machen und Themen, die schnell zum Terrain von HassideologInnen und populistischen DemagogInnen zu geraten drohen, offensiv mit eigenen, positiven Zielen zu besetzen.
Die Demokratie braucht authentische, bekennende Demokratinnen und Demokraten, die das Gespräch mit ihren MitbürgerInnen suchen – gerade dann, wenn es um strittige und "heikle" Themen (Moschee-Bauvorhaben, ethnisiert wahrgenommene Jugendgruppengewalt im Wohnviertel etc.) geht. Sie braucht demokratische Parteien, die sich sichtbar der Diskussion stellen und nicht nur darauf warten, dass die BürgerInnen zu ihnen kommen, sondern selbst Gelegenheiten schaffen, ins Nachbarschaftszentrum, zur Stadtteilinitiative, zur Kirchengemeinde, in den Jugendclub etc. zu gehen. Die Demokratie braucht demokratische Parteien, die eigene Präsenz gegen rechtsextreme Präsenz und Agitation an bzw. vor Schulen stellen, sich aktiv z. B. in die Kampagnen zur U-18-"Wahl" einbringen, für die Befragung durch Jugendliche zur Verfügung stehen und in der Diskussion mit Jugendlichen wie mit erwachsenen Bürgerinnen und Bürgern authentisch und wertschätzend aufzutreten im Stande sind.
Die argumentative Handlungsfähigkeit, die DemokratInnen dafür benötigen, gründet sich insbesondere auf die Bereitschaft und Fähigkeit, Hinweise auf rechtsextreme Einstellungen und Orientierungen sowie rechtsextreme Deutungsund Argumentationsmuster zu erkennen, bewusst wahrzunehmen sowie sachlich begründet als solche zu identifizieren und zuzuordnen, die alltagskulturelle "Normalität" der eigenen Umgebung auf Ausgrenzungsmuster, Diskriminierung, Gefährdungen, Bedrohungen, Hasskriminalität gegen AusländerInnen [1] und Deutsche mit Migrationshintergrund[2], Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten [3], Homosexuelle, Behinderte, NonkonformistInnen, Angehörige alternativer Subkulturen und Nichtsesshafte zu überprüfen und zu hinterfragen, die eigenen Wahrnehmungsund Deutungsmuster, die eigene Sprache und das eigene Verhalten hinsichtlich stereotyper (Sprach-)Bilder, Kategorisierungen und Konstruktionen sozialer Ungleichheit zu reflektieren und Perspektivwechsel zu üben, mit einem authentischen, grundsätzlichen und reflektierten Standpunkt für das "Wir" einer offenen, auf das Bekenntnis zum Grundgesetz und den Menschenrechten gegründeten Staatsbürgernation und gegen völkisch-nationalistische, ethnozentrierte (und ethnisierende), rassistische, antisemitische, religiösund/oder sozialchauvinistische, sexistische und/oder homophobe Positionen, Identitätskonstruktionen, Deutungsund Ausgrenzungsmuster sowie antiwestliche/antisemitische Verschwörungslegenden inhaltlich Stellung zu beziehen, dabei sachlich begründete Anliegen, legitime Interessen, Fragen und Ängste hinter rechtsextremen Äußerungen und Erscheinungsformen als solche wahrund ernst zu nehmen, aufzugreifen, zu versachlichen und zu differenzieren, aber auch fruchtlosen Debatten, die nur auf plakative Provokationen hinauslaufen und vor allem der Instrumentalisierung öffentlicher Diskussionen durch Kader verfassungsfeindlicher Organisationen und Parteien ebenso deutliche wie sachlich nachvollziehbar begründete Grenzen zu setzen (vom Abbruch der Diskussion bis hin etwa zur restriktiven Nutzung des Hausrechts, zur Strafanzeige gegen VolksverhetzerInnen und/oder zur Einbeziehung der Polizei in die Entwicklung von Sicherheitskonzepten für öffentliche Veranstaltungen). Dieser Punkt ist keine reine Formalie, sondern ein Hinweis auf die Notwendigkeit, eigene Schmerzgrenzen ebenso wie inhaltliche Abwägungen und Grenzziehungen im Vorfeld von Veranstaltungen und Aktionen zu reflektieren, um im Konfliktfall sicher, authentisch und glaubwürdig auftreten zu können.
Die notwendige Handlungsfähigkeit schließt (wie oben, beim Workshop-Konzept an Beispielen beschrieben) jene im Umgang mit ambivalenten, nicht eindeutigen und widersprüchlichen Situationen, Sachund Problemlagen ein, für die es "die richtige/ gute Lösung" nicht gibt und vor denen keine Planung völlig schützen kann. Gerade dafür ist es wichtig, sich selbst zu kennen, sich seiner Selbst, seiner grundsätzlichen Werte, Interessen, Ideale und Ziele [4] gewiss sowie seiner eigenen Grenzen und Fehlbarkeit bewusst zu sein. Darauf aufbauend sind weniger feste "Handlungsanleitungen" als vielmehr fortwährende Reflexion, Selbstreflexion und Übung [5] brauchbare Mittel zum Erwerb von Handlungssicherheit in der Auseinandersetzung mit verfassungsfeindlichen Ideologien, die eine Ungleichheit und Ungleichwertigkeit von Menschengruppen behaupten.
Nach der Erfahrung des MBTs "Ostkreuz" gibt es diesbezüglich bei den Mitgliedern und Funktionären demokratischer Parteien durchaus Bedarf sowohl für eine solche Arbeit an der argumentativen Handlungsfähigkeit als auch für die Unterstützung dieser Arbeit durch professionelle FachberaterInnen und TrainerInnen. Vor allem gibt es aber in den demokratischen Parteien nach wie vor viele freiwillig engagierte BürgerInnen, die aus tief empfundener Überzeugung bereit sind, sich für die Gestaltung, Entwicklung und Verteidigung der freiheitlichen, den Menschenrechten verpflichteten Demokratie einzusetzen – auch wenn sie sich manchmal (am Infostand, bei Veranstaltungen und im privaten Umfeld, wenn sie für die "große Politik" ihrer Partei in Verantwortung genommen werden) frustriert, überfordert, hilflos und allein gelassen fühlen.
Allzu oft scheinen sich weder diese Mitglieder noch die Parteien insgesamt über den Wert dieser Ressource der Demokratie bewusst zu sein. Nämlich insbesondere des Potenzials, das in der Möglichkeit liegt, dass diese freiwillig engagierten Parteimitglieder so sichtbar, authentisch und glaubwürdig zu ihrer demokratischen Grundüberzeugung stehen, dass weniger engagierte DemokratInnen Lust bekommen, mit – und damit den Raum für extremistische VerfassungsfeindInnen und HassideologInnen eng – zu machen. Aber auch des Potenzials eines gelebten demokratischrepublikanischen Verfassungspatriotismus, der Menschen "mit Migrationshintergrund" und Menschen, die von Diskriminierung und Ausgrenzung etwa aufgrund ihrer Abstammung oder Herkunft, ihrer kulturellen, ethnischen oder religiösen Identität oder ihrer sexuellen Orientierung betroffen sind, die Erfahrung vermittelt, dass sie als aktive und gleichberechtigte Glieder der Bürgergesellschaft gewollt sind, dass sie dazu gehören und eingeladen sind, verantwortlich an der Gestaltung, Entwicklung und Verteidigung des freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens mit zu wirken. An der Erschließung dieser Potenziale ist in den Parteien sicher auch mit Mitteln der Organisationsentwicklung (top-down) weiter zu arbeiten [6]; aber sie beginnt und endet, steht und fällt mit der Bereitschaft und Fähigkeit der freiwillig engagierten Mitglieder an der Basis, selbstbewusst, authentisch und öffentlich für ihre Grundüberzeugungen Stellung zu nehmen.
Ja, wer sich in dieser Zeit in der Basisgliederung einer demokratischen Partei engagiert, nimmt schon etwas auf sich. Die zunehmende Komplexität politischer Probleme, die vielen ambivalenten, nicht eindeutigen und widersprüchlichen Zusammenhänge gesellschaftlicher Entwicklung, schrumpfende Mitgliederzahlen und sinkende Wahlbeteiligung und vieles mehr, das auf die Größe der Herausforderungen hinweist, vor denen die demokratischen Parteien stehen, können Anlass zu Kleinmut und Verzagen geben. So mag den demokratischen Parteien und ihren Mitgliedern von vielen Seiten entgegen schallen: "Das schafft ihr nicht! Das könnt ihr nicht!" So oft und so laut, dass man sich dem Zweifel an der eigenen Kompetenz und Kraft kaum entziehen kann. Aber gerade dann kann es helfen, sich daran zu erinnern, welches Leitmotiv, welche Werte, Interessen, Ideale und Ziele das eigene politische Engagement antreiben – und den Skeptikern wie den Feinden der Demokratie entgegen zu rufen: "Doch, wir können das! Yes, we can! Trotz alledem!" Und das ist der erste Schritt zur Bewältigung der Herausforderungen.
Literatur
Benz, Wolfgang (1992): Legenden, Lügen, Vorurteile, München.
Förster, Jens (2007): Kleine Einführung in das Schubladendenken. Über Nutzen und Nachteil des Vorurteils, München.
Hufer, Klaus-Peter (2000): Argumentationstraining gegen Stammtischparolen.
Materialien und Anleitungen für Bildungsarbeit und Selbstlernen, Schwalbach. Hufer, Klaus-Peter (2006): Argumente am Stammtisch. Erfolgreich gegen Parolen, Palaver und Populismus, Schwalbach.
Lanig, Jonas/Stascheit, Wilfried (Hrsg.) (2005): Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg: Rechtsradikale Propaganda und wie man sie widerlegt, Mülheim an der Ruhr.
Tiedemann, Markus (2000): In Auschwitz wurde niemand vergast. 60 rechtsradikale Lügen und wie man sie widerlegt, München.
- [1] Ausländer und Ausländerinnen mit festem Wohnsitz und Lebensmittelpunkt in Deutschland (mit und ohne eigene Migrationserfahrung).
- [2] Deutsche mit mindestens einem nichtdeutschen/eingewanderten Elternteil, Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler und Deutsche nichtdeutscher Herkunft mit und ohne eigener Migrationserfahrung.
- [3] Juden, Muslime, Aleviten, gegebenenfalls auch orthodoxe u. a. Christen, Buddhisten usw. sowie Sinti und Roma – mit und ohne Migrationshintergrund.
- [4] Gerade bei der Auseinandersetzung mit menschenverachtenden und demokratiefeindlichen Orientierungen muss gelten: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde", bzw.: "Handle stets so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte" (kategorischer Imperativ nach Kant). In diesem Sinne ist nach einem einheitlichen Maßstab zu fördern und fordern: Die Integration der Gesamtgesellschaft d. h.: gleichberechtigte Einbeziehung aller Gesellschaft lieder in die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und verantwortliche Mitgestaltung des Gemeinwesens ohne sachwidrige Unterscheidungen nach Abstammung, sozialer, ethnischer oder regionaler Herkunft Religion oder kultureller Identität, Geschlecht oder sexueller Orientierung; die Auseinandersetzung mit allen Vorstellungen, Wahrnehmungsund Verhaltensmustern, die sachwidrige Unterscheidungen und Ungleichbehandlungen begründen und dem menschenrechtlichen sowie freiheitlich-demokratischen Verfassungskonsens widersprechen; keine Toleranz für Ideologen der Ungleichheit und des Hasses, verfassungsfeindliche Bestrebungen und Organisationen sowie politisch motivierte Gewalt.
- [5] Etwa im Rahmen von Diversity-, Anti-Bias-, (z. B. Betzavta-)Demokratieund Argumentationstrainings, in Fortbildungen oder/und Klausurtagungen zum Themenkomplex "Rechtsextremismus – Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit – Demokratiegefährdende Tendenzen" etc.
- [6] Nicht zuletzt etwa im Rahmen von Leitbildund Programmdebatten.